Von Dr. Wolfgang Treutlein


Knapp 100 Jahre, nachdem Fürstenlaune Schloß und Stadt Karlsruhe inmitten des Hardtwaldes hatte entstehen lassen, wurde viele tausend Kilometer vom badischen Heimatland entfernt ein zweites Karlsruhe gegründet. – Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die napoleonischen Kriege und Erpressungen in der deutschen Südwestmark bei vielen Bauern und Handwerkern den Entschluß reifen lassen, all der Not und Bedrückung durch Auswanderung zu entrinnen und sich in fremdem Land eine neue Heimat zu suchen. Als damals der Zar Alexander I. im Jahre 1804 einen Ukas erließ, in dem er deutsche Kolonisten zur Urbarmachung und Besiedlung der südrussischen Schwarzmeerprovinzen, die der Fürst Potemkin 1791 der Gewalt der Türken entrissen hatte, aufforderte, fiel dieser Aufruf deshalb in ganz Südwestdeutschland, in Nordbaden, Nordelsaß und der Südpfalz auf fruchtbaren Boden.

Scharenweise strömten trotz allen landesherrlichen Verboten die gequälten und durch fortdauernde Kriege und Einquartierungslasten verarmten Bewohner dieser Landschaften zusammen, um diesem verlockenden Ruf nach dem fernen Südrußland Folge zu leisten. Zu Fuß und zu Wagen ging es im Jahre 1808 donauabwärts bis Lauingen, von dort zu Schiff an Wien vorüber weiter durch Galizien bis zur russischen Grenzstadt Radziwilow. Dort wurde ein Monat lang gerastet, und dann der Weitermarsch nach den seit ungefähr 5 Jahren bei Odessa bereits bestehenden Liebentaler deutschen Kolonien angetreten, wo die Auswanderer den Winter über bei ihren Landsleuten Unterkunft fanden.

Den Kolonisten, die in Landwirtschaft und Handwerk erfahren sein mußten, – denn der Zar wollte von den Deutschen landwirtschaftliche Musterbetriebe als Vorbilder für seine Untertanen errichten lassen -, waren für sich und ihre „Nachkommen nicht geringe Versprechungen gemacht worden: Dauernde Befreiung vom Militär- und Zivildienst und von jeglicher Leibeigenschaft, Religionsfreiheit, Handel- und Gewerbefreiheit in ganz Rußland, Zollfreiheit bei der Einwanderung für Hausrat und Waren im Werte von 300 Rubeln. 10 Jahre Abgabenfreiheit und nach dieser Zeit Gleichstellung mit den russisch-kaiserlichen Untertanen“, Gewährung von Einrichtungszuschüssen, die vom 11. Kolonistenjahr an rückzahlbar waren, und vieles andere mehr. Jeder Ansiedler sollte 30-80 Deßjätinen (1 Deßjätine = 1.0925 Hektar) Land zur Bebauung erhalten, außerdem erhielt jeder Ansiedler von der russischen Grenze an in der ersten Zeit auf jeden Kopf seiner Familie ein Tagegeld von 10 Kopeken, dazu 100 Rubel zur Anschaffung von Zugvieh und Wagen und 35 Rubel zum Kauf einer Kuh, ferner in den meisten Fällen noch Hausgeräte.

Am 6. April 1809 brachen die deutschen Kolonisten unter Führung der deutschen Oberschulzen Franz Brittner aus den Liebentaler Kolonien auf, um von ihrem Neuland Besitz zu nehmen, das die russische Regierung am Flusse Beresan von einem Gutsbesizer Petro erworben Hier erlebten die Kolonisten sogleich eine bittere Enttäuschung: Von den versprochenen fertigen Häusern ihrer Kolonien war nichts zu sehen, nur einige Stapel Bretter und Balken kennzeichneten die Plätze, wo die Kolonien entstehen sollten. Die russische Regierung zeigte sich einer derartig umfangreichen Siedlungsaufgabe in keiner Weise gewachsen. Doch die deutschen Ansiedler verzagten nicht. Mit zähem Fleiß und unbeugsamem Willen bauten sie ihre Dörfer aus eigener Kraft. Krankheiten, die das ungewohnte Klima verursachte, und Ueberfälle räuberischer Kosakenbanden rafften wohl manchen Kolonisten allzu früh hinweg, aber die überlebenden Deutschen ließen sich durch all diese Schicksalsschläge nicht beirren. Das Land wurde gerodet und urbar gemacht, und schon nach einigen Jahrzehnten erhoben sich aus der ehedem unfruchtbaren Steppe Südrußlands blühende deutsche Dörfer inmitten fruchtbarer Gärten und Felder.

Das von der Krone den Ansiedlern verliehene Land gehörte der Gemeinde, die allein das Verfügungsrecht darüber besaß und die auf diese Weise auch darüber wachte, daß die Kolonien sich inmitten der mannigfachen Völkerschaften rein deutsch erhielten. Die Gemeinde wurde geleitet vom deutshen Dorfschulzen, von deutschen Richtern und Schreibern, und eine Anzahl deutscher Dörfer war jeweils zu einer Gebiets-(Wolost-) Verwaltung unter der Leitung einer selbstgewählten deutschen Oberschulzen zufammengefaßt, dem auch die eigene Gerichtsbarkeit im Wolostgericht unterstand.

Die Dörfer führten ihre Namen nach den Hauptstädten und Dörfern der alten südwestdeutschen Heimat: München, Rastatt, Karlsruhe, Speyer, Landau, Sulz, Worms und Rohrbach. Eines dieser Dörfer, die Namensschwester der badischen Landeshauptstadt Karlsruhe, wurde im Jahre 1810 in einem Seitental des Beresan, im Fuchstal (Leisitzaja Balka) angelegt. Es umfaßte 100 Jahre später im Jahre 1910 insgesamt 121 Hofstellen mit 1875 Seelen und besaß neben einer Gemeindeschule mit 8 Lehrern und 180 Kindern ein Progymnasium mit 220 Schülern und ein Waisenhaus. In dieser Kolonie Karlsruhe waren die verschiedenartigsten Handwerkszweige vertreten, auch einr Dampfmühle und verschiedene Windmühlen hatte der Ort aufzuweisen. Rings um das Dorf Karlsruhe, das von der 1884 im neugotischen Stil erbauten katholischen Kirche überragt wurde, dehnten sich blühende Obstgärten und Felder, Wald und sogar Weinberge, so daß es dort „Karlsruher Wein“ gab. Manche der deutschen Kolonisten hatten sich im Laufe der Zeit dass Fünfzigfache an Land zu dem Boden hinzuerworben, den ihnen der Zar verliehen hatte. Deutscher Fleiß und deutshe Tüchtigkeit hatten im Laufe eines Jahrhunderts in der Kolonie Karlsruhe ein reiches Gemeinwesen an einem Platze hervorgezaubert, an dem bei der Ankunft der Kolonisten nur zwei hohe schattenspendende Bäume gestanden hatten.

Es ist nun freilich nicht so, als ob sich in der Kolonie Karlsruhe vorwiegend Ausswanderer aus der badische Landeshauptstadt angesiedelt hätten. Für den ganzen Beresaner Kolonistenbezirk wird im Gegenteil in einem Verzeichnis, das der verdiente Erforscher des Deutschtums im Schwarzmeergebiet. P. C. Keller im „Deutschen Volkskalender auf das Jahr 1910“ (Odessa) gibt, – dem allerdings nur die katholischen Ansiedler berücksichtigt sind, – nur ein Ansiedler Albert Schnell in der Kolonie München genannt, der aus Karlsruhe im Großherzogtum Baden stammt. Die Kolonie Karlsruhe erhielt ihren Namen von den Badenern unter den ersten Kolonisten zum Andenken an die Landeshauptstadt der alten Heimat. P. C. Keller nennt als erste Ansiedler der Kolonie Karlsruhe 71 katholische Familien, von denen 49
aus Baden, 26 aus der Pfalz und 3 aus dem Elsaß stammen sollen. Nach den von ihm angegebenen Herkunftsorten stammen allerdings zwei Drittel der ersten Karlsruher Kolonisten aus der Pfalz (aus den Aemtern Landau, Germersheim, Bergzabern und Speyer), der Rest aus Baden (vor allem aus den Aemtern Rastätt, Ettlingen, Bruchsal, Heidelberg, Mannheim und Freiburg), aus dem Elsaß (Kreis Weißenburg und Hagenau, aus Hessen, Oesterreich usw.

An Familiennamen der badischen Kolonisten finden sich in diesem Verzeichnis von 1812 unter anderen folgende Namen: Förderer, Ily, Rastädter und Reisenauer aus Malsch bei Ettlingen, Höpfner aus Ettlingen, Kimmel aus Steinmauern, Bichler aus Obertsrot, Reuter aus Sulzbach, Weingertner auss Jöhlingen, Nagl aus Seckenheim bei Mannheim, Taffelt aus Ziegelhausen bei Heidelberg, Schwerer aus Freiburg, Drescher aus Zähringen bei Freiburg und manch anderer heute noch in Baden heimische Name.

So haben sich Familien aus der ganzen deutschen Südwestmark im fernen Südrußland zu gemeinsamer deutscher Kulturarbeit zusammengefunden und haben in fremdem Land eine neue Heimat geschaffen. Ueber all die Zeugnisse ihres unermüdlichen Fleißes und ihre Erfolge ist nun seit 2 Jahrzehnten die Schreckensherrschaft des Bolschewismus hereingebrochen (Karlsruhe gehört heute zum Rayon Karl Liebknecht), und wohl niemand kann heute mit Sicherheit sagen, wie die Nachkommen unserer Landsleute in der Kolonie Karlsruhe und in den anderen Dörfern des Beresaner Kolonistenbezirks ihr Leben fristen. Augenblicklich erfahren wir wieder von verzweifelten Aufständen in diesem südrussischen Gebiet gegen die irrsinnigen Zwangsmaßnahmen der Sowjets, die aus diesen blühenden Bauerndörfern Stätten des Elends und der grausigsten Not gemacht haben.

Unvergessen wird aber in der Geschichte der deutschen Auswanderung und der deutschen Kulturleistung im Ausland bleiben, daß die rund 60 000 Kolonisten, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in die weiten Steppen Südrußlands eingeströmt sind, dem russishen Reiche nicht weniger als 650 000 Hektar Steppenboden in fruchtbares Acker- und Gartenland verwandelt haben. Auch hier deutsche Leistung und Schicksal in der Fremde!


aus: „Heimat und Volkstum“, DAI Mikrofilm 007953036, Deutsche Dörfer in Russland, 1938