Zur Erinnerung an unsere Vorfahren, die als Migranten aus Süddeutschland in die Welt zogen

Schlagwort: Bessarabien (Seite 1 von 6)

Pastor Johannes Heinrich Lhotzky

Heinrich Lhotzky als junger Mann (ca. 1880)1

Pastor Dr. phil. Johannes Heinrich Lhotzky2 wurde am 21. April 1859 in Claußnitz bei Burgstädt (Sachsen) geboren und starb am 24. November 1930 in Ludwigshafen am Bodensee.

Sein Vater Eduard Heinrich Julius (1.7.1816 Waldenburg –27.11.1862 Claußnitz)3 war ebenfalls Pfarrer und Sohn eines Kupferschmiedes aus Böhmen, seine Mutter Hephzibah Winkles aus London, hatte mit ihm fünf Kinder.

Leipziger Zeitung : Amtsblatt des Königlichen Landgerichts und des Königlichen Amtsgerichts Leipzig sowie der Königlichen Amtshauptmannschaft Leipzig. 1856,7/9 p.4400

Seine Ausbildung genoss er 1858 in der Herrnhuter Erziehungsanstalt Niesky, wechselte 1860 an die Gymnasien in Bautzen und Dresden, eher er 1878 ein Studium der klassischen Philologie, dann der Theologie und Assyriologie an der Universität Leipzig aufnahm. In dieser Zeit verstarb sein Vater und seine Mutter heiratete erneut, ebenfalls einen Pfarrer (in Lausa), welcher acht Kinder hatte.

Im Jahre 1881 wurde er Lehrer auf einem Gut bei Dorpat, nach seiner Beschreibung ein einsames Gut von zwei Quadratmeilen Größe, die einzigen deutsch sprechenden Menschen waren die Hauseltern und ihre Kinder. Alle andern sprachen estnisch.4 Bereits 1882 nahm er sein Studium in Leipzig wieder auf, ehe er nach Berlin wechselte.

In den Jahren 1883 und 1884 folgte der Militärdienst im Leipziger Infanterieregiment Nr. 107, seine Promotion zum Dr. phil. bei Friedrich Delitzsch in Leipzig (Die Annalen Asurnazirpals, 884–860 vor Christus, nach der Ausgabe des Londoner Inschriftenwerkes umschrieben, übersetzt und erklärt) folgte 1885.

Zunächst als Lehrer und Prediger nach Bessarabien berufen (1886), wirkte er in Strembeni, Oneschti und Kischinew, ehe er 1890 Lehrer und Prediger auf der Krim wurde. Seinen Wechsel begründete er mit dem Eindruck, seine Freundschaft zu dem jüdisch-christlichen Missionar Joseph Rabinowitsch mißfiel der Gemeinde.

Joseph Rabinowitz/Rabinowitsch (Bild gemeinfrei)

Ich hätte gern länger dort gearbeitet unter unseren Aermsten und Verlassensten und wußte, daß nach mir sich niemand ihrer so annehmen würde, daß er unter ihnen wohnte und ihre Arbeit und Armut teilte. Allein eine peinliche Naturanlage verhinderte ein längeres Verweilen. Ich war zwar weit draußen in der Steppe, war aber doch der Angestellte meines Seniors. Die Natur hat mir aber leider versagt, Untergebener und Angestellter zu sein, und solche Leute können Vorgesetzte, namentlich wenn sie von ihrer Würde tief durchdrungen sind, schwer vertragen. Ich glaube, meine Freundschaft zu Rabinowitsch mißfiel auch auf die Dauer. Es gab allerhand heimliche christliche Nadelstiche in der bekannten herzlichen christlichen Liebe. So wurde mein Bleiben nach etlichen Jahren abgekürzt, und ich war froh, daß ich in der Krim ein ganz unabhängiges Amt überkam. Ich schied von meinen Kolonisten ungern, ging aber gern in ein neues, überaus freies und schönes Arbeitsfeld.

Der Planet und ich Lebenserinnerungen und Zukunftsgedanken
Heinrich Lhotzky, ‎ Selbstverlag 1925

Lhotzky heiratete am 3. Januar 1888 in Kischinew Berta Emilie Bauer (24.09.1866 St. Petersburg 5– 20.05.1950 Überlingen6), Tochter des russischen Staatsrats Albert Heinrich Bauer und seiner Ehefrau Natalie Catharina geborene Siebert.

Trauung Kirchenbuch Kischinew 1888

Seine bessarabischen Erlebnisse verarbeitete er in dem Roman Immanuel Müller, ein Roman aus der bessarabischen Steppe. Haus Lhotzky Verlag Ludwigshafen am Bodensee. 1912

Ich hatte langst die eigentliche Not des Kischinewer Kirchspiels durchschaut. Das umfaßte alle deutschen Kolonisten ganz Beßarabiens mit Ausnahme des Akkermaner Kreises. Dieses ungeheure Gebiet, zu dem im letzten Türkenkriege noch alles Land bis zum Pruth gekommen war, mußte auf Deutsche abgesucht und bereist werden. Also hatte ich den Vorschlag gemacht, selbst weit draußen mit zu siedeln und von einem größeren Pachtgute aus, das ich selbst betrieb, als Bauer und Pastor, die deutschen Siedler zu betreuen.

Der Planet und ich Lebenserinnerungen und Zukunftsgedanken
Heinrich Lhotzky, ‎ Selbstverlag 1925

Eintragungen im Kirchenbuch Kischinew 1887 zu Trauungen des Pastors Dr. H. Lhotzky in Kischinew und Strembeni

Ich hatte in der Krim ein Gebiet zu verwalten so groß wie das halbe Königreich Sachsen – möge die Heimat mir verzeihen, ich wollte natürlich sagen, wie der halbe Volksstaat Sachsen. Auf diesem Gebiete hatte ich mehr als 30 Predigtorte zu bedienen, was mit Wagen oder Dampfer geschah. Mein Konsistorium lebte 2000 Kilometer entfernt in Petersburg, und es war eine Freiheit, wie sie selten Menschen zuteil wird.

Der Planet und ich Lebenserinnerungen und Zukunftsgedanken
Heinrich Lhotzky, ‎ Selbstverlag 1925
Hochzeitstafel des Paares Kludt/Baumann im Garten des Pastor Lhotzky (x) 1899 in Prischib7

In der Krim herrschte ein prachtvolles Verhältnis zwischen den Gemeinden und ihren Pfarrern. Es gab natürlich zuweilen Zusammenstöße, wie sie in jeder Ehe vorkommen und überall zwischen Hirt und Herde, aber schließlich gewann doch immer das Ansehen des Heilswahrers den befriedigenden Ausgleich.
Ich führte mich damals ein mit den Worten des Apostels: »Gott hat uns nicht zu Herren über euer» Glauben gesetzt, sondern zu Genossen eurer Freude.«
Dieses Wort des Paulus schwebte mir seit Jahren vor als kennzeichnend für die Stellung eines geistlichen Hirten. So haben wir auch gelebt. Nur habe ich unausgesetzt versucht, ihre höchste Freude, den Weizen, auf eine etwas höhere Stufe zu heben. Auf die Höhe, von der der Apostel redet. Es gelang nicht immer, aber doch zuweilen. Wo es nicht gelungen ist, hat der Weltkrieg seine bitterböse Predigt gehalten, und der ist durchgedrungen.
Ein kleines Erlebnis darf ich wohl anführen, weil es unsere Krimmer Bauern kennzeichnet. Ich hatte kurz vor meinem Weggang einmal an einer Hochzeitstafel eine etwas freiere Bemerkung gemacht, als sie sonst im heiligen Rußland üblich war. Da stand der reichste Bauer auf und sagte: Wäre ich der Kaiser von Rußland, so würde ich bestimmen, daß Sie auf der Stelle Rußland zu verlassen hätten. Ich antwortete, das werde auch ohne das geschehen, und die Sache schien erledigt zu sein. Zehn Jahre nach diesem Worte stand der Bauer in meinem Hause am Bodensee. Er sei in Karlsbad gewesen zur Kur und habe die Gelegenheit benützen wollen, seinen alten Pfarrer wieder zu sehen. Er war also mein sehr willkommener Gast. Da sagte er: Eigentlich führt mich etwas anderes her. Sie erinnern sich vielleicht meiner Aeußerung bei unserem letzten Beisammensein. Ich mußte herkommen, Sie deshalb um Verzeihung zu bitten, daß wir ganz einig sind, ehe ich sterbe. Er wird wohl den schweren Krieg nicht überlebt haben. Gott segne ihn und alle
unsere armen Volksgenossen in der Ferne.
In Beßarabien war’s ja anders. Dort regierte der Sekteneigensinn mehr als der Weizen. Aber das schadet auch nichts. Unter allem Sektierertum schlummert und pulst ein ehrliches ernstes Wollen. Wenn das nicht immer die rechten Formen findet, muß man damit Geduld haben. Dazu ist gerade der Pfarrer in seiner priesterlichen Stellung da, die Güte des Vaters über Gerechte und Ungerechte und Sonnenschein und Regen über Böse und Gute gleichmäßig walten zu lassen. Er wird auch niemals gefragt werden nach seinen Erfolgen, sondern nur nach seiner Haltung, ob man des Vaters Geist an diesem geistlichen Vater gespürt habe.
Nein, wer ein Pfarramt ohne ganz zwingende Gründe aufgibt, den verstehe ich nicht. Ich mußte es tun ohne irgend welche äußere Nötigung. Die Leute haben sich zwar den Kopf darüber zerbrochen und mir allerlei heimliche Schande und Laster nachgesagt, besonders die lieben Amtsbrüder, es war auch damals eine Denunziation im Gange, aber sie war längst im Sande verlaufen, als ich meinen Entschluß ausführen mußte. Eines wußte ich freilich dumpf und lastend, es würde ein sehr schweres Unglück über Rußland kommen. Ich wäre dem aber nicht ausgewichen. Ich glaubte später, es sei der japanische Krieg.
Aber der berührte unsere Siedlungen ja gar nicht. Daß es dieses maßlose Entsetzen des Weltkrieges war, ist mir erst später deutlich geworden. Ja unsere Feinde haben mehr gelitten als wir und denen, die heute über ihren Lügensieg frohlocken, ist auch schon die Axt an die Wurzel gelegt. Deutschland hat ja den Krieg verloren, aber die anderen werden den Sieg verlieren, soweit es nicht schon geschehen ist

Der Planet und ich Lebenserinnerungen und Zukunftsgedanken
Heinrich Lhotzky, ‎ Selbstverlag 1925
Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, Band 4 Nr. 3 März 1899

Dem Paar waren acht Kinder beschieden, Robert *1888, Bruno Johannes (1890–1917), Friedrich Christoph (1891–1916), Martha *1892, Josef *1894, Annamarie *1900, Eva Georgine *1902 und Heinrich *1904.8

Robert Lhotzky, geb. 21.12.1888 Oneschti9

Bruno Johannes Lhotzky, geb. 2. August 1890 in Oneschti. Gefallen am 30.11.1917 bei Frasnoy, Frankreich10

Friedrich Christoph Lhotzky, geb. 24. Oktober 1891 in Zürichtal, gefallen am 19. oder 20. Juli 1916 bei Aubers, Frankreich.11

Josef Lhotzky, geb. 8. Juli 1894 in Zürichtal12

Eva Georgine Lhotzky, geb. am 21. Juni 1902 in Berlin-Grunewald13

Ab 1902 wieder in Deutschland, nahm er eine Tätigkeit als Mitarbeiter Johannes Müllers (1846–1949) für die Blätter zur Pflege des persönlichen Lebens auf Schloss Mainburg an und arbeitete 1904 bis 1911 als freier Schriftsteller in Pasing. Zudem war er Herausgeber der Zeitschrift „Leben“. In dieser Zeit siedelte er nach Ludwigshafen am Bodensee über (1910), wo er bis zu seinem Lebensende 1930 blieb.

Er schrieb neben seinen Predigten eine Reihe von Aufsätzen, Zeitungsartikeln und eine größere Anzahl Bücher, wie Die Seele deines Kindes 1908 und Das Buch der Ehe, 1911, beides im Verlag Langewiesche veröffentlicht, später im Eigenverlag Haus Lhotzky.

Stockacher Tagblatt, Jg. 1922 (62)

Haus Lhotzky auf einer alten Ansichtskarte, heute ist dort eine evangelische Jugendbildungsstätte.

Seine Witwe Berta konnte das Haus nach seinem Tod allein nicht unterhalten, so wurde es verkauft. Auch der Verlag erfuhr Veränderungen.

Stockacher Tagblatt, Jg. 1933 (73)

Sie lebte noch einige Jahre in Konstanz, Taborweg 10, ehe sie in am 20. Mai 1950 in Überlingen starb und am 24. Mai beigesetzt wurde.


  1. Heinrich Lhotzky als junger Mann (ca. 1880), FranzTW – Eigenes Werk, 3.11.2016, CC BY-SA 4.0 ↩︎
  2. Ruhbach, Gerhard, „Lhotzky, Heinrich“ in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 440-441 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd116980176.html#ndbcontent ↩︎
  3. https://pfarrerbuch.de/sachsen/person/1110885323 ↩︎
  4. Der Planet und ich, Lebenserinnerungen und Zukunftsgedanken, Lhotzky, Selbstverlag 1925 ↩︎
  5. Erik Amburger Datenbank ID 96055 ↩︎
  6. „Deutschland, ausgewählte evangelische Kirchenbücher 1500-1971,“ database, FamilySearch (https://www.familysearch.org/ark:/61903/1:1:QP6H-18F1 : 9 March 2023), Berta Emilie Lhotzky, 24 May 1950; images digitized and records extracted by Ancestry; citing Burial, Überlingen, Bezirksamt Überlingen, Kreis Konstanz, Großherzogtum Baden, Deutsches Reich, , German Lutheran Collection, various parishes, Germany. ↩︎
  7. Foto der Hochzeitstafel S. 111 in: Heimatkalender der Russlanddeutschen 1959 ↩︎
  8. „Der Degener“ Wer ist’s?, Leipzig 1911, Band 5, p. 855 ↩︎
  9. bayerisches Reserve-Fußartillerie-Regiment Nr. 1 (München-Neu-Ulm)
    15222 Kriegsrangliste Bd 1 ↩︎
  10. Bayerisches Infanterie-Regiment (Lindau/Bayern) I Ersatz-Bataillon,
    07179-Kriegsrangliste ↩︎
  11. Bayerisches Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 17 (Augsburg), 03094 Kriegsrangliste Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 17 Bd. 1 ↩︎
  12. bayerisches Reserve-Fußartillerie-Regiment Nr. 1 (München-Neu-Ulm)
    15222 Kriegsrangliste Bd 1 ↩︎
  13. Berlin Grunewald, Standesamt Geburten Erstregister 1901 Nr. 32/1902 ↩︎

Der alte Kludt

aus der Geschichte der Kolonie Töplitz in Bessarabien.1

Geordnete Verhältnisse traten für die Töplitzer Schule erst mit der Anstellung August Kludts im Jahre 1836 als Lehrer ein. Da der „alte Kludt“ sehr lange im Dienste der Töplitzer Gemeinde stand und großen Einfluß auf das Schulleben ausübte, sei hier sein Lebenslauf etwas ausführlicher behandelt. Johann August Kludt war der Sohn des IX. Malojaroslawetzer Ansiedlers Wilhelm Kludt 2 und wurde am 1. Juli 1811 bei der Durchreise seiner Eltern durch Polen in Lusche bei der Stadt Dombie geboren. Da Kludts Eltern sich meistens auf der Wanderschaft befanden, waren die Kinderjahre des August sehr arm an Freuden. In Bessarabien angekommen, fand Kludts Vater bei dem Mausirer Fürsten eine Anstellung als Gärtner. Nachdem er mehreremal seine Anstellungen gewechselt hatte, ließ er sich endlich im II. Malojaroslawetz nieder. Der junge August erhielt seine Ausbildung meistens bei seinem Vater. Im Alter von 17 Jahren ging er nach Deutschland, um sich als Missionar ausbilden zu lassen, kehrte aber nach 8 Monaten wieder zurück, um seinen Vater, der unterdessen die Küsterstelle in Töplitz übernommen hatte, zu unterstützen. Von 1835-36 vervollständigte er seine Bildung unter der Leitung des Lehrers Utz aus Großliebental, wo er das Amt des Provisors bekleidete, und legte in der evangelisch-lutherischen Synode zu Odessa seine Lehrprüfung ab. Am 1. Mai 1836 wurde August Kludt von Probst Graubaum an der Töplitzer Schule angestellt. Am 4. Juni 1836 trat er in die Ehe mit der Gnadentaler Ansiedlerin Eva Katharina, geb. Hägele (gebürtig aus Hahnweiler, Württemberg), über den Einfluß der Studienzeit auf die Charakterbildung Kludts schreibt Johs. Kämmler Folgendes: „Sein kurzer Aufenthalt in Deutschland hatte jedoch für den Jüngling eine weittragende Bedeutung und wir sehen bei seiner Rückkehr, daß der junge Mensch seine Zeit nicht vergeudet hat, sondern wohl ausgenützt, denn er kam zurück, ausgerüstet mit vielen schönen Kenntnissen für die damalige Zeit. Natürlich kam ihm bei solch schnellem Reifen sein feuriger, von Wissensdurst getriebener, nach Wahrheit suchender Jünglingsgeist zu statten, überhaupt hatte die kurze Zeit, in welcher der Jüngling Gelegenheit hatte, in Deutschland sich um die dortigen Schulen und in anderen Kreisen umzusehen, einen großen Einfluß auf die Bildung des Charakters des jungen Kludt und manche Eindrücke haben sich in seinem Geiste befruchtend fortgesetzt, die später in seinem Amtsleben manch schöne Frucht zur Reife brachten, so ist er auch auf seiner Reise in die „Herrnhuter Brüdergemeinde“ gekommen und hat deren Leben, Liebe und Glauben durch einen kleinen Aufenthalt dort

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kennen gelernt. Dasselbe machte auf den lebhaften Geist des Jünglings solch tiefen Eindruck, daß er nach kurzer Zeit als einer der Ihrigen schied und nie, bis heute noch von den Hauptprinzipien dieser Gemeinschaft abgekommen ist, sondern im Gegenteil, auch in dieser Hinsicht in der Gemeinde fruchtbringend wirkte, besonders auch an Kranken- und Sterbebetten mit seinem trostreichen aus kindlichem Glauben fließenden Zuspruch, wie solches bei vielen ja heute noch in guter Erinnerung lebt,“ August Kludt war an der Töplitzer Schule 43 Jahre lang tätig. Ältere Leute können sich seiner noch lebhaft erinnern. Johs. Kämmler würdigt das Andenken des alten Schulmeisters in folgenden schönen Worten: „In unserem Gedächtnis taucht eine schöne, hehre, Liebe erweckende Mannesgestalt auf: Es ist der „alte Kludt“, wie wir ihn heute bezeichnen. Was und wieviel mit diesen beiden Worten ausgesprochen ist, können natürlich nur wir älteren Männer in der Gemeinde wissen. Das junge Geschlecht hat ja wohl auch manches gehört von ihm, vielleicht übertrieben und entstellt, indessen auch die Eindrücke und Vorstellungen von demselben verschiedenartig sich ausgebildet haben. Aber uns Älteren, die wir sozusagen unter seiner Hand aufgewachsen sind, schwebt sein edler Charakter, der für alles Schöne und Edle so empfänglich war, noch voll und deutlich vor der Seele“. Der alte Kludt hat es sich bei seiner großen Kinderschar oft recht sauer werden lassen. Bis 1864 mußte er allein unterrichten, was bei einer Schülerzahl von 100 und darüber eine nicht zu verachtende Leistung war. Es ging in der Schule oft bunt zu. Da der Schulmeister mit dem Abfragen nicht herumkam, stellte er sich bessere Schüler als Gehilfen an (Dieses Verfahren wurde übrigens auch von den Geistlichen empfohlen. Die Gehilfen des Lehrers wurden „Monitore“ genannt). Diese mußten die Schüler die Aufgaben hersagen lassen und die Nichtskönner dem Lehrer angeben. Da fielen dann die Schläge manchmal hageldicht. Doch nicht immer waren die aus der Mitte der Schüler ernannten Aufseher zuverlässig. Eine Handvoll geplatztes Welschkorn, ein Stückchen Süßholz oder sonst irgend ein Leckerbissen genügte, um dieselben zur Nachsicht zu bewegen, welchen Umstand natürlich manche Faulpelze fleissig ausnützten. Kam jedoch eine solche Vertuschung der Tatsachen ans Tageslicht, so hatte der Aufseher das Zusehen. Er wurde sofort von seinem Amt abgesetzt, und durfte mit des Schulmeisters Hand, die Übrigens von gewaltiger Größe gewesen sein soll, sehr nahe Bekanntschaft machen. Für faule Schüler hatte der alte Kludt eine ganze Auswahl von Strafen. Konnten sie ihre Lektion nicht, so mußten sie entweder knien oder bekamen Tatzen, je nachdem der Schulmeister in der Laune war. Ein von ihm geliebtes Verfahren war, den Schüler mit den Worten „Groß und faul gibt auch ein Gaul“ an den Ohren bis an das Katheder zu ziehen. Verspätete sich ein Schüler, so wurde er gewöhnlich mit den Worten „Komm i net heut, so komm i morga“, oder „Eine gut

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Ausred ist drei Batzen wert“ empfangen. Da bei der großen Schülerzahl immer viele ohne Beschäftigung waren, verübten die Kinder aus Langeweile verschiedene harmlose Streiche, deren Entdeckung von dem Schulmeister gewöhnlich ein böses Nachspiel mit sich brachte. Während den Pausen herrschte eiserne Strenge. Ballspielen und Schreien wurden nicht geduldet. Wehe dem Schüler der beim Schlittschuhlaufen auf dem Eise ertappt wurde. Der bekam gewöhnlich Hiebe im Überfluß, gepfeffert mit verschiedenen Moralsprüchen, wie z.B. „Gehorsam ist besser denn Opfer“ und dergl. Bei aller Strenge war der alte Schulmeister doch auch sehr gutmütiges kam oft vor, daß er den gezüchtigten Kindern hernach in seiner Wohnung Honigbrot gab. Da das Schuljahr damals etwa vom 1. Oktober bis 1. April dauerte, konnte sich der alte Kludt während der langen Sommerferien allemal von den Strapazen der Schule gründlich erholen. Das Gehalt des alten Schulmeisters war verhältnismäßig gut, hauptsächlich was die Naturalien anbelangt. Im Jahre 1838 bekam er z.B.230 Rubel Assignation, „Kisik“ (Mist zum Brennen) und 160 Kapizen Heu, im Jahre 1844 360 Rubel, 5 Faden Kisik, 20 Fuhren Heu und 12 1/2 Tschw. Weizen. Auch fehlte es nicht an verschiedenen Anerkennungen seitens der Gemeinde und der Schulobrigkeit. Im Jahre 1863 schenkte ihm die Gemeinde für seine getreue Arbeit in der Schule 23 Rubel. Pastor Hastig schreibt gelegentlich einer Inspektion der Schule im Jahre 1839 über Kludt: „Ist ein sehr brauchbarer und christlicher Schullehrer „Pastor Breitenbach im Jahre 1841: „Besitzt vorzügliche Fähigkeiten, ist fleißig und treu in der Führung seines Amtes und macht durch seinen gottseligen Lebenswandel demselben Ehre“. Am 3. Sepber 1847 bekam er eine Belobigungszeugnis von Generalsuperintendent Flittner unter N.524 und am 23. November vom Generalsuperintendenten Richter unter N. 135. Bei den Pastoren war der alte Schulmeister auch sehr beliebt.
Feindselige Gefühle hegten gegen ihn nur Pastor Knauer, weil er während des Streites um die „Goßner’sche Richtung“ auf der Seite der Gemeinde stand, und Pastor von Lösch (P. Lösch kam ein paar Jahre später ins Irrenhaus), weil er wenig Fähigkeiten und scheinbar auch Sympathien für die russische Sprache besaß. Als Kludt älter wurde, begann sich das harmonische Verhältnis, das zwischen ihm und der Gemeinde bestand, etwas zu trüben. Einige Gemeindeglieder waren mit seinen Leistungen, die wegen des hohen Alters nicht mehr gut sein konnten, nicht zufrieden; andere wieder konnten es ihm nicht verzeihen, daß er zu den Stundenbrüdern hielt. Die Unzufriedenheit nahm noch mehr zu, als Pastor von Lösch unter der Gemeinde heftig gegen den alten Schulmeister zu agitieren begann. Zur Lösung der aktuell gewordenen Schulmeisterfrage wurde im Jahre 1879 eine Gemeindeversammlung einberufen. Auf derselben machten
einige Männer den Vorschlag, dem alten Kludt aus Gemeindemitteln ein Häuschen zu bauen und ihm für seinen langjährigen und treuen Dienst bis zum Tode eine Pension („Das Ausgeding“) zu geben. Dieser Vorschlag rief unter Kludts Gegnern ein großes Geschrei hervor und sie ruhten nicht, bis sie die

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Gemeinde umgestimmt hatten. Es wurde der Beschluß gefaßt, den alten Kludt
zu entlassen und einen anderen Lehrer zu mieten. Wie sehr dieses Vorgehen
der Gemeinde den alten Mann kränkte, geht aus einem an die Gemeinde gerichteten Schreiben hervor, das folgenden Inhalt hatte: “Der werten Gemeinde zu Töplitz. Indem ich, liebe Gemeinde, bei Euch durch Gottes Gnade alt und grau geworden bin in Eurem Kirchendienste und in dieser langen Zeit mit Euch Freud und Leid geteilt habe und zu jeder Zeit bereit und willig war, in jeder Beziehung ohne Eigennutz Euch zu dienen, so viel nur in meinem Vermögen war, nun aber aus Altersschwäche nicht dienen kann, daher ich schon im vergangenen Jahr 1877 um Entlassung bitten wollte, aber dringendes Bitten und Anhalten veranlaßten mich, noch ein Jahr zu bleiben. Da sich aber unsere Verhältnisse seitdem, sowohl in Kirche wie Gemeinde verändert haben, und unser Herr Pastor (Lösch, der verrückt gewordene) mich neulich bei öffentlichem Gemeinde als einen Mann bezeichnete, der ihm nicht willfährig ist, gegen den russischen Unterricht ist und sogar behauptet, die Gemeinde selbst sei gegen das Russische und der Verstoß mit mir ihn veranlasse, sogar unsere Schule nicht zu besuchen, was mir unerträglich ist. Dazu kommt noch, daß einige Männer unserer Gemeinde bei der neulichen Gemeindeversammlung mich auf das schmählichste verunglimpft haben, das macht mir unmöglich, meine Stellung als Schullehrer so noch länger zu behalten. Ich bin daher entschlossen, das Schulhaus gleich zu räumen und mein Amt niederzulegen, denn wie kann ein Mann der Gemeinde noch Gottesdienst halten, der seine eigenen Kinder nicht liebt und vertreibt und mit Lug und Trug umgeht und den sein eigener Pastor als seinen Gegner ansieht. Ich bitte also um Eure gefällige Entlassung. Ich will kein Leibgedinge weder von Euch noch vom Herrn Pastor.
Ich danke recht herzlich für Euer bisheriges Vertrauen, Liebe und Teilnahme zu mir, was der liebe Gott Euch und Euren Kindern reichlich belohnen wolle.
Euer Euch treuer unvergeßlich liebender alter Schullehrer
August Kludt. „
Töplitz, den 3. Januar 1879.

So mußte der alte Schulmeister an seinem Lebensabend recht bitter den Undank der Gemeinde fühlen. Kämmler schreibt in seinem Tagebuch: „Unser alter Kludt ist schimpflich Fortkommen aus Töplitz, das bleibt feste Wahrheit

zur S c h a n d e f ü r T ö p l i t z.“

Nach einiger Zeit scheint bei der Töplitzer Gemeinde doch die Stimme des Gewissens aufgewacht zu sein und sie versuchte, das begangene Unrecht gut zu machen. Am 31.März 1879 beschloß sie, dem Lehrer August Kludt, weil er während seiner Dienstzeit in dem ihm zugeteilten Garten viel Obstbäume und Weinstöcke (im Jahre 1881 kaufte die Gemeinde zur Nutznießung für den Küster den Weinberg der verstorbenen Elisabeth Eckstein für 60 Rubel 30 3/7 Kop.) angepflanzt hatte, 190 Rubel zu schenken. Der alte Kludt zog im Jahre 1879 ins Chersonsche Burg (Neudorf?) zu seinem Sohn Benjamin Kludt, woselbst er ein halb Jahr

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blieb und hernach zu seinem Sohn Samuel Kludt nach Friedensfeld übersiedelte. Der alte Schulmeister war reichlich mit Kindern gesegnet. Er hatte
9 Söhne und 4 Töchter:
Johannes, geb.1837, Gebietsschreiber in Gnadenfeld,
Samuel, geb. 1840, Großbauer in Friedesfeld bei Sarata, Bess.,
August, geb. 1841, Baptistenprediger in Amerika,
Heinrich, geb.1846, Küster und Lehrer, Großliebental,
Benjamin, geb. 1850, Küster und Lehrer in Neudorf,
Wilhelm, geb. 1852,
Gotthilf, geb. 1860,
Karl, geb. 1861, Lehrer an der Zentralschule zu Freudental,
Woldemar, geb. 1863, Küster, Lehrer und Organist in Grunau, nachher
Buchhalter in Berdjansc,
Sophie, geb. 1843,
Maria, geb. 1853,
Johanna, geb. 1855,
Karoline, geb. 1858.
Er starb am 12. April 1897 im Alter von 85 Jahren, 10 Monaten und 12 Tagen
und wurde auf dem Kirchhof zu Friedensfeld begraben. Kludts Nachfolger
war David Dieno, der das Küsteramt von 1880-93 versah. 1896 starb er im
Hospital zu Gnadenfeld.

  1. Records of the National Socialist German Labor Party (NSDAP): National Archives Microcopy no. T-81 Roll 634 Frame 5434969-5436973
    Verfasser: Deutsches Ausland-Institut (Stuttgart) (Main Author) American Historical Association. Committee for the Study of War Documents (Added Author) Veröffentlichung: Washington, D.C.: American Historical Association. American Committee for the Study of War Documents ↩︎
  2. Anmerkung: hier irrt der Verfasser ↩︎

Johannes Kludt

Erste Mittheilungen von unserem Großvater Johannes Kludt. Aufgesetzt von meinem Bruder Wilhelm Kludt.1

Von unseren Urur- Großeltern ist nur so viel bekannt, daß sie ungefähr, zur Zeit des dreißig jährigen Krieges von dem Rheingegenden bei Köln nach Preußen auswanderten, und sich in der Gegend zwischen den Städten Schneidemühle, Bromberg und Gnesen in der Provenz oder Herzogthum Posen ansiedelten. Die nächsten Marktflecken waren Rogasen, Schönlank und Schocken. Sie waren evangelischer lutherischer Konfession, und redeten die blattdeutsche Mundart.

Unser Urgroßvater hieß: Johan Kludt und die Urgroßmutter, Katharine geb. Schönfeld.

Sie hatten sieben Söhne und zwei Töchter, unter welchen unser Großvater Johannes Kludt, geboren 1743, ihr jüngstes Kind, ein Zwillingssohn, war. Als 12jähriger Knabe, wurde er eine Vater und Mutterlose Waise, wurde, und mußte von dem an bei Bauersleuten sein Brod mit Dienen suchen. Zur Zeit des siebenjährigen Krieges mußte er als Fuhrknecht bei den Rußen, der fürchterlichen Schlacht, bei Zorndorf, beiwohnen, wo er von einem rußischen Barbier, ein Rasiermesser noch kaufte.

Im Jahre 1773 trat unser Großvater mit der Großmutter Katharine, geborene Dreher, geboren in dem Dorfe Ninke, 6 Meilen2 von Posen und eine Meile von Rogasen, in den Ehestand, und nährte sich von Schafzucht und Handarbeit. Einer von den Brüdern des Großvaters starb ledig, und ein zweiter wurde Katholik, übersetze seinen Familien Namen ins Polnische: Grundschinski, zum großen Ärger, seiner Verwandten.

Nach Beendigung des siebenjährigen Krieges wanderten viele Deutsche nach Polen ein und ließen sich besonders in den Weichselgegenden nieder; und auch unsere Großeltern entschlossen sich endlich dazu, und ließen sich in der Gegend der Städte Wrozlawek, Konin und Rostositz nieder. Ihre Kinder waren der Alterfolge nach folgende. Martin, Michaelx), Johannes (mein Vater), Maria und Christoph. Sie starben, die Großmutter 41, der

x) Katharine

Großvater: 60 Jahre alt. Martin und Michael haben in Polen bei der Stadt Peterkau, ihre gekauften Landgüter und Christoph Schneider und Schullehrer bei der Stadt Kowol.

Mein Vater Johannes Kludt wurde nach seiner eigenen Angabe, im Dorfe Turke bei der Stadt Konin in Polen geboren den 3./15 April 1783 geboren und in Muchlin getauft. Sieben oder achtjährig, verunglückte er bei einer Wasserschlause. Wer ihn errettet hat, weiß er nicht, nur das er beim wiedererhaltenen Bewußtsein schon geretet war, und seine Mutter sehr weinte.

Da es bei seinen Eltern wegen mancherlei Unglücksfälle sehr armselig herging, so hatte es auch mein Vater sehr schwer, zumal in polnischen Dörfern und Wäldern, besonders was den Unterricht der Kinder anbelangt. Er lernte bei seiner Mutter nur nothdürftig lesen, besuchte im Winter 1795 auf 1796 die Schule in dem deutschen Dorfe, Sporse, und wurde 1796 in Groß Neudorf confirmiert. Nach der Confirmation erwachte in ihm ein besonderer Drang zum Gebet und weiteren Schulkenntnissen; Durch imsige Selbstübung brachte er es im Deutschen und im polnischen lesen und schreiben, bei seinen armen Verhältnissen

ziemlich weit, und war dazu auch noch so glücklich, ein kleines Rechenbüchlein, Pescheks Rechenschüler, zu bekommen, um sich auch im Rechnen zu üben. Siebenzehn Jahr alt, trat er bei einem Schneidermeister in die Lehre. Im zwanzigsten wurde er Schullehrer und diente als solcher von 1802 bis 1804 in Ladna, von 1805 bis ins 1811 Jahr in Lusche, von 1811 bis 1815 in Groß-Neudorf, und von 1815 bis 1819 in Lipin.

Im Jahre 1803 den 23. Nov./5. Dec. trat er in Ladna mit meiner Mutter Anna Maria, geb. Will, in die Ehe. Sie ist in Polen geboren, in einem Dorfe bei Konin den 23sten April 1787, und confirmiert 1801. Ihre Eltern waren: Adam Will und Anna Maria geb. Milbrat, wohnten auf ihrem Landgut Dombjer Hauland bei der Stadt Dombje. Sie war eine gottesfürchtige, da bei sehr ökonomische, und für das leibliche Wohl ihrer Kinder bedachte Frau.

Ihre Kinder waren:

Karl Wilhelm Kludt, geboren in Lusche bei der Stadt Dombje d. 16./28. Mai 1807, Friedrich August Kludt, geboren in Lusche bei Dombje den 20. Mai/1. Juni 1811.

In Folge von einer von der russischen Regierung an die Deutschen in Polen erlassenen Aufforderung und Privilegien, zu einer Ansiedlung in Bessarabien, wanderten mein Vater und noch vier andere Familien Reinke, Hirsekorn, Makus, und Död aus dem deutschen Dorfe Lipin bei der Stadt Kolo im Jahre 1819 nach Bessarabien aus, und übernahm dort so gleich, in der ersten Kolonie Leipzig, den dortigen Schuldienst. Allein da uns das bessarabische Clima gewaltig zusetzte, und wir alle erkrankten, so entschloß sich mein Vater mit seiner Familie wieder nach Polen zurückzureisen. Auf dieser Rückreise, im Herbste 1820 traf uns bei unsern kranken Umständen, noch das Unglück, beim Dorfe Karbun, durch das Umwerfen des Wagens fast alle verwundet zu werden, besonders die Mutter, die sehr beschädigt war, und so genöthigt wurden, in Keschinoff zu bleiben. Unser Vater übernahm dann, in Folge diesem Unfalle, bei dem damals daselbst wohnenden Fürsten Kontagusin, eine Gärtnerstelle, die ganz nah bei dem, bei der Stadt liegenden Dorfe Durlest, ist; wo wir

sich alle von unseren kranken Umständen bald erholten.

Nach einem Jahre wurde der Garten verkauft, die Fürstliche Familie zog auf ihre Güter bei Magilleff, und mein Vater übernahm daher 1822 und 1823 die Gärtnerstelle des Obersten v. Stamo im Dorfe Horest. 1824 übernahm er die Gärtnerey in Galbin.

1825 die Schulstelle in Katzbach; 1827 bis 1834 verwaltete er die Schulstelle in Töplitz, und von 1834 bis 1839 wieder die Schule in Katzbach, und zog dann wieder zurück nach Töplitz, zu meinem Bruder August Kludt, welcher indessen die dortige Schulstelle angenommen hatte.

Wilhelm Kludt

Nachtrag zu dem vorstehenden Aufsatz meines l. Br. Wilhelm Kludt.

Diese, meine lieben Eltern, denen ich nächst Gott mein Leben und so unzähliges Gute zu verdanken habe, führten und hatten, besonders in ihren letzten Jahren ein etwas unstätes Leben, und hatten es daher, manchmal recht schwer. – Sie verließen 1939 Katzbach, – sich in den Ruhestand begebend, – und kamen und wohnten bei mir in Töplitz, zehn Jahre weniger zwei Monate, und zogen nachdem 1848 zu meinem Bruder Wilhelm in II. Malojaroslawetz. Hier aber erkrankte bald darauf meine Mutter Anna Maria Kludt geb. Will, an einer Art Lungensucht und starb den 19ten Oktober 1848, im Alter von 64 1/2 Jahren, und wurde den 22sten Octob. Nachmittags von Pastor Pingoud beerdigt. Sie hatte den Heiland schon seit längerer Zeit gesucht und kennen gelernt, und liebte ihn sehr, und so auch Jedermann; besonders aber war sie gegen ihre Kinder, eine gar zärtliche liebende und um sie besorgte Mutter. Der Herr vergelte ihr alles im ewigen Leben. In ihrer letzten Krankheit hatte sie manche schwere Anfechtungen von der Macht der Fensterniß in ihrem Innern durchzumachen und klagte mir ihre Trostlosigkeit; ich suchte sie zu beruhigen und zu trosten so gut ich wußte und konnte. Ich mußte ihr dann das14te Kapitel Johannes

vorlesen, was sei mit rechter Gespanntheit anhörte; und der Herr schenkte ihr in Gnaden wieder Trost und Frieden, und ging so, als eine gebeugte Sünderin im Glauben an den Herrn Jesum, still und sanft, in die ewige Heimath.

Von 1851 bis 1854 wohnte der Vater dann wieder,

als Witmann, alleine bei uns in Töplitz, und zog nach diesem wieder von uns, bis er 1857 wieder zu uns kam, aber auch nicht wieder auf eine lange Zeit, – sondern er kehrte noch einmal wieder zurück zu meinem Bruder Wilhelm in II. Malojaroslawetz. Jetzt erkrankte er nach einigen Wochen an einer sehr schmerzlichen Wassersucht, die von Zeit zu Zeit immer mehr zunahm und ihm so nach als sein letztes Läuterungsfeuer zu seinem Ende dienen mußte. Er war erweckt, liebte das Gute, und suchte oft mit Eifer und Ernst die Beförderung des Reiches Gottes nach seinen Ansichten, die manchmal gerade nicht die richtigsten waren; – und schadete sich selbsten damit, besonders durch seine lieblings Idee, von der Zukunft Christi, und den unsichtbaren und zukünftigen Dingen. Er sahe nun mit Schmerzen ein, daß er sich öfters geteuscht hatte. Er starb im kindlichen Glauben an Jesum, den 29sten März 1862, und wurde den 31 März von Pastor Pingoud beerdigt, im Alter von 79 Jahren. Beide Eltern ruhen nun dicht nebeneinander auf dem II. Malojarosl. Friedhofe, dem großen Tag der Auferstehung entgegenharrend.

Ach es wär zum weinen
Wenn kein Heiland wär,
Aber sein erscheinen,
Bracht den Himmel her.

Töplitz, den 31. Juli 1871 August Kludt

Die Johann Kludtschen Kinder

1 Carl Wilhelm Kludt

geboren den 16. Mai 1807 in Polen in Lusche, confirmiert 1823 den 22. März in Sarata. verheiratete sich den 18. Juli 1827, mit Susanna geb. König in Polen den 10. Decemb. 1811

Er übernahm 1826 die Schreiberstelle in Katzbach, 1827 und 1828 die Schreiberstelle in Krasna, 1829 und 1830 die Schulstelle in II. Ferechampenaise, 1831 und bis 1833 die in I. Malojaroslawetz, und von 1834 an übernahm er die Schulstelle in II. Malojaroslawetz, wo auch unsere ganze Kluds-Familie als Mitbürger eingetragen sind.

Wilhelm Kludt´s Kinder :

1) Christina, verehelichte Sannewald, geboren in I. Malojarosl. d. 28. Octob. 1831
2) Samuel geb. in II. Malojar. d. 5 Decemb. 1833
3) Louisa, den 25. Decemb. 1835

4) Eva Rosalia, verehel. Sannewald gebren. den 5. Januar 1838
5) Gotthilf Friedrich geb. d. 23. Sept. 1840; gest. in Amerika
6) Susanna geb. d. 3. April 1843 gest. 5/4 1843
7) Wilhelmine geb. d. 13 April 1844 gest. 4/11 1845
8) Gottlob Michael geb. d. 6. Juli 1846. gestorb.
9) Dorothea geb. d. 21. März 1849 gest. 27/6 1850
10) Jacob geb. d. 10. Juni 1851. gest. d. 15/6 1851
11) Gotthold geb. d. 12. Novemb. 1852
12) Emilie geb. d. 20. Nov. 1854 gest. 1856
13) Adolph geb. den

Carl Wilhelm Kludt
II. Malojaroslawetz
den 30. Mai 1856

II. Friedrich August Kludt.
geboren den 1. Juni 1811 in Lusche bei der Stadt Dombje in Polen, wurde mit meinem Bruder Wilhelm den 22sten März 1823 in Sarata von Pfarrer Lindl confirmiert, und habe von jener Zeit an, einen bleibenden und gesegneten Eindruck behalten.
Ich hatte die Wohlthat zu geniessen, von meiner Kindheit an bis in die Jünglingsjahre, im väterlichen Hause zu sein, nur daß ich, leider im eigentlichen keinen Schuluntericht hatte, als nur den Häuslichen, neben der Schule meines Vaters. welchen Mangel ich oft füllen mußte. – denn meine Eltern lebten meistens in nicht überflüßigen Umständen, und konnten daher nicht viel für mich verwenden, zudem für meinen Bruder Wilhelm seine Weiterbildung gesorgt werden muste, und man mich auch zu Hause nothwendig brauchte. Von 1831 bis 1832 übernahm ich die Schreiberstelle in I. Malojaroslawetz, und kam dann wieder zu Hause nach Katzbach. Von 1834 bis 1835 machte ich, besonders durch Betreibung meiner lieben Mutter, eine Besuchsreise zu unseren Verwandten in Polen

und nach Deutschland, in die Herrenhutter Brüdergemeinde Gnadenberg, Niske, Kleinwebke, Herrenhut und Bethelsdorf, – die für mich von großem Nutzen war. –

Von 1835 bis 1836 wurde ich durch Betreibung meines Bruders Wilhelm, – dem ich viel zu verdanken habe, in Befärderung was Bildung

anbelangt, – der Heer vergelte es ihm, – Schulgehülfe oder Proviser in Großliebenthal, was mir in Schulsachen sehr zu nutzen kam.
Vom 23sten April 1836 an mußte ich auf betreiben der Gemeinde Töplitz ihre Schulstelle übernehmen, die ich auch bis 1879, bei mancher Schwäche, Noth und Anfechtung, durch Gottes Gnade besorgte, aber auch dabei manchen Genuß des Guten und der Freude erfahren durfte.
In diesem Jahre 1836 den 5ten Juni verehelichte ich mich mit meiner lieben Gehilfen Eva Katharina geb. Hägele. Sie wurde den 15ten November 1819 in einem kleinen Dorfe Hahnweiler bei der Stadt Wennenden, geboren in Würtemberg. Ihre Eltern waren: Johann Conrad Hägele, und dessen Ehefr. Eva Katharine geb. Schäfer. Sie hatten sich in Deutschland, wohnend bei den ziemlich vermögenden Schwiegereltern in Hahnweiler, Ulrich Schäfer und dessen Ehefr. Eva Katharine geb. Fischer, mit der Schneiderey ernährt, und wanderten 1830 nach Rußland ein, wo sie sich in der Kolonie Gnadenthal niederließen. Meine Schwiegermutter Katharine Hägele hatte den Unfall gehabt, in ihren Jugendjahren, an einem Beine zu erlahmen, und mußte daher Krücken gebrauchen, bis an ihr Ende; was ihr freilich viele Beschwerden verursachte, aber ihre schöne Gestallt, besonders ihr christlicher Sinn und bescheidenes freundliche Benehmen machte sie allgemein beliebt. Im Jahre 1831 starb sie an der Cholera, im Alter von 33 Jahren.
Mein Schwiegervater Conrad Hägele wurde im November 1798 in Nelmerßpach in Würtemberg geboren. Seine Eltern waren Christian Hägele, und dessen Ehefr. Johanna. Er hatte folgende Geschwister: Einen Bruder Namens: Christian, und zwei Schwestern: Sara, und Anna Maria. Er war, wie sein Vater ein Schneider. Nach dem Tode seiner Frau, verehelichte er sich zum zweiten Mal, mit Katharine geb. Frick, von der er

folgende Kinder hatte: Friedrich, Christian, Johannes, Adam, Johanna Bizer, Louisa Käß, Christina Ridliger, Maria Wagner. Auch diese Frau starb ihm, und er verheirathete sich zum dritten Mal, mit Louise geb. Häcker, von der noch die Tochter Friederika vorhanden ist. Er selbsten starb etwa im Jahre 1856.

Meine Frau war das einzige Kind der ersten Frau meines Schwäers, Eva Katharine geb. Schäfer und wurde von derselben gar sorgfältig auferzogen, mit dem imsigen Anhalten des Schulbesuchs, dessen Untericht sie noch in Deutschland zu genißen hatte. Aber nach dem Tode dieser lieben Mutter, der gleich im anderen Jahre der Einwanderung erfolgte, fiel die ganze Last der Haushaltung auf sie, als einem 12jährigen Mädchen, und Noth aller Art, bittere Armuth, Krankheiten, später dazu auch noch dazu großer häuslicher Druck, von der Stiefmutter, wechselten miteinander, bis sie durch die Führung des Herrn, mit ihrer Verheiratung, davon befreit wurde. Die Veranlassung bei mir, ihr den Antrag zum Heirathen zu machen, war die Antwort des Herrn auf mein inniges Flehen zu Ihm: Joh. 14, 27, „den Frieden lasse ich auch, meinen Frieden geben ich euch. Nicht gebe ich euch wie die Welt giebt, Euer Herz erschrecke nicht, und fürchte sich nicht.“ –
Der Herr hatte jetzt geholfen und die Noth war gehoben, aber des ungeachtet hat Er uns dennoch so manchen Denkstein Seiner Errettung von Noth und Tod gesetzt, besonders bei einigen schweren Geburten, und einigen schweren und tödlichen Krankheiten. Lauter Beweise Seiner Gnade, daß Er uns nicht nur hier Gutes thun, sondern auch selig haben will. – und Gottlob! wir haben Ihn kennen und lieben gelernt, Seine Gnade an uns ist nicht vergeblich gewesen. – O möchte sie sich an allen, uns geschenkten lieben Kindern, so mächtig beweisen, an einem Jedem ins Besondere, daß wir alle, als ein Lohn Seiner Schmerzen einst rühmen könnten: „Siehe Herr, hier bin ich und die Du mir gegeben hast.“ –

Unsere Ehe ist reichlich gesegnet worden mit 16 Kindern, von denen 2 tod geboren sind, und hier folgen; alle sind in Töplitz geboren:

  1. Johannes den 14ten September 1837.
  2. Samuel Jacob den 3. Februar 1840.
  3. Friedrich August den 15ten December 1841.
  4. Sophia Katharina den 31ten October 1843
  1. Immanuel Heinrich den 13ten October 1846.
    Ein todgeborener Knabe den 2ten Januar 1849.
  2. Benjamen den 23. Februar 1850.
  3. Reinhold Wilhelm den 14. April 1852.
  4. Maria Salome den 12. October 1853.
  5. Johanne Friederika Amalia den 7ten Novemb. 1855.
    Ein todgeborener Knabe den 1856.
  6. Caroline Elisabeth den 17ten Januar 1858.
  7. Gotthilf den 27ten Februar 1860.
  8. Carl Immanuel den 19. August 1861.
  9. Woldemar den 11. August 1862.
  10. Gotthilf den 2. Januar 1868.

davon sind gestorben:

  1. Amalia den 15. Juni 1858. 3. Gotthilf den 19. Juni 1861.
  2. Caroline den 27. Decemb. 1859. 4. Gotthold den 7. Januar 1870.

Lebensende der lieben Mutter in Friedensfeld

Hier in Friedensfeld erkrankte unsere liebe theure Mutter, nach manchen vorhergehenden Unpäßlichkeiten und Krankheiten, zu Ostern 1890, aufs Neue, an sehr schmerzhaften Magen- und Urinbeschwerden, so daß sie oft 4-5 Tage lang keinen

Stuhlgang und Urinlassen hatte, und nur durch verschiedene Purigiermittel und Operationen wieder in den Gang kam. Zu diesen Leiden verbunden mit Gichtkrämpfen, erhielte sie noch zuletzt, einen sehr starlen brennenden braunrothen Friedel, der erst am fünften Tage etwas abtrocknete. Sie fühlte sich dann wie etwas besser und leichter, so daß sie nmanchen Tag einpaar Stunden auf war, nach unserer Wäsche nachsahe und andere Hausbedürfnisse anordnete, bei mir. So war sie noch am 4ten Juli etwas auf, küßte und drückte mich, mit dem Bedauren, daß ich so viele Arbeit und Mühe mit ihr haben müßte. Ich etgegnete ihr: Mir ist noch kein Gedanke gekommen, daß mir dein Kranksein zuviel oder lästig wäre, wenn es auch noch zwei Jahre dauerte, wenn Du nur nicht stirbst, – Sie antwortete: Aber siehe, ich bin schon schwach und elend, mir selbst und Anderen zur Last, für mich ist sterben das Beste. – Noch am Abend desselben Tages war sie auf, und hielten miteinander unsere Abendandacht. Ich las einen Aufschlag aus Hillers Liederkästlein und betete, und sie betete dann auch; indem sie sich als eine arme Sünderin, in das Erbarmen Jesu hineinwarf. – Wir gingen dann ganz gemüthlich beide zu Bette. Sie war ruhig und klagte nichts. Uum 2 Uhr Morgens, sagte sie zu mir, ich solle aufstehen, und meinen dicken Rock auf die Bettdecke noch legen, sie könne gar nicht warm werden, udn war dann wieder ganz stille, nach dem ich den Rock auf sie gelegt hatte. bis gegen 4 Uhr hörte ich auf einmal wie einwenig röchlen oder schnarchen. Ich rief ihr sogleich, aber sie gab keine Antwort mehr, sie war schon im Abscheiden. Ich eilte

sogleich den Samuel und seine Leute zu rufen, und wie sie kamen dauerte es nur noch einpaar Minuten, und sie hatte ihr Leben ausgehaugt. – Das war den 5ten Juli gegen 4 Uhr Morgens 1890.
Am 7ten Juli Abends wurde die Mutter von dem hiesigen Schullehrer Enßle beerdigt. Er eröffnete die Leichenfeier mit einem schönen mehrstimmigen Gesange, und las eine wichtige Leichenrede, über Luk. 12,41- 44 –
„Der Herr aber sprach: Wie ein großes Ding ist es um einen treuen und klugen Haushalter, welchen der Herr jetzt über sein Gesinde, daß er ihnen zu rechter Zeit ihre Gebühr gebe.

Selig ist der Knecht, welchen sein Heer findet also thun, wenn er kommt. Wahrlich, ich sage euch, er wird ihn über alle seine Güter setzen.“

Die ganze Leichenfeier wurde dann wieder mit einem mehrstimmigen Gesange geschloßen. –
Die Mutter hatte ihren irdischen Lauf vollendet im Alter von 70. Jahren 7 Monat und 20 Tagen: war

[hier endet die Aufzeichnung leider]

1Abschrift in der originalen Rechtschreibung, Akte DAI, R57 1405 Bundesarchiv

26 Meilen (9,66 Kilometer), 1 Meile (1.609,34 m)

Zur Geschichte Süd Russlands VI

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1

6. Fortsetzung und Schluss

7. Der Berdjansker und Mariupoler Kolonistenbezirk

Ausschnitt aus der Karte der Postämter im Russischen Reich 18782

Unter d. gleichen Bedingungen mit Hoffnungsthal wurden von solchen württembergischen Chiliasten, die weder im Chersonschen Gouvernement geblieben sind, noch auch nach Grusien mitzuziehen sich entschlossen haben, im Jahre 1882 die Kolonieen Neuhoffnung, Rosenfeld und Neuhoffnungsthal gegründet.

Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18555

Später, im Anfang der dreißiger Jahre, kam noch Neustuttgart gleichzeitig mit Gnadenthal und Lichtenthal bei Sarata in Bessarabien hinzu. Die Gründer der letztgenannten drei Gemeinden waren ebenfalls württembergische Einwanderer mit chiliastisch-separierter Richtung. Während Gnadenthal und Lichtenthal sich an das Kirchspiel Sarata angeschlossen, wie auch Neustuttgart und ein Theil von Neuhoffnungsthal und Rosenfeld ein eigenes evangelisch-lutherisches Kirchspiel bildeten und sich damit unter dem Schutz des St. Petersburgischen Konsistoriums stellten, blieb Neuhoffnung und der übrige Theil der benachbarten Gemeinden Neuhoffnungsthal und Rosenfeld separiert. Ihr geistlicher Vorstand war Pfarrer Wüst, ein Mann des Volkes von seltener Energie und Beredsamkeit, erfüllt mit frischem Glaubensleben. Wüsts Aussaat artete jedoch unter dem kolonistischen Laienprediger Hottmann in ein Sektenwesen aus, welches große Verbreitung selbst in einigen Gemeinden des damaligen Grunauer Kirchspiels fand. Springer oder Hopfer3 wurde die neue Sekte genannt, welche die separierten Gemeinden im Berdjanskschen Kreise einer völligen kirchlichen Auflösung nahe brachten. Obwohl gegenwärtig eigentliche vom „heiligen Geist“ zu ausgelassener Freude gestimmte „Springer“ nicht mehr vorhanden sind, so leiden diese Gemeinden bis heute unter den Nachwirkungen des Springerthums. Nur das für das koloniale Verhältnisse ausgezeichnete Schulwesen dieser Gemeinden läßt hoffen, daß das, was noch krankt, bald einem gesunden, nüchternen Wesen wird Platz machen müssen

Ganz anders als diese zu religiöser Schwärmerei hin neigenden Separatisten des bei Berdjanskschen Kreises sind die preußischen Einwanderer des Mariupoler Kolonistenbezirks geartet. Gegen 500 Familien langten in den Jahren 1818 und 1819 aus Preußen, theilweise zu Fuß, in dem Molotschaner Mennoniten- und Kolonistenbezirken an, wo sie vorläufig einquartiert wurden. Die neuen Ankömmlinge konnten vermöge ihres Fleißes durch verschiedene Handarbeiten und Gewerbe sich dort theils ihren Unterhalt erwerben, theils noch etwas Geld ersparen. Mit einigen Ausnahmen hatten sie wenig oder gar kein Vermögen vom Auslande mitgebracht. Ueber ihre Ansiedlung berichtet das „Unterhaltungsblatt“ im Jahre 1853:

„Im Märzmonat 1820 erwählten sich viele Einwanderer auf Befehl des Vormundschaftskomptoirs der ausländischen Ansiedlungen zu Jekaterinoslaw drei Deputierte: Christian Klaaßen, Nikolaus Dodenhöft, beide später in der Kolonie Grunau, und Johann Majewsky, später in der Kolonie Eichwald angesiedelt, welche auch vom Komptoir bestätigt wurden und für die Sache der Ansiedlung sich bemühten, bis im Herbst 1822 den Ansiedlern das Land angewiesen und die äußeren Grenzen von Griechen und Russen, im Gegenwart des Herrn Gouverneurs und des Herrn Mitglieds vom Komptoir Babiewsky, abgepflügt wurden.

Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1853 Nr. 13

„Die hilfsbedürftigen Ansiedler erhielten auf jede Familie 300 bis 450 Rbl. Banko Vorschuß zum Anbau der Häuser und zur ersten wirthschaftlichen Einrichtung, welche Gelder im zweiten Jahrzehnt der Ansiedlung rückstandslos abgetragen worden sind.“

Im Jahre 1823 haben diese preußischen Einwanderer 18 Kolonieen gegründet und zum Andenken an ihre heimathlichen Ortschaften in Westpreußen mit Genehmigung der russischen Behörden nachfolgend benannt: 1 Kirschwald, 2 Tiegenhof, 3 Rosengart, 4 Schönbaum, 5 Kronsdorf, 6 Grunau, 7 Rosenberg, 8 Wikkerau, 9 Reichenberg, 10 Kampenau, 11 Mirau, 12 Kaiserdorf, 13 Götland, 14 Neuhof, 15 Eichwald, 16 Tiewenort, 17 Schönwald 18 Thiergart. Eine zweite Einwanderung geschah in den Jahren 1823 und 1824; eine dritte im Jahre 1841. Aus Württemberg, Baden, Hessen und vom Niederrhein kamen über 100 Familien und begründeten die vier Kolonien: Elisabethdorf 1825, Ludwigsthal 1828, Darmstadt und Marienfeld 1842. Von diesen haben nur 19 Wirthe der Kolonie Ludwigsthal Geldvorschuß erhalten, die anderen hatten eigene Mittel. Im Jahre 1832 entstanden die fünf Kolonien: Bellowesch, Kaltschinowka, Rundewiese, Großwerder und Kleinwerder.

Darüber schreibt das „Unterhaltungsblatt“:

„In den Jahren 1768 bis 1782 hatten sich deutsche (wahrscheinlich preußische) Einwanderer im Romenschen Kreise des Governements Tschernigow niedergelassen und dort die fünf Kolonien: Bellowesch, Kaltschinowka, Rundewiese, Groß- und Kleinwerder angelegt. Die dort ihnen zu theil gewordenen Kronsländereien waren für die zahlreiche Nachkommenschaft nicht mehr hinreichend, weshalb die landlosen Familien sich bei der Regierung die Erlaubnis ausbaten, im südlichen Rußland Land zu Uebersiedlung aussuchen zu dürfen. Das Gesuch wurde ihnen gewährt, um geeignete Stellen ausfindig zu machen. Diese Bevollmächtigten wandten sich an das Jekaterinoslawische Vormundschaftskomptoir und erhielten von demselben die Anweisung, die neben Mariupol liegenden noch unbesetzten Ländereien in Augenschein zu nehmen. Sie befolgten dieses, und da sie hier einen fruchtbaren Boden in der Nähe einer Seestadt fanden, so kehrten sie mit dem festen Entschluß, sich hier niederzulassen, und mit Zeugnissen der örtlichen Obrigkeit versehen zu ihren Gemeinden zurück und erklärten, daß sie dieses Land an Ort und Stelle als das zweckmäßigste zur Ansiedlung befunden hätten, worauf die Gemeinden um die allerhöchste Genehmigung baten, welche ihnen Allergnädigst ertheilt wurde. Dann begaben sich im Herbst 1831 in allem 122 Familien nach dem Mariupoler Kolonistenbezirk, wo sie von den schon früher angesiedelten Familien als christliche Glaubensgenossen und künftige Nachbarn mit Liebe aufgenommen und beherbergt wurden, bis sie im Frühjahr 1832 ihren eigenen Herd begründeten und ihre Ansiedlungen nach denen im Gouvernement Tschernigow benannten.

„Unterstützung zur Ansiedlung haben diese Ansiedler nicht erhalten denn jede Familie hatte ihre gehörigen Ackergeräthe und Zugvieh, zum Bauen aber wenigstens zu 400 Banko bares Geld mitgebracht.“

Der Kolonist der Kolonie Grunau Christian Klaaßen, Mitglied des landwirthschaftlichen Vereins und seit 1848 Oberschulz im Mariupoler Kolonistenbezirk, hat die Pläne zur Anlage dieser Kolonien und der Häuser entworfen und ausgemessen, überhaupt diese Übersiedlung geleitet und dadurch unvergessliche Verdienste um diese Kolonien erworben.

„Seit dem Jahre 1849 ist durch Ansiedler aus der Stadt Jamburg Gouvernement St. Petersburg eine neue Kolonie, Neujamburg, diesem Bezirke hinzugefügt worden.“

Im Mariupoler Kolonistenbezirk befinden sich zwei evangelisch-lutherische Kirchspiele: 1 Gronau, zu welchem in den sechziger Jahren noch Taganrog, Nowotscherkask und Berdjansk gehörten, und 2 Ludwigsthal. Grunau, welches eine der größten Kirchen in den südrussischen Kolonieen besitzt und in üppiges Grün buchstäblich eingehüllt ist, wurde im Jahre 1823 als Kirchspiel bestätigt. Von ihm zweigte sich nächst Taganrog das Kirchspiel Ludwigsthal ab.

Schluß.

Wir haben uns bei der gegenwärtigen Schilderung fast ausschließlich im Rahmen der Entstehungsgeschichte der im Anfang des vorigen Jahrhunderts gegründeten Kolonien im Chersonschen, Taurischen und Jekaterinoslawschen Gouvernement bewegt. Der Raum gestattet uns nicht, hier auch nur einen oberflächlichen Überblick dessen zu geben, was im Laufe von kaum einem Jahrhundert aus diesen Kolonien geworden ist. Das müssen wir für eine andere Gelegenheit aufsparen. Doch darauf soll zum Schluß noch hingewiesen werden, daß innere Kraft der deutschen Kolonialbevölkerung Südrußlands in diesem Zeitraum sich augenfällig bewährt hat. Die Kolonisten haben es verstanden, sich den hiesigen Lebensbedingungen anzupassen und trotz bedeutender Schwierigkeiten sowohl in der Kultur vorzuschreiten, als auch dem rapiden Wachsen ihrer Volksziffer entsprechend sich zu dem von der Regierung ihnen angewiesenen Areal immer neue Ländereien zu erwerben.

Was die Schwierigkeiten anbelangt mit denen sie bei der Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, in der landwirthschaftlichen Bearbeitung des süddrussischen Bodens, zu kämpfen hatten, so sei nur beispielsweise auf den westlichen und östlichsten Theil der ursprünglichen Kolonien hingewiesen, den Großliebenthaler und Mariupoler Bezirk.

In der für die Kultur der Kolonie so hochbedeutsamen „Odessaer Zeitung“ haben wir in Nr. 95 und 96 das Jahrgangs 1903 unter der Überschrift „Ungünstige Einflüsse auf die Entwicklung der Landwirthschaft im Großliebenthaler Kolonistenbezirk“ berichtet, daß die Freudenthaler Kirchenchronik nicht weniger als 29 Fehljahre in Folge von Mißwachs aufzählt. Das sind, da es sich um den Zeitraum von 1806 – 1902 handelt, über 30 Prozent oder fast der dritte Theil aller Ernten. Doch das sind noch lange nicht alle Mißernten, außerdem Mißwachs haben auch Heuschrecken, Käfer, Mäuse, Hessenfliegen und Hagel die Zahl der Mißernten bedeutend erhöht. „Es ist unglaublich,“ so lesen wir in einem kirchlichen Bericht vom Jahre 1884, „welche Heimsuchungen über das Kirchspiel Grunau seit seiner Gründung in fast ununterbrochener Reihenfolge ergangen sind.“ Außer den Steppenplagen: Heuschrecken, Getreidekäfer, Rinderpest usw., hatte der Bezirke sieben Mal furchtbare Viehseuchen, ein Mal von der Cholera zu leiden.

Hessenfliege, Getreideverwüster (Cecidomyia destructor)6

Wiederholt verwüsteten orkanartige Hagelstürme nicht nur die Felder, sondern auch die Gebäude, 21 Tage hielt der Schneesturm an, der im Jahre 1848 mit seinen Schneemassen das Dach das Pastoratsgebäudes und andere Häuser zum Einsturz brachte.

Nikolai Sverchkov, Troika in Winter7

Viel Energie, Muth und Ausdauer hat dazu gehört, alle diese elementaren Schwierigkeiten zu überwinden und in erbittertem Kampfe dem Boden denjenigen Ertrag abzuringen, auf welchem der gegenwärtige Wohlstand sich gründet. Leider sind die alten Kolonien im allgemeinen bereits seit einer Reihe von Jahren in ihrer Entwicklung stehen geblieben, wo nicht gar zurückgegangen, weil die rationelle Bearbeitung des Bodens mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt gehalten hat. Jene glänzenden Erträge, womit in früheren Jahren der jungfräuliche Boden mit einem Schlage, den Landmann für eine ganze Reihe von Mißernten entschädigte, gehören jetzt bereits in das Gebiet der Sage. Und doch will der Kolonist immer noch nicht mit dem alten Zopf der Raubwirthschaft aufräumen. Bessere Bearbeitung des Bodens, sorgfältige Düngung, gründliches Studium der Landwirthschaft, gemeinnützige Bestrebungen, Einmüthigkeit im Ordnen aller Gemeindeverhältnisse, bessere Ausbildung der Söhne und namentlich auch der Töchter – das sind die Aufgaben der Kolonieen für das zweite Jahrhundert ihres Bestehens. Daß so etwas nur auf dem Grunde der Gottesfurcht und milder christlicher Sitten möglich ist, muß die Ueberzeugung aller werden. Es giebt jetzt schon nicht wenige intelligente Landwirthe, die energisch eine bessere Bewirtschaftung ihres Landes mit Erfolg anstreben und den Säumigen ein Beispiel geben, welches wie wir hoffen, seine gute Wirkung nicht verfehlen wird.

J.S. 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 26.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Karte der Postämter im Russischen Reich, Iljin, Alexis Afinogenovich. Sankt Petersburg: A. Iljins kartografische Einrichtung, 1878. – mit 3 Einschüben: Asiatisches Russland mit der Region Turkestan, Umgebung von Moskau, Umgebung von Sankt Petersburg, KBR Kartensammlung

3Busch theilt in seinen ,,Materialien zur Geschichte und Statistik der evangelischen Gemeinden Rußlands“ über diese vier leztgenannten Kolonien Folgendes mit:

Die Bewohner derselben sind würtembergische Separatisten, die sich hier im Jahre 1822 niederließen und eben wie die Kolonisten in Grusien durch den damals in Würtemberg herrschenden Rationalismus aus ihrem Vaterlande getrieben wurden. Etliche von ihnen ließen sich in Bessarabien in den Kolonien Sarata, Gnadenthal und Lichtenthal nieder und stellten sich unter den Schutz des Consistoriums; jene vier Kolonien wollten aber eine Art Brüdergemeinde bilden und erbaten fich dazu das Privilegium, ihre kirchlichen Angelegenheiten selbst ordnen und verwalten zu dürfen. Mit dieser Selbstverwaltung wollte es aber nicht gehen und schon im Jahre 1843 waren diese Kolonien einer völligen kirchlichen Auflösung nahe, vor welcher sie nur durch die Berufung des Pastors Wüst als „geistlichen Vorstandes“ sich retten konnten. Wüst war ein Mann des Volkes von seltener Energie und Beredtsamkeit und frischem Glaubensleben. Er hatte sich bald die Liebe und Achtung aller Parteien erworben und dieselben wurden einig in der Anhänglichkeit an seine Person.

Wüst’s Eigenthümlichkeit sagte auch deßwegen jenen Leuten so zu, weil er sein geistliches Amt ganz in den Hintergrund stellte und nur als Bruder unter ihnen weilte und wirkte. Er that dies nicht aus Politik, sondern aus eigener Ueberzeugung; er hatte in dieser Beziehung sehr freie Ansichten und sprach dieselben auch unverhohlen gegen seine Gemeinde aus. Die Folge war, daß das Parteiwesen gegen Ende seines Lebens sich doch wieder erhob, und als kurz vor seinem Tode ein gewisser Hotmann, ein Kolonist aus der Krim, in seine Gemeinde kam und daselbst für die Hopfer- und Springersekte wirkte, vermochte er der Bewegung nicht mehr Herr zu werden und starb im Jahre 1859 an gebrochenem Herzen.

Er hatte in seiner Gemeinde, wie es scheint, anstatt der gehaltenen Choralmelodien oft Arienweisen singen lassen, und daran knüpfte Hotmann an. Die Leute klopften erst den Takt mit den Fingern zum Gesang, wurden aber mehr und mehr elektrisirt und fingen an in geistlicher Freude zu hopfen und zu springen. Besonders soll sich dieses Unwesen zeigen, wenn sie zusammenkommen, das heilige Abendmahl zu feiern, wo sie auch von dem Weine etwas mehr zu trinken scheinen, als ihnen gut ist, und dann vom heiligen Geist zu ausgelassener Freude gestimmt werden.

Matthäi, F.: Die deutschen Ansiedlungen in Rußland. Ihre Geschichte und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung für die Vergangenheit und Zukunft. Studien über das russische Kolonisationswesen und über die Herbeiziehung fremder Kulturkräfte nach Rußland. / Von Friedrich Matthäi, Offizier der Königl. Sächs. Armee, corresp. Mitglied der Keiserl. freien ökonomischen Gesellschaft, sowie der Gartenbaugesellschaft zu St. Petersburg. – Leipzig: Hermann Fries; Gera: C. B. Griesbach, 1866, p96f:

4 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1853 Nr. 1, auf Mikrofilm, CMBS

5 Die Kolonien in Bessarabien und in dem Gouvernement Cherson. Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland. St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1855

6 Hessenfliege, Getreideverwüster (Cecidomyia destructor), Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 453-455 (zeno.org), gemeinfrei

7 Troika im Winter, Nikolai Sverchkov,(1817–1898), the-athenaeum.org, public domain

Asch (Aš)

Hotel „Schützenhaus“ Asch Ansichtskarte von 1938, Kunstverlag Georg Philipp, Nr. 26

Asch ist eine Stadt in Nordwestböhmen im heutigen Tschechien, im 11. Jahrhundert kamen Kolonisten aus Bayern, so erhielt sich bis ins 20. Jahrhundert, ebenso wie im südlich angrenzenden Egerland, der nordbayerische Dialekt. Auch im nördlich angrenzenden Vogtland wurde diese Mundart in etlichen Ortschaften nahe der tschechischen Grenze gesprochen.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 gehörte Asch zur Tschechoslowakei, eine Angliederung an Bayern wurde abgelehnt. Nach dem Münchner Abkommen gehörte die Stadt von 1938 bis 1945 zum Landkreis Asch im Reichsgau Sudetenland, weshalb zahlreiche Umsiedler hier in Umsiedlerlagern untergebracht wurden.

Am 14.10.1940 wurden die Bewohner Kisils zum Donauhafen Kilia gebracht und fuhren mit dem Donaudampfer „Schönbrunn“ am Abend des 15.10.1940 Donau aufwärts durch das „Eiserne Tor“ bis Semlin bei Belgrad, wo sie am 18.10.1940 vormittags von einer Musikkapelle empfangen wurden.

Nach kurzer Rast in einem Zeltlager ging es am 20.10.1940 abends, mit Bussen zum Bahnhof Belgrad und per Zug über Graz, Wien, Prag und Eger nach Asch.

Alle, die mit dem Treck fuhren, Väter gemeinsam mit ihren ledigen Söhnen oder auch kinderlose jüngere Ehepaare, lenkten ihre Gespanne am 17.10.1940 von Kisil bis Galatz. Bei Ankunft wurde das Gepäck auf die Schiffe verladen und die Pferde für das Militär gemustert. Von Galatz ging an Bord der Schiffe bis Prahowo in Jugoslawien und von dort mit der Bahn bis Asch, wo sie am 10. November 1940 eintrafen.

In Asch wurden die Kisiler mit den eintreffenden Umsiedlern aus Manscha (Annowka) und Raskajetz auf drei Lager verteilt.

Das Hauptlager war das Schützenhaus, hier waren unter anderem Renate Manske (1922–1945, sie starb zusammen mit ihren Eltern auf der Flucht beim Überqueren der Weichsel), Ida (*1924) und Anna Maria (*1921) Heller, Elfriede Winter (*1924), Gertrud Härter(*1924), Harald Mantz (*1937) und Klara Klaudt (*1921) untergebracht.

Neue Turnhalle des Turnvereins Jahn in Aš (Asch) aus dem Jahr 19331.

In der Jahnhalle waren die Familien Artur Flöther (*1908), Eduard Haas (*1914), Gotthilf Kehrer (1900–1945), Rudolf Kehrer (*1899), Rudolf Böpple (1909–1984), Oskar Schoon (1899–1946) und Oskar Witt (*1902, Cousin des Großvaters von Katharina Witt) untergebracht. Mütter mit Säuglingen bekamen einen eigenen Schlafsaal.

Weitere bekannte Namen der Umsiedler in der Jahnhalle waren Adolf, Gerber, Merz, Rauch, Schneck und Wirth. Außerdem gab es noch das Jägerhaus.

Für die Speisezubereitung in der Lagergroßküche waren die bessarabische Frauen zuständig, schulpflichtige Kinder hatten das Glück, in die Bürgerschule gehen zu können, das war nicht immer möglich, vor allem im Warthegau war es mit dem Schulunterricht nicht so gut bestellt. Die Kinder ab 10 Jahren kamen zum Jungvolk, ab 14 Jahren zur Hitlerjugend bzw. zum Bund deutscher Mädel (BDM).

Den Schulunterricht erteilten die bessarabischen Lehrer Robert Deiß und Oskar Mantz (*1910) aus Kisil, Robert Brenner aus Manscha und Heinrich Sonderegger aus Raskajetz.

Zudem wurden die Umsiedler zur Arbeit in Fabriken und Betrieben herangezogen, Asch war ein Zentrum der Textilindustrie, das war nicht in allen Lagern so und führte dort durch Herumsitzen und Langeweile zu Frust. Junge Männer wurden direkt eingezogen zum Wehrdienst.

Am 17.10.1941 ging es per Zug über Eger, Karlsbad, Dresden, Görlitz und Breslau in den Warthegau, in Freihaus (Stunska Wola) wartete auf die Umsiedler noch einmal ein Durchgangslager vor der Ansiedlung im Warthegau.

Asch wurde am 20. April 1945 durch US-amerikanische Truppen besetzt. Im November 1945 kam Asch nach der Übergabe an sowjetische Besatzungstruppen unter sowjetische Militärverwaltung und wurde danach tschechisch.

Quelle:
1 Overview of the development of various streams of German physical education in the Czech lands – Scientific Figure on ResearchGate. Available from: https://www.researchgate.net/figure/Abbildung-6-Neue-Turnhalle-des-Turnvereins-Jahn-in-As-Asch-aus-dem-Jahr-1933-Figure_fig4_354658790 [accessed 6 Jul, 2023] Creative Commons Attribution 4.0 International

2 Kisil, ein Schwabendorf in Bessarabien, Schriften des Heimatmuseums der Deutschen aus Bessarabien Nr. 36, herausgegeben von Ingo Rüdiger Isert, Stuttgart 1999

Lager Hellebæk

Hellebækgård, Fotograf Ole Rafn, 6.11.2007, CC BY-SA 3.01

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren noch viele Flüchtlinge in Dänemark, so auch in Hellebækgård (Haus Hellebæk). In Hellebæk wurde bereits 1576 ein Pachthof angelegt, im 18. Jahrhundert befand sich auf dem Gut eine Waffenfabrik (Kronborg Geværfabrik), dann eine Gewehrfabrik (Hellebækgård Götter) und ein Herrenhaus.

Heinrich Carl von Schimmelmann (1724–1782) erwarb den Grundbesitz3, welcher bis Ende des Zweiten Weltkrieges in Familienbesitz blieb. Die Familie Schimmelmann stellte das Haus den deutschen Besatzungstruppen zur Verfügung, 1945 wurden im Herrenhaus bessarabische und lettische Flüchtlinge untergebracht.

Im Jahre 1946 wurde das Gut von der dänischen Regierung konfisziert und 1951 an das Königlich dänische Waisenhaus verkauft, nach umfänglicher Renovierung von 1953 bis 2007 als Waisenhaus genutzt, dann als soziale Einrichtung, heute befindet sich seit 2014 eine Schule im Gebäude.

Brief aus dem Lager Hellebæk

Der folgende Brief2 beinhaltet eine „Liste von Insassen des Lagers Hellebäck“ und Grüße an den Onkel von J. Stock.


Die von mir vorgenommene Abschrift erfolgte in der Rechtschreibung des Schreibers. Folgen Sie einfach dem Link und klicken Sie die pdf. Datei an. Danke.


Brief vom 27.12.1945

Brief vom 27.12.19452

Brief vom 27.12.1945 Rückseite2


1 Wikimedia, Hellebækgård, Fotograf Ole Rafn, 6.11.2007, CC BY-SA 3.0, Foto

Brief privat, Familienbesitz Oberlander-Seidel Nachkommen, freundlichst genehmigt durch Frau Melanie Zensner

3 Bilder des Anwesens 1940-1960

Mariewka – Marianca de sus


Gewidmet der Familie Oberlander- Seidel, denen ich für Ihre privaten Fotos danke und in Erinnerung an Oskar (1922-1944) und Matthias (1925-1944), deren junges Leben – wie das vieler anderer – einen sinnlosen Tod in einem grausamen Krieg fand.


Leider ist mir der Verfasser dieser Chronik aus dem Jahre 1991, welche ich vorliegen habe, nicht bekannt, aber ich möchte sie – vorbehaltlich des Einwands, dann entferne ich das selbstverständlich – hier als Abschrift veröffentlichen, da sie einen wirklich schönen geschichtlichen Rückblick bietet.

Kurzchronik der Gemeinde Mariewka

Die Gründung der Gemeinde Mariewka hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte. Vorbild für die Gründer war in etwa die Brüdergemeinde Korntal bei Stuttgart.

Es waren bei 30 bekehrte Brüder, die sich zusammentaten, um eine „reine“ Brüdergemeinde unter dem Namen Gnadenau oder Gnadenort in Mittelbessarabien zu gründen. Diese landarmen Bauern – später nannte man sie „landhungrig“ – fanden eine Gutsbesitzerin griechischer Herkunft, eine Gräfin Maria Radokonaki, in der Nähe des Marktfleckens Kauschani, die bereit war, von ihrem großen Landbesitz von 28 ooo Deßjatinen, 2128 Deßj. ihnen zu verkaufen. Für 28.-, bzw. 32.- Rubel je Deßjatine wurde der Kauf getätigt.

Die russische Regierung verwarf jedoch den vorgesehen Namen und so einigte man sich schließlich auf den Namen Mariewka in Anlehnung an den Namen der Gutsbesitzerin Maria Radokonaki. Zur Finanzierung dieses Landkaufs nahmen die 32 Bauern bei der Chersoner Landbank eine Hypothek á 20 Rbk. pro Deßj. mit einer Laufzeit von 25 Jahren auf. Bei der Aufteilung des Landes verfuhr man so, daß z.B. eine sogenannte ganze Wirtschaft 52,5 Deßjatinen umfasste.

Bei den Dorfgründungen in Bessarabien spielte ja das Wasser die Hauptrolle. Wo kein Wasser unter der Erde zu finden war, konnte auch kein Dorf stehen. Da Mariewka auf einer Hochebene von ca. 240 m liegt, war die Wasserversorgung das Hauptproblem. Der ursprünglich vorgesehene Standort erwies sich als ungeeignet. In einem weiter südlich gelegenen etwas krummen Tal wurde man in ca. 20-24 m fündig. Gutes trinkbares Wasser wurde auf der östlichen, weniger gutes auf der westlichen Talseite gefunden.

Im Winter 1891/92 wurden unermüdlich in den naheliegenden Steinbrüchen Bausteine gebrochen und im Frühling 1892 begann das große Bauen. Die meisten dieser Häuser standen noch in tadellosem Zustand bei der Umsiedlung im Jahr 1940. Das Dorf wurde in zwei parallelen Hofzeilen beiderseits des Tälchens angelegt. In der Dorfmitte sah man eine Kreuzstraße vor. Dort wurde auf der östlichen Seite ein großer Hofplatz für ein Bethaus/Kirche nebst Schule vorgesehen.

Bethaus Mariewka etwa 1938-1940; Foto privat, Familienbesitz Oberlander-Seidel Nachkommen, freundlichst genehmigt durch Frau Melanie Zensner

In zwei Anläufen 1895 und 1905 wurden beide Gebäude nebst einem Glockenstuhl erstellt. Eine gewaltige Leistung zu jener Zeit. Gegenüber, auf der westlichen Seite sparte man gleichfalls einen großen Platz für eine Dorfkanzlei aus. Sie, die Primaria wurde dann 1927/28 erbaut und ihrer Bestimmung übergeben. Heute, nach knapp 100 Jahren beherbergt dieser noch in passablen Zustand befindliche Bau, die Grundschule, die Dorfbibliothek und die Sanitätsstation des Rest-Dorfes „Marianofka de Sus“, wie Mariewka heute heißt.

Bethaus Mariewka um 1938-1940 Innenansicht; Foto privat, Familienbesitz Oberlander-Seidel Nachkommen, freundlichst genehmigt durch Frau Melanie Zensner

Die Hofparzelle einer „ganzen“ Wirtschaft war 50 m breit und 400 m lang. Oberhalb der Schulparzelle, ca. 50 m in Richtung Floroi hatte man den Friedhof angelegt. Eine breite Steinmauer umgab ihn. Auf der Außenseite des Eingangstors stand der Spruch: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Joh. 11, 25. Innen: Denk o Mensch an deinen Tod. Hier fand ich den einzigen noch gut lesbaren Grabstein 1991: „Katharina Scheffelmaier, geb. 1863, gest. 1899“.

Dank der verhältnismäßig guten Anbindung an das Verkehrsnetz – Bahnstation Zaim 3km, der Markt Kauschani 7km entfernt, entwickelte sich die wirtschaftliche Situation Mariewka´s recht günstig. Eine tiefe Humusschicht und ein nicht allzu trockenes Klima erbrachte, dank fortschrittlicher Arbeitsweise, meist gute bis sehr gute Ernten.

Die großen Bauern Mariewka´s sorgten schon frühe für ihre wachsenden Familien vor: So konnten bei Lunga 1575 Daßjatien im Jahr 19o8, 191o ein Landgut von 35oo Deßj., der späteren Kolonie Olgental, dann 34oo Deßj. mit dem späteren Dorf Mariental erworben werden. Olgental bei Odessa ging nach 1918 den Mariewka-ern verloren.

Wie schon zu Beginn erwähnt, waren die Einwohner Mariewka´s groß teils geprägt durch ihren bekennenden evangelisch-pietistischen Glauben. Für die innere Ordnung in der Gemeinde, etwa bei Streitigkeiten, sorgte ein Bruderrat von 8-10 Männern, sodaß die weltliche Gerichtsbarkeit soviel wie nie benötigt wurde. Eine besondere Persönlichkeit in dieser Beziehung und auch sehr geschätzt in vielen Dörfern Bessarabiens was der „blinde Hansjörgvetter“ Schmied. Er war ein nimmermüder Streiter für die Sache Jesu. Im Dorf waren zwei Brüderversammlungen. Auch eine lebendige Baptistengemeinde entstand und sie erbaute eine eigene Kapelle auf dem Grundstück von Wilhelm Schreiber.

Bevor die Schule gebaut wurde, unterrichtete ein Bauer, Michael Jose die Kinder des Dorfes in einer Bauernstube. An 1895 fand dann immer von November bis Februar der Unterricht durch Lehrer statt. In den letzten Jahren vor der Umsiedlung waren meist zwei bis drei Lehrer bei über 1oo Kindern tätig.

1896 erbauten Samuel Wiese, Matthias Oberlander und Christoph Irion am Unterende eine Dampfmühle, die mit Stroh befeuert wurde. Joseph Idler aus Sarata übernahm sie nachher, mußte sie aber nach dem Ersten Weltkrieg an einen jüdischen Unternehmer verkaufen, der sie vergrößerte und statt der Dampfmaschine einen MAN-Dieselmotor von 12o PS einbauen ließ. Bei Wilhelm Haas lief einige Jahre auch eine Ölmühle, gekoppelt mit einer Wollekämmlerei. Ein Gemeindeladen, die „Lafke“ wurde 1917 gegründet, er kam aber zunächst langsam voran, denn ein gutgehendes jüdisches Geschäft sorgte für kräftige Konkurrenz. Später wurde dem „Konsum“-Laden noch eine Molkerei angegliedert, zu Anfang neben der Kreuzstraße, dann aber neu erbaut und modernisiert oberhalb des Ladens.

Dorfplan zur Umsiedlung von mir auf googlemaps5 aufgelegt, damals 52 Wohnhäuser, im Jahre 2018 noch 18 vorhanden, Fotos8

Was wäre noch zu sagen? Auf zwei geeigneten Landflächen wurden Weinberge angelegt, so in Richtung Kauschani, ca. 1 km vom Dorf entfernt und eine neuere Weinberganlage am Hortop in der Nähe von Neu-Mariewka. Neben Direktträgern gab es schon viele edlen Sorten. Die Bauern von Mariewka begannen in den letzten Jahren vermehrt mit Sojaanbau, während man bei der Schafzucht von den Milchschafen zur Karakulzucht über ging. Sechs große Dreschgarnituren nebst Garbenbindern, Mähmaschinen, Treckern, Drillmaschinen u.a. blieben 194o dort. In der Kirche die 1912 angeschaffte, wohlklingende Orgel der Ev. luth. Kirche, die die Russen sehr bald demontierten und nach Rußland schafften.


Ein Einblick in das landwirtschaftliche Leben um und auf dem Hof eröffnet uns das Familienalbum der Familie Oberlander8 , vielleicht erkennt jemand seine Angehörigen unter den unbekannten  Personen wieder?


Ein Zeichen großen Fortschritts war die Flurbereinigung 1938. Nach der Umlegung und Neuzuteilung waren alle Voraussetzungen für eine noch bessere Bewirtschaftung des Ackerlandes gegeben. Zwei gemeindeeigene Viehweiden in der Floroi und bei Neu-Mariewka hatten Futter für Vieh, Pferde und Schafe. – Es zeichnete sich allerdings die letzten Jahre ab, daß die Äcker auf Dauer ohne Düngung nicht mehr den erwarteten Ertrag bringen würde.
Gottfried Scheffelmaier, langjähriger Schulz/Primar von Mariewka sollte noch erwähnt werden, als herausragende Persönlichkeit vertrat er wirkungsvoll diese unsere Gemeinde sowohl in russischer als auch in rumänischer Zeit.

194o war dann die Zeit eines deutschen Dorfes Mariewka vorbei. Infolge der Besetzung Bessarabiens durch die Sowjetunion wurden wir Deutschen ins Deutsche Reich umgesiedelt2. Es gibt heute noch den Rest des einstigen Mariewka, aber in welchem Zustand! Fast alle der wenigen noch stehenden Wohnhäuser gleichen Ruinen, Wirtschaftsgebäude sind schon garkeine mehr da, Hofmauern sind verschwunden, die Dorfstraße ist mit Mais bepflanzt, der Friedhof und die Hofräume mit Unkraut und Gestrüpp überwuchert. Wird Mariewka das zweite Jahrhundert überdauern?


Die ersten Hofbesitzer 9

Liste der ersten Hofbesitzer im Juli 1892

Hof Nr.NameDeßjatien
1August Riethmüller78
2Reinhold Zinaleske65
3Samuel Drews78
4Magdalena Haag52
5Samuel Rehmann52
6Georg Hommel52
7August Zaiser39
8Friedrich und Abraham Winger26
9Michael Groß26
10Christian Tetz I39
11Friedrich Schäfer13
12Jakob Netz26
13Jakob Wildermuth26
14Friedrich Tetz26
15Johannes Schäfer26
16Christian Rüb, Lichtental52
17Gottlieb Matt52
18Jakob Schäfer, Gnadental52
19Christian Matt52
20Jakob Haas105
21Michael Jose78
22Georg Schmied105
23Jakob Baumann78
24Christian Rüb, Sarata65
25Matthias Oberlander105
26Jakob Herr52
27Bernhard Weiler52
28Karl Wildermuth39
29Christian Richter39
30Gottlieb Koppenstein52
31Gottlob Weißhaar26
32Johann Kleinknecht13
33Friedrich Wildermuth13
34Christian Ulrich13
35David Martin13
36Christian Math26
37Gottlieb Schäfer26
38David Layher26
39Christian Jeske52
40Gottfried Beierle52
41Gottfried Schaffelmeier52
42Johannes Wildermuth65
43Gottlieb Schreiber65
44Johann Gunsch78

Die Gefallenen des Ersten Weltkrieges 2

Rudolf Weisshaar, 1914, 23 Jahre

Wilhelm Weisshaar, 1914, 21 Jahre

Friedrich Häfner, 1915, 31 Jahre

Jakob Häfner, 1914, 22 Jahre

Karl Häfner, 1915, 28 Jahre

Jakob Henning, 1918, 27 Jahre

Jakob Schäfer, 1913, 23 Jahre

Georg Gwinner, 1916, 26 Jahre

Zusammengestellt Kurator: gez. Maas, 6.9.1938


Schule

Unmittelbar nach der Ansiedlung war es den Kindern nicht möglich, eine Schule zu besuchen, so wurde das Haus vom Michael Jose, einem Bauern, im Winter (November-Februar) zur Behelfsschule, in der restlichen Jahreszeit mussten die Kinder ihren Eltern helfen, ehe man sich 1895 an den Bau eines Schul- und Bethauses machte. In diesem unterrichteten nun endlich auch ausgebildete, von der Gemeinde bezahlte Lehrer, der Hauptlehrer war bis 1920 zugleich Rektor, Küster und Gemeindeschreiber.

Küster und Lehrer waren9:

  • 1893-1897 Michael Jose, Bauer aus Mariewka
  • 1898-1899 Jakob Herter, Lehrer aus Großliebental
  • 1899-1901 Immanuel Baumann aus Lichtental
  • 1902-1904 Gustav Witt aus Arzis.
  • 1906-1906 Christian Kalmbach
  • 1907-1909 Friedrich Rüb
  • 1909-1915 Karl Knauer 
  • 1915-1922 David Baumann
  • 1922-1931 Karl Knauer
  • 1931-1936 Karl Knauer – nur Lehrer
  • 1936-1940 Karl Knauer
  • ab 1930 als erste Lehrer: rumänische Lehrer

Die Änderung im Lehrkörper erfolgte, da in Bessarabien nun in rumänischer Sprache unterrichtet werden musste, zudem wurde weiter in Russisch unterrichtet, nur der zweite Lehrer durfte in einigen Fächern, wie Religion, auf Deutsch unterrichten.

Interessant in diesem Zusammenhang, in Folge der Russifizierung wurde in Bessarabien ab 1829 das Benutzen der rumänischen Sprache in der Verwaltung verboten. Ab 1833 durften Gottesdienste nicht mehr in rumänischer Sprache abgehalten werden und alle rumänischen Kirchenbücher wurden verbrannt. 1842 wurde in allen Gymnasien die rumänische Sprache durch die russische ersetzt. 1860 wurde der rumänische Unterricht sogar in den Grundschulen eingestellt. Mit dem Anschluß an Rumänien am 9. April 1918 endete die Russifizierung und Bessarabien bekam eine  zentralistische Verwaltung sowie eine Neuordnung der Gebiete in neun Kreise (Județ).

Die Schule wurde ab 1919 staatlich verwaltet, der rumänische Staat bezahlte das Lehrergehalt, war für Anstellungen der Lehrer zuständig und letztlich damit auch für die Lehrpläne, zudem zahlte der Staat das Heizmaterial, welches die Gemeinde für die harten Wintermonate lieferte.

Wirtschaftlich nahm Bessarabien nun eine starke Entwicklung wahr, auch die Infrastruktur wurde deutlich ausgebaut. Durch eine Agrarreform 1920 mit der Enteignung von Großgrundbesitzern (mit mehr als 100 Hektar – unser Opa Kühn machte daher seine Frau – damals ungewöhnlich – zur Eigentümerin eines Teils des Landes, um es zusammen zu halten) konnten viele besitzlose Bauern zu eigenem Land gelangen. Die Durchführung dieser Reform dauerte bis in die 1930er Jahre an und wurde teilweise durch Korruption gehemmt.

Religionslehrer und Rektor in dieser Zeit war Karl Knauer, als er das zweite mal nach Mariewka kam, außer in den Jahren 1930-1935, da übernahmen die Stelle des Küsters, Religionslehrers9:

  • 1931-1932 Otto Steudle,
  • 1932-1933 Wilhelm Gäßler,
  • 1933-1934 Herbert Merz und David Baumann
  • 1935-1936 Theophil Frey

Weil die Mariewka-er Brüdergemeinde einen großen Kindersegen hatte, musste die Schule bald erweitert werden. Zunächst 32 Schüler fassend, waren es 1909 bereits 80 und zur Umsiedlung über 1003.

1908 hatte man daher im Gebäude bereits die Lehrerwohnung zum zweiten Klassenzimmer umgebaut und die Lehrerwohnung in das neu gebaute Bethaus verlegt.

Es gab auch Schulhelfer, eigentlich die Stelle des zweiten Lehrers, später 2. Gemeinde- bzw. Staatslehrer, 1936-1938 als dritte Lehrer eingesetzt9:

  • 1908 Doris Hasenjäger
  • 1908-1909 Gottlieb Lust
  • 1909-1910 Leopold Gäßler
  • 1910-1911 Immanuel Necker
  • 1911-1912 Wilhelm Keller
  • 1912-1915 Johannes Knauer
  • 1920-1922 Arthur Witt
  • 1922-1924 Bernhard Häußer
  • 1924-1925 Otto Schaupp
  • 1925-1927 Johannes Knauer
  • 1927-1928 Adolfine Sonderegger
  • 1929-1930 Anna Wagner
  • 1930-1931 George Preda, Rumäne
  • 1931-1938 Otto Eckert
  • 1936-1938 Helene Dalibaltow, Bulgarin (III. Stelle)
  • 1939-1940 Helene Dalibaltow, Bulgarin (II. Stelle)

Die Gemeinde Mariewka hatte der Schule immer die Religions- und Lesebücher kostenlos gestellt, das blieb auch mit der Verstaatlichung der Fall. Die deutschen Lehrer, zugleich Küster und Religionslehrer, blieben in der Gemeinde, wurden von dieser ebenfalls entlohnt, entsprechend gut war ihr Stand. Die Kinder genossen den mehrsprachigen Unterricht zu ihrem Vorteil, in anderen Regionen des Landes litten sie häufig unter dem Mangel der deutschen Unterrichtung, entsprechend waren ihre Lese – und Schreibkünste der deutschen Sprache, besonders auffällig in der Dobrudscha, wo zur Umsiedlung vieles bereits rumänisch in den EWZ-Unterlagen vermerkt wurde, bzw. in sehr schlechtem, eher rumänisch klingendem Deutsch.

Aus der Schulzeit gibt es noch einige Erinnerungen der Familie Oberlander8, vielleicht erkennt der eine oder andere Leser seine Angehörigen wieder, dann wäre es schön, wenn er dazu mit mir in Kontakt treten würde.

Da auch für die Jüngsten gesorgt war, gab es einen Kindergarten. Die Betreuung erfolgte durch9:

  • 1925-1927 M. Lecka
  • 1927-1928 M. Zeliony
  • 1929-1930 Nedelsky
  • 1931-1932 Georgiade
  • 1933-1934 Segejencko
  • 1935-1936 Dardu
  • 1936-1938 Makaresku
  • 1938 Missan

Umsiedlung der Mariewka-er

Als es im September 1940 zu konkreten Planungen kam, wurden für die einzelnen Dörfer Marschruten festgelegt.

Marschroute II
A. Straße und Rastplätze: Mariewka, Borodino, Wittenberg, Kubej, Anatol, Überquerung des Pruth bei Girugiulesti.
B. Futter besorgen bei Borodino und Wittenberg.
C. Alle Umsiedler aus den Bezirken Beresina und Kischinjow werden diese Route nehmen.

Die Notwendigeit von Pferdefuhrwerken hatte mit den außerordentlich schlechten Straßenverhältnissen in Bessarabien zu tun. Nur wenige Abschnitte waren mit LKW´s zu befahren, zudem waren die Entfernungen und die Zahl der Menschen eine kaum zu bewältigende Transportorganisation. Dazu kamen starke Regenfälle, die den eigentlichen Termin vom 18. Oktober 1940 auf den 19. Oktober verlegten.

Für das Dorf Mariewka war ein Treck mit 538 Personen geplant, die Bewohner waren auf 269 Wagen mit 538 Pferden4 verteilt und hatten eine Weg von 259 km nach Galatz vor sich.

Weg von Mariewka nach Galatz mit Zwischenstationen5 6

Wie die Familie Oberlander zu berichten wußte, wurden einige Vorbereitungen zur Umsiedlung getroffen, Decken, Kopfkissen, Waschschüsseln, Schüsseln für das Essen, Tassen, Besteck und dergleichen sollten in einem kleinen Bündel verpackt werden, welches auch an Bord des Schiffes gut erreichbar sei, denn es gab keine Möglichkeit, das auf dem Vordeck verstaute Gepäck aufzusuchen. So entschied die Familie sich zum Vergraben ihres guten Geschirrs, ebenso kam der Familienschmuck in Erdverstecke, da man damit rechnete, zurück kehren zu können, wenn der Krieg vorbei wäre.

Man schlachtete, machte Schmalztöpfe, buk Brot, verlud Mehlsäcke und Kübel mit Wasser, um für die Reise versorgt zu sein.

Familie Oberlander 19388
1. Reihe von links : Else Oberlander, Matthias Oberlander, Martha Oberlander geb. Riethmüller, Matthias Oberlander.
2. Reihe von links: Adele Oberlander und Oskar Oberlander.

Am 13. Oktober startete ein Renault-Krankenwagen (Sankra)-Transport um 9.00 Uhr morgens, um die infektiösen Kranken direkt nach Galatz zu bringen. Da russisches Militär die Straße blockierte, musste eine Umwegroute gefunden werden, der Sankra traf um 12.15 Uhr in Mariewka an. Vor Ort stellte sich heraus, dass Ingeborg Eckert neben Scharlach auch an Diphtherie erkrankt war. Der verantwortliche SS-Sanitätsdienstgrad (SDG) Schnelle gab die Anweisung, den Bezirksarzt von Kischinew darüber zu informieren, dass er die Erkrankte nicht mitnehmen können, weil Ansteckungsgefahr bestand für die die anderen Scharlach-Patienten, zumeist Kleinkinder.

Die Großeltern von Ingeborg Eckert sollten sie ursprünglich begleiten. Als Ergebnis einer Diphtherie-Infektion konnten sie nicht mehr als Begleitpersonen mitgenommen werden. So wurde Elisabeth, die Tante des Scharlach-Patienten Gerhard Schreiber ausgewählt und die Transportliste geändert. Um 14.30 Uhr ging es nach Taraclia, die Fahrt dauerte eine Stunde. Im Krankenwagen gab es zwei Typhus-Patienten, als eine russische Eskorte Probleme machte und die Aufnahme weiterer Patienten um eine Stunde verzögerte. Für zwei Patienten wurde die Zeitverzögerung zu viel, sie verstarben an Typhus.

Um 17.00 Uhr ging es aus Traclia weiter nach Leipzig, wieder machte das russischen Militär Schwierigkeiten für die Weiterfahrt, nach langer Diskussion konnte die Fahrt fortgesetzt werden, da brannte einem der Fahrzeuge eine Dichtung durch und es musste abgeschleppt werden nach Tarutino, damit die Reparaturen von der Werkstattzug des Militärs durchgeführt werden konnten. Die Ankunft war gegen 21.00 Uhr und Dr. Franke, dem örtlichem Sanitätskommandanten, bereits gemeldet worden. Trotzdem gab es gab keine Unterkunft für die Patienten,
sie mussten in den Krankenwagen übernachten. Auch die Verpflegung, die in den Zwischenstationen ausgereicht werden sollte, hatte bisher niemand erhalten.

Im Sankra mit den Scharlach-Patienten, 6 Kinder und die Begleiterin Elisabeth, gab es glücklicher Weise genügend Wolldecken, um nicht zu sehr unter der Kälte zu leiden. Die Typhus-Patienten konnten in einem leeren Haus untergebracht werden. In diesem Haus starb Frau Magdalena Schäfer gegen 23:00 Uhr. Sie bekam noch eine
Injektion gegen 22.00 Uhr von Dr. Franke, was ihr nicht mehr half.

Die anderen Patienten hatten die Nacht einigermaßen gut überstanden, waren mit heißem Tee versorgt worden.

Am 14. Oktober um 5.00 Uhr früh wurden die Typhuskranken in den Krankenwagen verladen und um 7.00 Uhr brach der Transport nach Reni auf. Die Straße war in ziemlich gutem Zustand und mit etwa 35-40 km/h passierbar, so traf man um 11.45 Uhr in Reni ein.

Kurz vor 13.00 Uhr wurde der Wachposten Pruth-Überfahrt ohne besondere Kontrollen oder Probleme durchgefahren und um 14.00 Uhr das Lager Galatz erreicht. Hier wurden nach Übergabe der Patienten Fahrzeuge und alle Einrichtungsgegenstände umgehend desinfiziert.7

In Mariewka gab es inmitten dieser Aufregung einen Trauerfall, die kleine Gertrud verstarb noch am 13. Oktober, hätte die Fahrt also nie überlebt und wurde, keine drei Jahre alt, in Mariewka zu Grabe getragen.

Dann kam der Abreisetag, viele Menschen standen an den Straßenseiten und winkten mit Tüchern zum Abschied, ehe sich die lange Schlange von Menschen und Wagen in Bewegung setzte. Eine große Trauer machte sich breit und das Heulen der zurückgelassenen Hunde war noch lange zu hören.

Das Lied, das die Kinder so gern in ihrer Mariewka-er Schule gesungen hatten, sollte nun für den Rest ihres Lebens eine neue, tiefere Bedeutung bekommen:

Wenn alles wieder sich belebet,
der Erde frisches Grün erblüht;
die Lerche sich zum Himmel hebet,
helljubelnd ihr melodisch Lied,
dann füllt mein Auge isch mit Tränen,
mein herz mit einer süßen Qual:
Dann treibt mich ein unendlich Sehnen
zu meinen Bergen in das Heimattal.

Ich denke an der Kindheit Tage
und um mich reiht sich Bild an Bild.
Es schau´n auf mich mit leiser Klage
die Eltern und die Freunde mild.
Es füllt mein Auge sich mit Tränen,
mein Herz mit einer süßen Qual:
Dann treibt mich ein unendlich Sehnen
zu meinen Bergen in das Heimattal.

Wie nah aber Trauer und Hoffnung beieinander lagen, zeigte sich in Semlin, auch schwangere Frauen waren mit extra Transporten bereits weggebracht, am 17. Oktober wurde der Familie Eckert mitten in ihre Trauer um das Töchterchen ein Sohn geboren.


Während die Mariewkaer ins Umsiedlerlager kamen, wurden Oskar (1922-1944) und Matthias (1925-1944) Oberlander einberufen. Wo das Bild8 aufgenommen wurde, ist unbekannt, links in der Vergrößerung derrechts markierte Oskar.

Wie so viele, war auch er der SS beigetreten, ob aus Überzeugung, oder weil er gedrängt wurde, da man vielen Umsiedlersöhnen versprach, es würde ihren Familien helfen, diese würden bevorzugt angesiedelt werden und kämen so schneller aus dem Umsiedlerlager, ist bis heute unklar. Was jedoch bekannt ist, er kam als Grenadier zur 7. SS „Das Reul“ und erlag einem Oberschenkelsteckschuss auf dem Hauptverbandsplatz Proskurow im Alter von 21 Jahren.

Bruder Matthias wurde als Grenadier dem Grenadier-Ersatz-Bataillon 322 zugeordnet und starb als Angehöriger der 1. Kompanie, Füsilier-Bataillon 291, an einem Herzschuss in Winiarki. Er wurde nur 18 Jahre alt.


Einige der Mariewkaer befanden sich nach Kriegsende mit anderen Bessarabiern in Dänemark, von dort erreichte ein Brief8 mit Lagerliste aus dem Lager Hellebæk die Heimat.



Zentrum gegen Vertreibung: Nr. 5: Die Auswirkungen der Umsiedlungsaktion in Bessarabien; das Schicksal bessarabien-deutscher Umsiedler während des Krieges und nach dem Zusammenbruch.

Original: Dokumentation III der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa. Das Schicksal der Deutschen in Rumänien. hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, 1957 S. 27-30

2 DAI, Mikrofilm 007953036

3 Steppenblumen. Heiteres und Ernstes in schwäbischer und hochdeutscher Sprache aus dem Leben der Deutschen in Bessarabien. Karl Knauer, Verlag Stuttgart-Vaihingen, Selbstverlag, 1954, p. 252ff

4 National Archives Microcopy #T-81; VOMI 920; Record Group 1035; Roll 317; Series 535; Frames: 2447170-2447172

5 google maps 2021 terms to use

6 Source: National Archives Microcopy #T-81; VOMI 920; Record Group 1035; Roll 317; Series 535; Frames: 2447253-2447255

7 National Archives Microcopy #T-81; VOMI 920; Record Group 1035; Roll 317; Series 535; Frames: 2447178-244179

8 Foto, Brief privat, Familienbesitz Oberlander-Seidel Nachkommen, freundlichst genehmigt durch Frau Melanie Zensner

9 Familienbuch Mariewka, Band I,  begonnen 1. Juli 1939, Abschrift J.Rzadkowski

Schloss Waxenberg

Mein herzlicher Dank für die Dokumententexte, Zeitungsartikel und das Lagerlied geht an Herrn Friedrich Wimmer, Waxenberg. Ohne ihn hätte ich diesen Artikel in dieser Form nicht realisieren können.


Das Schloss Waxenberg liegt im Ortszentrum von Waxenberg in der Gemeinde Oberneukirchen im oberösterreichischen Mühlviertel.

Bereits im17. Jahrhundert unterhalb der Burgruine Waxenberg errichtet, diente es zwischen 1756 und 1848 als Sitz der Herrschaft Waxenberg und ist heute in Privatbesitz der Familie Starhemberg.

Neues Schloss Waxenberg 1)

Das heutige „Neue Schloß“, erbaut 1908 bis 1914, diente seit 1938 der Volksfürsorge, nachdem es durch die Nationalsozialisten enteignet wurde.

Mietvertrag 1938 3)

Im September 1940 richtete man nach Beschlagnahme der Gebäude ein Umsiedlerlager ein.

Beschlagnahme 1940 3)

Beschäftigte im Umsiedlerlager und Mietangebot Saal als Schulzimmer 1940 3)

Der „Heimatbrief für die Soldaten aus dem Kreis Freistadt, O. D.“3 

berichtete im Brief Nr. 6 September/Oktober 19403 :

Als Neuigkeit muss ich euch noch sagen, dass wir dieser Tage 370 Bessarabien Deutsche erwarten. Wir wollen sie alle in den Waxenberger Schlösser unterbringen, da gibt es natürlich noch viel vorzubereiten, damit wir diesen braven Menschen wenigstens vorübergehend eine Heimat ersetzen können. Schon durch ihr Kommen zeigen sie uns ja, welche Liebe sie zu unserem Volk und zu unserem Führer haben. Sie, die ihre Heimat und ihren schwer erkämpften Boden verlassen, um Seite an Seite mit uns am Kampf und am Neuaufbau unseres Vaterlandes mitzuarbeiten, zeigen uns so recht, wie wir heute an der Geburt eines Reiches stehen, dessen Größe und innere Geschlossenheit das erste Mal in der Geschichte alles in seinen Bannkreis zieht, was bluts- und willensmäßig zu unserem Volke gehört. So entsteht Stein auf Stein das herrliche soziale deutsche Volksreich von dem zu allen Zeiten die Besten unseres Volkes geträumt haben und das Jahr jetzt durch Euren höchsten Einsatz für immer begründen helft.

Zeitgleich erhielten die Marienfelder ihren Umsiedlerpass, Mitte September 1940 wurden alle Frauen und Kinder, ebenso die arbeitsunfähigen und älteren Männer auf LKW verladen und nach Galatz ins Sammellager gebracht. Nach etwa einer Woche Lageraufenthalt setzten sie ihre Reise mit dem Schiff Donau aufwärts in das Sammellager Semlin in Jugoslawien fort. Wieder erwartete sie rund eine Woche Lageraufenthalt, ehe die Weiterreise mit der Bahn angetreten wurde. Nach der Ankunft in Wien wurden alle verteilt auf die Umsiedlungslager Eschelberg, Waxenberg und Schloß Riedegg bei Gailneukirchen (Linz/Oberdonau).

Näheres über die Vorbereitungen zur Aufnahme der Marienfelder in Waxenberg erfahren wir aus dem 7. Brief November 19403 :

Oberneukirchen empfing die Bessarabien Deutschen.

Wie wir im letzten Heimatbrief angekündigt haben, sind nun die Bessarabien-Umsiedler mit Kind und Kegel hier eingetroffen. Die Ortsgruppe Oberneukirchen hat das Möglichste getan, um ihnen schon von Anfang an zu zeigen, wie sehr wir bemüht sind, ihre Lage nach Möglichkeit zu erleichtern. Tage vorher schon wurde Jung und Alt mobilisiert, welche Tag und Nacht arbeiten mussten, um das Lager Waxenberg in einen Zustand zu setzen, der den gestellten Anforderungen gerecht wird. Es galt bei 400 Strohsäcke zu stopfen, Zimmer und Betten in Ordnung zu bringen und verschiedene andere kleine Arbeiten zu verrichten, die zur wohnlichen Ausgestaltung notwendig sind. Besonders in den letzten Tagen wurde oft bis 11 und 12 Uhr nachts mit Liebe und Fleiß gearbeitet, und als schließlich der Tag kam, wo das Eintreffen der Umsiedler gemeldet wurde, da konnten ihnen alle Beteiligten mit dem Bewusstsein entgegen blicken, ihre Pflicht als Volksgenossen den tapferen Heimwanderern gegenüber restlos nachgekommen zu sein.

Schnell wurde noch alles Notwendige zur Verpflegung heran geholt, Kartoffel und Kraut eingelagert, Brennmaterial besorgt und dann die Vorbereitung zum Empfang getroffen.

Um 4 Uhr nachmittags kam dann unser umsichtiger Kreisleiter, um noch alles zu überprüfen und die Umsiedler persönlich in ihrer vorübergehenden Heimat zu begrüßen. Inzwischen hatten die Gliederungen der Partei und der Reichskriegerbund Aufstellung genommen, auch die Ortsmusik von Oberneukirchen fehlte nicht, um den Empfang durch schneidige Märsche zu verschönern. Als dann um halb 8 Uhr abends die lange Autokolonne einfuhr und nach und nach die Familien, insgesamt 310 Personen, in das Schloss geleitet wurden, da ist wohl jedem von uns die Größe des Vaterlandes klar geworden, die diese Familien für Deutschland und für unseren geliebten Führer darbringen. Alte Leute, rüstige Männer, brave Mütter und viele, viele Kinder gingen an uns vorüber. Eine gute Organisation der Lagerführung sorgte dafür. Dass schon eine Stunde später alles in den zu geteilten Räumen untergebracht war. Die rührige Frauenschaft von Oberneukirchen und Warenberg verteilte sich sodann in den Räumen und hatte für jedes Kind und für jede Mutter ein besonderes Päckchen guter Sachen. Dankbare Blicke und Worte der bescheidenen Menschen belohnten reichlich die aufgewendeten Mühen.

So wurde auch diese Arbeit in gemeinschaftlichem Zusammenwirken geschaffen. Für Arbeit und Beschäftigung der Rückgeführten muss natürlich auch Sorge getragen werden. Um Arbeit sind wir ja in Oberneukirchen nicht verlegen. Es wurde deshalb sofort ein neuer Güterweg nach der Ortschaft Reindlsödt projektiert und sind die Vorbereitungen bereits so weit gediehen, dass wir hoffen, alle arbeitsfähigen Männer in Kürze beschäftigen zu können. Ein schöner Herbst wäre natürlich wie bei allen anderen Arbeiten auch hier dringend notwendig.

Die zurückgebliebenen Marienfelder Männer mussten ihr Vieh versorgen und das Getreide auf den Bahnhöfen Comrad oder Skinosse abliefern. Die meisten hatten seit der Abfahrt der Familien ihre Schweine geschlachtet, das Fleisch gebraten und mit Schmalz übergossen in verschlossenen Gefäßen verpackt.

Diese Art der Haltbarkeitsmachung kannte ich noch von den Schlachtetagen meiner Schwiegereltern – „Gselchtes“.

Das Schweinefleisch  wurde nach dem Schlachten zunächst gepöckelt. Während die Spitz- und Eisbeine in einer Salzlake im Steintopf zogen, wurden die besseren Stücken mit einer Mischung aus Salz und Gewürzen eingerieben und in einem Steintopf gestapelt, dann kühl im Keller gelagert. Der austretende Saft wurde so zur Lake, nach einiger Zeit wurde umgestapelt. So zog die Salz-Gewürzmischung etwa 3 Wochen durch das Fleisch. Anschließend wurde alles abgespült, das Fleisch etwas gewässert, dann zum Trocknen aufgehängt. Das dauerte etwa einen Tag. Danach kam es in die Räucherkammer und wurde heiß geräuchert, meist nur 2-3 Stunden. Kalt geräuchertes, wie Schinken oder Salami dauerte deutlich länger und wurde zumeist mehrfach geräuchert und blieb hängen in der Räucherkammer.

Im nächsten Schritt wurden die gepöckelten und geräucherten Fleischstücken gekocht und angebraten. Das abfließende Fett wurde als Schmalz aufgefangen.

Wieder kamen Steintöpfe zum Einsatz. Alle waren peinlich sauber geschrubbt und wurden mit Schmalz ausgegossen, es befand sich also im Topf ein 1-2 cm dicke Schicht an den Wänden und dem Boden. Das Fleisch wurde Schicht um Schicht in den Topf gelegt und mit flüssigem Schmalz bedeckt. Es durfte nirgends Luft eingeschlossen werden, da hier das Fleisch zu schimmeln beginnt. Obenauf ein dicker Abschluss aus Schmalz, dann wurde der Topf mit Deckel zugebunden und kam in den Keller. So konnte das Fleisch durchaus bis zu einem halben Jahr stehen.

Wenn Gehacktes verarbeitet wurde, haben sie es ebenfalls für ein paar Tage roh in Schmalz eingegossen und in den Keller gestellt, so konnte es nach und nach verarbeitet werden. In der Regel wurde es eingeweckt.

Uns mag das heute abenteuerlich erscheinen, aber man hatte früher wenig Möglichkeiten, seine Nahrung zu konservieren und für den Transport war diese Methode sehr geeignet, zudem waren die Winter in Bessarabien ungleich kälter als in Deutschland, so war der Keller der beste Kühl- gar Gefrierschrank.

Anfang bis Mitte Oktober 1940 hatten auch die zurückgebliebenen Männer in Marienfeld ihre Pferdegespanne beladen und machten sich mit zwei Stopps in Jekaterinovka und Albota auf den Weg nach Galatz.

Dort nahm man ihnen allerdings die Pferdegespanne, einschließlich aller aufgeladener Güter, ab. Ihre ganze Mühe war umsonst.

Nach einer Woche Lageraufenthalt nahmen sie den Reiseweg ihrer Familien und kamen von Wien aus in das Auffanglager Kremsmünster in Österreich. Erst von dort wurden sie auf die Lager verteilt, in denen ihre Familien untergebracht waren.

Unter den im Schloss Waxenberg befindlichen Marienfeldern waren auch die Familie Samuel Grieb, denen ein Kind hier geboren und getauft wurde und die Familie Jacob Beierle, die später nach Amerika auswanderte..

Der 8. Brief Weihnachten 19403 berichtete erneut aus Waxenberg an die Front:

Es ist nicht immer leicht, von der engsten Heimat Neuigkeiten zu berichten, doch einiges gibt es auch diesmal wieder zu erzählen. Wie Euch bekannt ist, sind im Schloss Warenberg zirka 450 Volksdeutsche aus Bessarabien vorläufig über den Winter einquartiert. Es gelang der Gemeinde bereits, einem Teil der Männer entsprechende Arbeitsstellen zuzuweisen, so dass sie nun zum Unterhalt ihrer Familien schon selbst zum Teil beitragen können. Es sind meist recht kinderreiche Familien, durchwegs willige und fleißige Arbeitskräfte, die überall zupacken. Und Arbeit gibt es trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit bei uns immer noch genug. So wird zum Beispiel derzeit die Wasserzuleitung zu unserem Marktbrunnen repariert. Eine Steinquetsche steht ferner zum Gaudium unserer Schuljugend hinter dem Schulhaus in Betrieb. Auch unsere Schuljugend zeigt wieder ihren bewährten Sinn für Arbeitseinsatz in jeder Form. So werden derzeit für die Kinder der Bessarabien Deutschen zirka 150 Stück Spielwaren als Weihnachtsgeschenk in gar vielen Bastelstunden hergestellt. Da geht’s oft recht lustig zu. Autos, Puppenküchen, Bettchen, Wiegen, Hampelmänner, Schlachtschiffe, Flieger, und vor allem Puppen entstehen in Serienerzeugung.

Aus dem Umsiedlerlager Waxenberg

Umsiedlerlager Waxenberg 1940

Aus dem Umsiedlerlager Waxenberg

9. Brief – Jänner Februar 19413 

Für die Bessaraber, die auf ihrer Zwischenstation in Wagenberg das Weihnachtsfest im Lager feiern mussten, wurde alles getan, was in unseren Kräften stand. Die Schulkinder von Oberneukirchen haben in mühseliger Arbeit einen vollen Monat gebastelt, so dass mit Hilfe der NSV ein reicher Gabentisch gedeckt werden konnte.

10. Brief – März 19413 

Liebe Soldaten- Für diesmal gibt es in unserem Ort fast keine Neuigkeiten. Trotzdem sich die Sonne nach Kräften bemüht, uns zu helfen, umgeben uns noch unwahrscheinlich große Schneemassen nur mit dem Unterschied, dass das blendende Weiß der Gegend einem unfreundlichen, schmutzigen Grau gewichen ist. Wir sind dabei, die Straße Oberneukirchen-Waxenberg-Traberg frei zu legen, und wenn auch noch Schneepflüge mit Raupen helfen, hoffen wir doch, den Frühling auch in unserem Land mit Gewalt auf die Beine zu bringen.

Eine besondere Belebung erfährt Oberneukirchen durch den ständigen Besuch aus dem Umsiedlerlager in Waxenberg, dessen 450 Einwohner sowohl der Gemeinde, als auch dem Standesamt ständig zu tun geben.

11. Brief – April 19413 

Liebe Soldaten! Die Heimat grüßt Euch. Endlich ist der harte Winter, der heuer besonders grimmig sich zeigte, gewichen, und sonnige Tage lassen uns den Frühling ahnen. Noch verunzieren allerdings schmutzige, oft meterhohe Schneehaufen den lieben Markt, doch Straßen und Wege sind schneefrei. Ab 9. März verkehrt endlich das Helfenberger Auto wieder nach langer Winterpause.

Fleischhauer Dunzendorfer hat zum Leidwesen der „Sonntag=Bürgertag=Besucher“ das Gastgewerbe aufgeben. Das Gasthaus Kafka hat einen neuen Pächter aus Enns bekommen.

12. Brief – Mai Juni 19413 

An Ortsneuigkeiten gibt es diesmal nicht viel zu berichten.

Am 1. Mai setzte die Jugend den üblichen Maibaum an der Stelle, wo früher das »Park-Bründel« stand; dieses und der Park sind verschwunden Letzterer harrt einer neuen, schöneren Wiederanlage.

Im Bessarabienlager in Waxenberg erweckte das „Eierlesen“ viel Heiterkeit

Für die Marienfelder sollte sich die Zeit des Lagerlebens in Waxenberg nach etwa eineinhalb Jahren dem Ende zuneigen. Nachdem sie ihre Einbürgerungsunterlagen erhielte und nun offiziell „Deutsche“ waren, wurde ihre Ansiedlung auf Bauernhöfe in Polen vorbereitet.

Marienfelder Senioren 1941, links mit der Knickerbockerhose Lagerleiter Führlinger, ganz rechts Andreas Schaal (1879-1966), 5. von rechts Andreas Kraft (1873-1967)2)

Herr H. Grieb, im Lager Waxenberg geboren, hat 2006 den Ort und Herrn Wimmer besucht und einiges aus Familienerzählungen berichtet, Herr Wimmer schreibt am Heimatbuch Waxenberg und betreut zudem das Online-Archiv Waxenberg. Wer zu Waxenberg noch weitere Informationen und Familienerinnerungen teilen kann, den bitte ich, sich an Herrn Wimmer zu wenden.

Im Jahre 1942 zogen neue Bewohner in das Lager ein.

14. Brief – September Oktober 19413 

Eine Schar Holländer-Kinder, welche zu einem sechswöchigen Aufenthalt teils bei Eckerstorfer in Oberneukirchen, teils bei Rader in Waxenberg lagermäßig untergebracht waren, wurden dieser Tage vom Ortsgruppenleiter in ihre Heimat zurückgebracht.

19. Brief – Juli August 19423 

Die Erdäpfel, Kraut und Rüben sind auch recht schön. Obst zeigt sich auch so halbwegs eins. Und die Froschau hat Menschenzustrom wie ein kleiner Wallfahrtsort, da es ja heuer mehr Kirsche dort gibt als in vergangenen Jahren. Nur bei manchem Haus werden die ,,Kerschenbrocker vermisst. Sie stehen als Soldaten im Osten.

Denkt Euch; die ersten Ukrainer Landarbeiter sind eingetroffen. Es sind lauter Ehepaare, die wir haben. Wie sie bei der Arbeit sind, kann ich Euch noch nicht sagen, da sie erst ein paar Tage hier sind.

Leihvertrag Kindergarten und Schulgebäude 1943 3)

25. Brief – Juli August 19433 

…das Land zu gehen und die Haferfelder anzusehen. Trotz des Leutemangels ist die Heuernte eigentlich sehr rasch eingebracht worden. Es hat alles, ob klein-, groß, Jung und Alt, fleißig mitgeholfen. Die Frauen aus den Westgebieten haben zum Teil sehr stramm mitgeholfen und werden uns auch bei weiteren Ernten sicherlich gern mithelfen.

In unsere Ortsgruppe sind schon über 130 Volksgenossen aus Westdeutschland gekommen Obwohl sie sehr viel mitgemacht haben, haben sie eine stolze Haltung an den Tag gelegt Mancher kann sich da ein Beispiel nehmen.

26. Brief September/ Oktober 19433 

Am 31. Juli fand im Umsiedlerlager in Warenberg eine Namensgebung statt. Außer der Sippe nahmen auch Vertreter der volksdeutschen Mittelstelle und Ehrengäste der Partei und Gemeinde teil. Der Obersturmbannführer.

Die Arbeit beim Güterwegbau in Oberneukirchen (Mitterfeld) geht unentwegt vorwärts

29. Brief – März April 19443 

Liebe Soldaten! Die herzlichsten Grüße sendet Euch die Heimat. Der Winter hat zwar kalendermäßig sein Ende genommen, aber in Wirklichkeit denkt er noch an dein Gehen. Diese Schneemassen hat Oberneukirchen mehrere Jahrzehnte nicht gesehen. Seit drei Wochen verkehrt bei uns kein Auto (Die Post wird wieder wie zu Zeiten des alten Vrenner von ZwettI geholt).

Seit einigen Tagen können doch die Fuhrwerke wieder fahren. Zwettl ist seit Wochen der Umschlagplatz von Waren, Lebensmittel und Kohlen. Der Postkraftwagen wird kaum vor Mitte April verkehren können. Nun könnt Ihr Euch ein Bild von diesem Winterende machen. hoffen wir, dass ein gutes Jahr für die Feldfrüchte folgen wird, an Feuchtigkeit für die Wiesen und Felder fehlt es nicht, nur die liebe Sonne muss ums viele warme Tage bescheren, dann ist auch in diesem Jahr für Ernährung wieder gesorgt Die Arbeiten werden durch den Einsatz aller verfügbaren Arbeitskräfte geschafft werden.

32. Brief – September Oktober 19443 

Die Gauwehrmannschaften hielten am Sonntag den 17. September auf der Schießstätte in Waxenberg ein Schießen ab.

Aber in diesem Jahre denkt nicht nur ihr Söhne unserer Heimat unser liebes Oberneukichen. Mit euch gehen die Gedanken vieler Kameraden aus den Städten der Ostmark und der des Altreichs, die ihre Frauen und Kinder zu uns in Sicherheit brachten. Mit Euch gehen jetzt auch die Herzen der Siebenbürger SS-Kameraden, deren Familien in Gedanken sich bei einem Muehlviertler Fichtenbäumchen kreuzen. Ihnen allen aber, die Haus und Hof verloren haben, wollen wir zeigen, dass sie nie heimatlos sein können, solange es ein Deutschland gibt.  Unsere Herzen aber sind immer bei Euch. Ihr kämpft für uns, wir arbeiten für Euch, damit wir uns am Ende den Sieg des Vaterlandes verdienen.

33. Brief – November Dezember 19443 

Der Volkssturm unserer Ortsgruppe zählt 256 Mann, welche in den Wintermonaten ihre militärische Ausbildung erhalten. Am Montag den 13. November kam hier der erste Treck Siebenbürger Deutschen mit Pferd und Wagen an und wurden vorläufig in die Auffanglagern bei Eckerstorfer und in zwei Klassen der Volksschule gegeben. Diese Woche werden sie in die Quartiere eingeführt. Es sind durchwegs Bauern, große stattliche Menschen heute, Sonntag-, konnten sich die Frauen in ihrer malerischen Tracht sehen lassen. Die meisten Männer müssen in nächster Zeit zur SS einrücken.

Belegungstandsmeldung des Lagers 1944-1945 3)


1 Wikimedia, Luckyprof Luckyprof (talk) 08:04, 30 April 2013 (UTC) – Schloss Waxenberg, selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0

2 Foto (p. 111) aus: Marienfeld, Kreis Bender – Bessarabien 1910-1940
Zusammengestellt von Artur Schaible, Kreisamtsrat a. D.
Herausgeber: Christian Fiess, Vorsitzender des Heimatmuseums der Deutschen aus Bessarabien e. V., 1990

3 von mir nachbearbeitete Dokumententexte und Zeitungsartikel mit freundlicher Überlassung durch Herrn Friedrich Wimmer, Waxenberg. Autor von „Waxenberg hat Geschichte – hat Kultur“, Waxenberg 2008, 104 S. (Gem. Oberneukirchen)

Karl Schmidt – Kischinew

Da auf dieser Briefmarke 1 der Bürgermeister von Kischinew gewürdigt werden sollte und es mich neugierig machte, wer er war, stellt sich mir inzwischen die Frage, ob es nicht zu einer Verwechslung der Personen auf der Marke kam.


Zunächst jedoch – wer war Karl Schmidt?

Geboren wurde er als Carl Ferdinand Alexander Schmidt am 25. Juni 1846 in Belz (Bel’tsy). Sein Vater war Dr. med. Alexander Christoph von Schmidt (26.8.1805 Riga-7.11.1886 Kischinew) – Arzt I. Klasse, Operateur der Bessarabischen Medicinal-Verwaltung, Hofrat, Stabsarzt und Sohn des Maurermeisters Carl Friedrich Schmidt aus Riga2. Seine Mutter war Teresia Iosifowna Tysskaja, Tochter eines polnischen Arztes.

Das Familienbuch von Kischinew gibt zudem noch eine Bruder Woldemar (Wladimir Iosif) an, der um 1845 geboren wurde und 1870 ertrunken sein soll.

Schmidt´s Vater hatte 1825-1829 in Dorpat studiert und wurde auf Grund seiner späteren Leistungen am 21.9. 1883 in den Adelsstand erhoben.

Carl Ferdinand Alexander Schmidt, Untersuchungsrichter – Kollegiums – Sekretär, ehelichte am 31.12.1874 in Kischinew Maria Iwanowna Kristi, Tochter des Gutsbesitzers Johann Kristi und der Alexandra geb. Nielielow aus Telesheu.

Aus dieser Ehe gingen die Kinder Alexander (1874-1954), Vladimir (1878-1938), Maria (*1880) und Tatiana (1881-1945) hervor.


Nachdem der Kischinewer Bürgermeister und Schwager Schmidt´s, Cliementie Sumanschi, überraschend bei einer Brandkatastrophe ums Leben kam, wurde Karl Schmidt im selben Jahr zum Bürgermeister gewählt und blieb es bis 1903. Sein Einfluss auf die Entwicklung und Ausgestaltung der Stadt durch Förderung einer regen Bautätigkeit ist noch heute unübersehbar.

Zu seine größten Projekten gehörte die öffentliche Wasserversorgung und Kanalisation. Als erstes öffentliches Verkehrsmittel wurde eine Pferdebahn eingerichtet, die an einen privaten Unternehmer vergeben wurde. Die Straßen wurden gepflastert und für die Pflege der öffentlichen Parks  wurde Franz Kühn als Stadtgärtner eingestellt.

Альбома Городских Голов Российской Империи. 1903 г.3
Alexander Bernadazzi

Zusammen mit seinem Freund Alexander Bernadazzi und dem Stadtarchitekten Leopold Scheidewandt wurde eine Bauordnung erlassen, sie regelte die Hausgröße im Verhältnis zur Straßenbreite, den Abstand der Bauten, die Größe der Höfe, die Tiefe der Kellergeschosse, die zu verwendenen Baustoffe und mehr.

Schmidt war stetig unterwegs und überprüfte persönlich jedes neue Gebäude, das sich im Bau befand. Allein 1886 wurden 61 Neubauten geplant.

Natürlich wurde nicht alles, was angedacht wurde, auch umgesetzt.  Die Duma umfasste damals wohlhabende Leute, vor allem Geschäftsleute. Sie hatten ihre eigenen Interessen. Stimmberechtigt waren nur diejenigen, deren Haus mehr als 1000 Rubel kostete. Bürgermeister Schmidt hatte zu diesem Zeitpunkt kein Eigentum, daher stimmte er durch einen Bevollmächtigten ab und wies auf das Eigentum seines Vaters hin. Dessen Haus befand sich in der Mitropolit Varlaam, 84 (colţ str. M. Eminescu).

Zu den heute noch vorhandenen Gebäuden gehört der Wasserturm, einst als Zwillingsturm angelegt, wurde einer im zwanzigsten Jahrhundert gesprengt.

Quelle: oldchisinau.com

Bereits 1877 wurde das neue Rathaus errichtet, das neue Wappen von Chisinau 1878 genehmigt. Es entstanden zwischen 1877 und 1881 Häuser für Behinderte, eine Kirche (1880), die Handwerksschule, die Alexander-Realschule (1881), eine Kapelle zu Ehren der bulgarischen Miliz (1881-1882), ein
Kinderkrankenhaus (1884) und das
Denkmal für Puschkin (1885). Die Stadtduma genehmigte dafür 1000 Rubel. Es entstanden eine Schule und Straßenbeleuchtung (1886), das Museum für Geschichte der Region und die Pferdebahn, es erfolgte der Wechsel der Turmuhr auf dem Triumphbogen (1889). Die Obstbauschule – spätere Weinbauschule – erbaut (1890),  die Kirche des St. Panteleimon (1891) und die Uhr auf dem Narthex der Chuflin Kirche, am Eingang zum Rathaus und Mariä Himmelfahrt, sowie der erste Teil der Stadtwasserversorgung (1892). Eine Wasserversorgungsstation (1893) und die Psychiatrische Klinik (1893-1895). Man sorgte für Zeichenkurse der Studenten und gründete den Musikverein „Harmonia“, erbaute die Städtische Kunstschule (1894), sowie die Kapelle des Gymnasiums und die Kapelle der griechischen Gesellschaft (1895). Eine Handelsschule wurde durch Schmid 1899 gegründet.

Bis 1903 entstand so eine repräsentative Provinzmetropole mit zahlreichen prachtvollen Bauten, obwohl in der Stadtkasse ständiger Geldmangel herrschte. Als Vorsitzender der Stadtbank versuchte Schmidt sogar, die Schuldenlast abzubauen, indem er nach dem Vorbild von Warschau die Neuregelung der Immobiliensteuer und die Besteuerung von auf Straßenland abgestellten Baustoffen regelte.

Besondere Aufmerksamkeit widmete Schmidt dem Gesundheitswesen, der Armenhilfe und der Volksbildung. Das 1891 eröffnete Krankenhaus für Infektionskrankheiten führte Behandlung kostenlos durch und ließ Arzneimittel an Arme gratis ausgegeben. Auf eigene Kosten baute er u.a. ein Haus für die Armenspeisung. 

Auch an der kulturellen Entwicklung der Stadt nahm Karl Schmidt regen Anteil. Eine besondere Vorliebe hegte er für die Musik, sein Traum war die Eröffnung eines Operntheaters wie in Odessa.

1901 wurde Schmidt zum letzten Mal zum Stadtoberhaupt gewählt. Jedoch mehrten sich die Stimmen, das sein Alter bereits bedenklich war.


Pawel Alexandrowitsch Kruschewan (1860-1909)

1897 wurde in der Stadt die russische Tageszeitung Бессарабец (Bessarabetz – der Bessarabier) durch den Journalisten Kruschewan gegründet. Sie hetzte offen mit antisemitische Schlagzeilen und propagierte, welche „Blutsauger, Parasiten, Ausbeuter und Betrüger“ die christliche Einwohnerschaft unter sich hätte. Unmerklich änderte sich die Stimmung in der Stadt. Dazu sollte man wissen, der Anteil der Juden in Chișinău (ca. 110.000 Einwohner) betrug im Jahr 1903 etwa 46%.

Dann begann die „Ritualmord“ Hetze.

Der christliche Junge Mikhail Rybachenko wurde etwa 40 Kilometer nördlich von Kischinew in Dubăsari in einem Brunnen tot aufgefunden. Die Zeitung Бессарабец verbreitete das Gerücht, der Junge wäre zu einem rituellen Zweck getötet worden und anschließend hätte man seine Leiche in den Brunnen geworfen. Sie forderte „Tod allen Juden!“ und „Kreuzzug gegen die verhasste Rasse!“. Das tatsächlich ein Christ diesen Mord begangen hatte, nahm niemand mehr wahr. Auch die durch die Regierung veranlasste Berichtigung in der Бессарабец änderte an der inzwischen aufgeheizten Stimmung nichts mehr.

Kurz darauf verstarb ein christliches Mädchen, welches Dienstmädchen bei einem jüdischen Kaufmann war. Der Kaufmann hatte nachts ihr schmerzvolles Stöhnen gehört und ließ sie, den Ernst der Lage erkennend, umgehende in das am nächsten liegende Krankenhaus bringen. Sie verstarb jedoch in dem jüdischen Krankenhaus, hatte den Ärzten jedoch zuvor erklärt, das ihr Dienstherr unschuldig sei, sie Gift genommen hätte, da sie sich umbringen wollte.Trotzdem machte die Mär vom „Ritual vor Ostern“ die Runde.

Der Staatsrabbiner begab sich zum russisch-orthodoxe Bischof von Kischinew, jedoch war dieser inzwischen von Zweifeln behaftet. Auch der Vize-Gouverneur Ustrugow, Zensor, Projektor und Mitarbeiter des Бессарабец, angeklagt und vom Senat der üblen Hetze für schuldig bekfunden, machte weiter wie bisher: „Für Juden gibt es kein Gesetz, man kann mit ihn tun was man will.“

Zwei Wochen vor Ostern traf man sich im Hotel „Rossia“, der „Wohltätigkeitsverein“, bestehend aus der Intelligenz und Beamtenschaft hatte Gelder gesammelt. Diese wurden nun für den Kauf von Waffen und den Druck von Flugblättern verwendet: „Auf Grund eines Ukas des Zaren ist es den Christen während der drei heiligen Ostertage erlaubt, mit den Juden ein blutiges Gericht („Krowawaja rasprawa“) zu halten“ oder „Gottes Strafe gegen die Bilderfrevler !“, man fand als Unterzeichner „Moskau, im Hause des Klosters zum heil. Macarius, Grosse Lubianka – Strasse. Gedruckt durch das Beichtkomitee des Heiligen Synods zu Petersburg, am 4. Februar 1903. Der Zensor: Alexander Jeremonach.“

Der Kischinewer Polizeimeister äußerte, in einigen Tagen werde man gegen die Juden losgehen. Einige Tage vor Ostern kam der Polizeikommissar Dobrosselski in die Zigarettenhandlung des Juden Bendersky und nahm 5 Rubel aus der Kasse. Der Jude sah verwundert diesem seltsamen Akt zu, da sagte der Kommissar : „So wie so werden wir zu Ostern alle Juden abschlachten“

In der Schenke „Moskwa“ war das Zentral-Agitationslokal. Ein Diener dieser Schenke, der Tausende Zettel verteilte, hatte später erzählt, dass er in einem Brief mit dem Tode bedroht worden sei, wenn er die Zettel nicht verteile.

Bedenken der jüdischen Bewohner wurden zerstreut, man hätte Vorkehrungen getroffen, sie sollen ruhig bleiben, während der Feiertage zu Hause bleiben, die Läden schließen und keinen Streit anfangen.

Die Nacht von Samstag (18. April 1903) auf Sonntag war finster und regnerisch. An jeder Ecke der äußeren Stadtstraßen stand ein Polizist. Sie sollten Fremde nicht in größerer Anzahl in die Stadt lassen, sie ließen natürlich scharenweise Fremde, vor allem Bauern, in die Stadt.

Am Sonntag Morgen dachte sich niemand etwas, man ging ganz normal in die Synagoge. Mittags überfiel plötzlich, ohne jeden Anlass, eine Gruppe Jugendlicher die ersten Juden. Sie liefen danach davon und begannen, die Fensterscheiben von Häusern und Läden einzuschlagen. Weil die Polizei sie nur verscheuchte und niemanden verhaftete, nahm man die Polizei nicht ernst.

Es war etwa 3 Uhr nachmittags, als plötzlich auf dem Platze Nowyi – Bazar ein Haufen von Männern in rote Hemden (Festkleidung der Arbeiter) erschien. Die Leute brüllten wie Besessene: „Tod den Juden ! Schlaget die Juden !“

Von der Schenke „Moskwa“ aus teilte sich dieser Mob von einigen Hundert in 24 Abteilungen zu etwa 10 bis 15 Mann. Nun begannen in 24 Teilen der Stadt systematische Plünderungen der jüdischen Häuser und Läden. Steine wurden in solcher Menge und mit solcher Wucht in die Häuser geworfen, dass man alles zertrümmerte. Türen und Fenster wurden heraus gerissen, alle Einrichtungen zerstört. Damen der „besten Gesellschaft“ nahmen Kleidungsstücke, zogen sich an Ort und Stelle seidene Mäntel an oder wickelten sich in kostbare Stoffe. Selbst die Polizei plünderte das Schuhwarenmagazin in der Gostinaja -Straße und stahl alle Stiefel.

Die Wut der Plünderer steigerte sich bis zur Raserei. Christlichen „Judenfreunden“ zerstörte man ebenfalls einzelne Häuser. Ironischer Weise wurde der Redaktion des Бессарабец und der Verwaltungskanzlei des Gouvernements ebenfalls einige Scheiben eingeschlagen.

Um 5 Uhr nachmittags gab es den ersten Mord an einem Juden. Man stürzte sich auf eine Pferdebahn, in der sich ein Jude befand, und rief: „Werft uns den Juden heraus !“ Der Jude wurde aus der Bahn geworfen und man gab ihm von allen Seiten so furchtbare Schläge auf den Kopf, dass der Schädel zerbrach und das Gehirn aus floss. Da die Polizei tatenlos zusah, riefen sie „Erschlaget die Juden!“. Gab es Versuche der Juden, sich zu wehren, wurden sie von der Polizei gehindert oder verhaftet.

Bis 10 Uhr nachts machten die Plünderer und Schläger in der Innenstadt weiter, es folgten in dieser Zeit sieben weitere Morde. Gegen 11 Uhr nachts waren in den Außenbezirken der Stadt noch einzelne Plünderungen zu vernehmen.

Unter der Leitung der Notare Pissarschewsky, Semigradow, Sinodino, Bolinsky, Popow und des Untersuchungsrichters Dawidowitsch wurde danach bis 3 Uhr nachts die Metzelei, die an den Juden vorgenommen werden sollte, geplant. Alle jüdischen Häuser wurden mit weißer Kreide markiert.

Mit Äxten, eisernen Stangen und Keulen bewaffnet, begannen die Schläger am Montag, den 20. April, von 3 Uhr nachts bis 8 Uhr abends zu plündern, rauben, zerstören, jüdisches Eigentum zu stehlen, zu brandschatzen,  vernichten, die jüdische Bevölkerung zu jagen, zu erschlagen, zu schänden und martern.

Alle Schichten der Bevölkerung waren dabei, auch Frauen, die in Banden von 10-20 Personen, aber auch 80-100, über ihre Opfer herfielen.

Männer wurden niedergeschlagen, schwer verwundet oder getötet. Frauen wurden vor den Augen der Männer und Kinder der Reihe nach von den Mördern vergewaltigt. Kindern wurden Arme und Beine ausgerissen oder gebrochen, einzelne wurden aus unteren Stockwerken in die oberen geschleppt und hinab geworfen. Manchmal ergriff man ein Kind und schlug es mit dem Kopf an die Wand, dass das Gehirn austrat.

Vierzig Juden liefen zum Gouverneur, das er doch etwas unternehmen soll, doch dieser erklärte, er hätte noch keine Befehle aus St. Petersburg hätte. Zugleich untersagte er der Telegrafenstation, private Telegramme aufzunehmen, die womöglich nach St. Petersburg gelangen könnten. Danach ließ er die Schutzsuchenden von seinem Hof jagen, wo sie unter seinen Fenstern auf der Straße erschlagen wurden.

Damit es keine Christen traf, gab die Polizei den Schlägern Anweisungen, welche Häuser die jüdischen waren.

Männern und Frauen schlitzte man den Bauch auf, riss die Eingeweide heraus und stopfte Federn hinein. Man sprang und tanzte auf den Leichen, brüllte und berauschte sich an Getränken, Männer und Frauen der sogenannten „besten Gesellschaft“, Beamte und Polizisten sahen lachend zu oder machten mit. Schwangere Frauen wurden mit Stöcken auf den Bauch geschlagen, bis sie an Verblutung starben. Einer schwangeren Frau schnitt man den Bauch auf, nahm das ungeborene Kind heraus und zertrat es mit den Füßen. Frauen wurden, nachdem sie vergewaltigt wurden, die Brüste abgeschnitten, kleine Mädchen wurden vergewaltigt, bis sie unter der Bestialität der Verrohten starben. Ein kleines neunjähriges Mädchen wurde nach der Vergewaltigung in zwei Teile gerissen. In einem Hause wurde die Mutter der Reihe nach von allen Banditen in Anwesenheit ihrer zwei kleinen Töchter vergewaltigt, worauf die Kinder angesichts der Mutter vergewaltigt wurden. Dann wurden sie in ein Schlachthaus getrieben, dort durch Beilhiebe getötet und dann aufgehängt.

Die Liste der Grausamkeiten war unendlich länger und lässt sich hier nicht aufzählen.

Chaja Sarah Panaschi, David Chariton, Jechiel Selzer, Benzion Galanter, Meyer Weissmann, Hirsch Lys, N. Uschemirsky, Hirsch Bolgar, einige wenige Opfer sind noch immer namentlich bekannt.

Wer glaubte, sich durch das Aufstellen eines christlichen Heiligenbildes im Fenster retten zu können, wurde denunziert, angebunden, Hände, Arme und Füße mit großen Nägeln durchbohrt, danach ermordet.

Unter all dieser Gewalt gab es trotz allem einige Christen, die sich menschlich verhielten. Ein Priester, dessen Sohn unter dem Mob war, dann Herr Nasarow, ein Mitarbeiter der Zeitung „Nowosti“, der beinahe selbst erschlagen worden wäre, Ingenieur Kusch, der Obmann eines Feuerwehrvereins, der mittels Feuerspritze ein paar Straßen säuberte.
Der Arzt Doroschewsky,  der Polizeikommissar des dritten Rayons, der in dem ihm unterstellten Bezirk alle jüdischen Häuser vor den Banditen
geschützt hatte. Hauptmann Michajlow, welcher mit seiner Kompanie aus Bendery nach Kischinew eilte, von seinem Oberkommandanten dafür eine Rüge wegen Disziplinarverstoßes bekam, dann jedoch durch Intervention des Oberkommandierenden des Odessaer Militärbezirkes Mussin-Puschkin in St. Petersburg eine Auszeichnung erhielt.

Aber auch der Bürgermeister von Kischinew, Alexander Schmidt, der Gouverneur und Vize-Gouverneur vergeblich aufforderte, etwas zu unternehmen, sowie der Adelsmarschall des Gouvernements Krupensky, durch dessen Hilfe von Bendery aus Montag früh der jüdische Doktor Mutschnik nach Petersburg die Geschehnisse telegrafieren konnte und der sein Haus als Lazarett für die verwundeten Juden zur Verfügung stellte.

Die „Times“ druckte am 7. April 1903 einen Brief ab:

Ministerium des Innern. Ministerialkanzlei.
N 341, den 25. März 1903.
Absolut geheim.

Dem Gouverneur von Bessarabien. Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, dass in dem Ihnen anvertrauten Gebiete Unruhen gegen die Juden vorbereitet werden, die ja hauptsächlich die einheimische Bevölkerung ausbeuten. Angesichts der allgemeinen Unruhe der städtischen Bevölkerung und angesichts dessen, dass es unerwünscht wäre, durch allzustrenge Massregeln gegen die Regierung gerichtete Gefühle in die noch nicht von der revolutionären Propaganda berührte Bevölkerung hineinzutragen, wird Ihre Exzellenz die sofortige Unterdrückung der vielleicht ausbrechenden Unruhen nicht durch Waffengewalt, sondern durch Ueberredungsmittel zu erreichen suchen.
Gezeichnet : Plehwe.

Vyacheslav Konstantinovich von Plehve (1846 – 1904)

Es wurde bewiesen, dass, so oft Plehwe im Ministerium war, Exzesse gegen die Juden, stattfanden, bei denen Plehwe die Hand im Spiel hatte. Kruschewan bekam von ihm für den Бессарабец 25.000 Rubel als Subvention. Durch Plehwe erhielt Kruschewan die sonst in Russland sehr schwer erhältliche Erlaubnis zur Gründung des Blattes „Znamja“ in Odessa. Als Kruschewan nochmals eine Subvention verlangte und Finanzminister Witte erklärte, diesen Posten nicht bewilligen zu können, verschaffte Plehwe ihm bei einer der Regierung unterstellten Bank einen hohen Kredit gegen dessen Solowechsel.

Endlich, Montag um 5 Uhr nachmittags, kam die Antwort des Ministers Plehwe, gegen 6 Uhr abends rückte dann Militär aus, die staatliche Gewalt wurde dem Militärkommandanten übergeben, die Lage in der Stadt beruhigte sich. Anrückende Plünderer des Umlandes wurden am Eindringen in die Stadt gehindert und nach Hause geschickt.

Die Bilanz dieser beiden  Ostertage:

An Ort und Stelle wurden 47 Menschen getötet, 437 verwundet, davon
92 schwer. Von diesen schwer verletzten erlagen viele ihren Verwundungen, unter den leichter verletzten erlitten viele lebenslängliche Verkrüppelungen. Es gab über 100 Waisen, 8.000 Familien, das waren rund 25.000 Menschen, wurden an den Bettelstab gebracht. Die Opfer des überwiegenden Teil der aller ärmsten Schichten der Bevölkerung beklagten zudem rund 10.000 Obdachlose. Der jüdische Mittelstand wurde weniger hart getroffen, fast unberührt blieben die reichen Juden.

Dazu kamen über 700 zerstörte Gebäude und etwa 600 geplünderte Geschäfte mit einem Schaden von umgerechnet 8.000.000 Mark (1903).

Im Ganzen verstarb unter Nichtjuden ein Zigeuner eines natürlichen Todes und ein junger Mann, der zum Ende der Exzesse während einer Rauferei erstochen wurde.

Es gab im Anschluss etwa 800 Verhaftungen, man ließ 150 am nächsten Tag aus „Mangel an Beweisen“ frei. Polizeimeister Chanschenkow verkündete: „Wer die bei den Juden geraubten Sachen und Waren während der nächsten zwei Tage zurückerstattet, wird nicht bestraft werden.“

Mit der Untersuchung wurde unter anderen der an den Ausschreitungen beteiligte Richter Davidowitsch betraut.

Am Tage nach den Exzessen erfolgte die erste „Großtat“ des Gouverneurs von Raaben. Er bewilligte gnädigst, dass dem eben organisierten Hilfskomitee der Damen vom Roten Kreuz 5000 Rubel zur Verfügung gestellt werden. Das Geld entnahm er der Koscherfleischtaxe, die von den Juden zur Deckung der laufenden jüdischen Bedürfnisse gezahlt wurde und ließ es auch für die Familien der verhafteten Exzedenten verwenden.

Der Militärkommandant von Kischinew, dem die jüdische Bevölkerung danken wollte, erklärte:

„Ich habe nur meine Pflicht getan. Ihr Juden aber sollt wissen, dass der Exzess, unter dem ihr jetzt gelitten habt, von Euch herrührt. Davon, dass Ihr die Bevölkerung jahrelang ausgebeutet habt, Schon jetzt nach dem Exzesse habt Ihr alle Preise der Waren in die Höhe getrieben.“

Diese Lüge fand bald ihren Weg in alle antisemitischen Blätter.

Der militärische Oberkommandierende des Odessaer Bezirkes, Graf Mussin – Puschkin schilderte die Geschehnisse in Kischinew als „die Taten von Wilden in den fernsten Teilen Afrikas“.

Gouverneur von Raaben wurde daraufhin seine Amtes enthoben und dem Ministerium des Inneren (Plehwe) zugeteilt.

Der bisherige Vice-Gouverneur Ustrugow, ein Antisemit und verstrickt in die Vorgänge, wurde makaberer Weise zum neuen Gouverneur ernannt.

Gnetschin und Marosjeik, zwei der Rädelsführer, wurden zu fünf bzw. sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, 22 Angeklagte erhielten Strafen von ein bis zwei Jahren, zwölf Angeklagte wurden frei gesprochen. 50 Schadensersatzklagen wurden abgewiesen.4


Bustul lui Carol Schmidt din fața Filarmonicii Naționale „Serghei Lunchevici“

Nach dem Juden-Pogrom am 19. April 1903, trat Carl Schmidt von seinem Amt zurück, entsetzt, zu welchen Ausschreitungen die Bürger seiner Stadt fähig waren.

Als Schmidt am 9. April 1928 starb, folgte man seinem Wunsch, kein großes Ehrenmal zu errichten und stellte nur ein einfaches Holzkreuz auf sein Grab.

Der lutherische Friedhof wurde in den 1950er Jahren eingeebnet, dort steht heute  das Kino „Gaudeamus“, jedoch wurde ihm ein Denkmal errichtet.

Soweit zu Karl Schmitd, dem Bürgermeister von Kischinew.


Und nun zurück zur Eingangsfrage – wer ist auf der Briefmarke ? Der Architekt Carl Emil Michael Schmidt ?


Carl Schmidt (1866-1945) im Jahre 1897

Am 21. Dezember 1866 wurde in St. Petersburg der Architekt Carl Emil Michael Schmidt geboren. Sein Vater, der Schiffsingenieur Karl Friedrich Adolf Ferdinand Schmidt (4.1.1834 Anklam – 27.3.1919 Stralsund) und seine Mutter Olga geb. Wenig (27.1.1844 – 18.11.1911 St. Petersburg) heirateten in St. Petersburg am 5.6.1864.

Carl Schmidt studierte an der St. Petersburger Akademie der Künste. Seine Villen und Häuser im Backsteinstil schmücken die Straßen von St. Petersburg.

Einige Beispiele:

Sterbeurkunde Nr. 236/1945

1897/98. Villa von V. Tiss. Sjezzhinskaya ul, 3
1897/99. Alexandra Asyl für Frauen. Bolshoy Prospekt V. O., 49-51
1899/1900. Gebäude der Firma Faberge. Bolshaya Morskaya ul., 24
1900/01. Villa und das Büro von Paul Forostovski. 4 liniya V. O., 9
1900/04. Eigene Villa in Pawlowsk. 2-ya Krasnoflotskaya ul., 7
1901/02. Mehrfamilienhaus. Chersonskaya ul., 13
1907. Neubau einer Mädchenschule von Emilie Schaffe. 5-ya liniya O. V., 16

Verehelicht war Carl Schmidt mit Erika Sophie Leon. Johannsen (1.2.1875 Tver – 16.6.1953 Potsdam) seit dem 9.11.1897 in Tver. Im Herbst 1918 musste die Familie Schmidt Russland verlassen und nach Deutschland zurückkehren.

Hier starb er am 8. August 1945 in Groß Ottersleben bei Magdeburg.


Entscheiden Sie selbst – wer ist auf der Briefmarke? Karl Schmidt, der Bürgermeister oder Carl Schmidt, der Architekt?



1 Ministére de la technologie de l’information et des communications Republique de Moldova – http://www.moldovastamps.org/catalogue_stamps_issue.asp?issueID=2050&lang=En, public Domain

2 Album der Landsleute der Fraternitas Rigensis 1823-1887; Riga 1888; Ernst Plates Buchdruckerei, Lithographie und Schriftgiesserei bei der Petri-Kirche, im eigenen Hause. S. 17

3Альбом Городских Голов Российской Империи 1903 г.

4Nachrichten Herold, Sioux-Falls, Süd-Dakota, 31.12.1903

Fotos Kischinew aus: Berthold Feiwel: Die Judenmassacres in Kischinew von Told. Mit einem Weiheblatt von E. M. Lilien und Illustrationen. Juedischer Verlag Berlin SW. 47; 1903

E. Vogt, B. M. Kirikov. Architekt Karl Schmidt: Leben und Werk. St. Petersburg, 2011.

Voigt E., Heidebrecht H. Carl Schmidt. Ein Architekt in St. Petersburg. 1866—1945. Augsburg, 2007.

alle weiteren unbezeichneten Fotos: Wikipedia, public domain

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