Unter den ersten Ansiedlern gab es Handwerker aller Art, Kaufleute, Künstler, Gelehrte, Standespersonen, sogar einen Graf Dönhof aus Berlin, welcher bereits schon früher nach Russland kam und sich nun in Oranienbaum den Ansiedlern angeschlossen hatte und in der heutigen Kolonie Dönhof – nach seinem Namen benannt – niederliess. Dönhof wird im Russischen Golobowka genannt. Graf Dönhof war der einzige Kolonist, welcher die russische Sprache einigermassen verstand u. Von einem tüchtigen Pastor Dönhof in Dönhof wird noch heute viel gesprochen, welcher vielleicht ein Nachkomme des Grafen gewesen ist. Pastor Dönhof starb etwa 1864.

Nur der bei weitem kleinere Teil der Einwanderer bestand aus eigentlichen Ackerbauern, welche in der neuen Heimat die Stelle der Lehrmeister vertreten mussten. Wohl wird man auch zugeben müssen, dass die Mehrzahl der Einwandere arm war und viele sogar sogar (sic!) gänzlich mittellos waren; doch sind auch Beispiele vorhanden, dass manche derselben bei ihrer Ankunft in Russland über namhafte Kapitalien verfügten, andere aber in der Folge noch bedeutende Erbschaften aus dem Auslande erhielten.

Da mein ältester Sohn Theophil Kromm die „Geschichte der deutschen Ansiedler an der Wolga“ seit ihrer Einwanderung nach Russland, bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1766-1874) von „Gottlieb Bauer“ an unseren lieben Verwandten (Herrn Heinrich Arcularius) in Schotten gesandt hat, so werde ich mich von nun an hauptsächlich nur mit den diesbezüglichen Daten aus Jagodnaja-Poljana und Umgegend, sowie mit unserer der lieben und hochgeschätzten Verwandtschaft in Schotten als auch mit der dortigen, sehr ausgedehnten Umgebung befassen, da die meisten der hiesigen Einwohner doch nicht aus Schotten selbst, – wie ich früher wähnte – sondern meist aus dem Gebiete Niddas und überhaupt aus der Nähe von Schotten und der ganzen dortigen Umgegend, aus dem Hessen-Darmstädtischen Gebiet – herstammen. Ein gegen Ende dieser genealogischen Zusammenstellung beigefügtes Familienregister aller hiesigen Einwohner, welche einst waren und jetzt sind, wird alles Nähere klarer und deutlicher ergeben.

Aber auch. unserer hier wohnenden und von Jeruslan, Gouvernement Samara und in Nord-Amerika sich aufhaltenden Verwandten, wird soviel als möglich pünktlich in dieser Genealogie Erwähnung getan werden und noch darüber, was nicht eigentlich zu einer genealogischen Zusammenstellung  gehört.

Offenbar sind unsere Jagodna-Poljaner damals mit der ersten Partie den direkten Weg über Nowgorod, Twer, Moskau, Rjäsan und Pensa bis in die Kreisstadt Petrowsk – nach Peter dem Grossen also genannt – gereist, wo sie überwinterten; jedoch ist damit Petrowsk nicht allein gemeint, sondern irgend eine von den mehrfach obengenannten Städten: es ist sogar als sicher anzunehmen, dass die Hiesigen in einer der ferner entlegeneren, nördlichen Städte überwintert haben müssen, da sie erst am 28. August 1767 hier anlangten, während Petrowsk doch nur 4o Werst von hier nördlich entfernt liegt, wenn auch die damalige Fahrt recht langsam, Schritt vor Schritt, mag gegangen sein, so hätten sie doch in einem Tag hier sein müssen.

Von Moskau, Pensa, Petrowsk, bis nach Saratow, führt eine bequeme, breite Landstrasse. Nachdem die Hiesigen von Petrowsk aus, das 7 Werst westlich von hier entlegene Dorf Osecka an der Landstrasse erreicht, hätten sie in höchstens – wenn auch sehr langsam,- 3-4 Stunden hier sein müssen; aber wahrscheinlich war der damalige Urwald auf dieser Strecke für sie ein unüberwindliches Hindernis. Folglich mussten sie die nach Süden sich hinziehende Landstrasse weiter verfolgen, bis sie, etwa 7 Werst von hier südlich, eine ziemlich weit ausgedehnte mit grünem Rasen bedeckte, baumlose Steppe erreichten, von wo sie sich nördlich wenden mussten, um hierher zu gelangen, wozu Wege hierher führten. Dem Hauptwege folgend gelangten sie etwa 2-3 Werst von hier südlich, in eine schöne, mit Urwald umgebene breite Schlucht, durch welche ein gut gefahrener Weg führte. An einer in dieser Schlucht befindlichen Quelle machten sie Rast. Im ganzen waren´s 8o Familien; jedoch zum bleibenden Niederlassen an dieser Stelle schien es ihnen doch nicht recht geeignet zu sein, da die Quelle – wiewohl frisch und klar, doch für 8o Familien nicht genug Wasser spenden dürfte, weshalb man sich entschloss, auf die Suche nach einer ergiebigeren Quelle und nach einem noch besseren Platze – wo möglich, zu gehen. Daher machten sich mehrere mit allerlei Waffen versehene, mutige Männer in der Richtung nach Norden auf und, nachdem sie 2-3 Werst gegangen, hörten sie in einer tiefen fast undurchdringlichen Schlucht ein ziemlich starkes Wasser rauschen, einem kleinen Wasserfalle ähnelnd. Mutvoll arbeiteten sich die Männer durch unzählige Hindernisse hinunter, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Es war keine Kleinigkeit, dieses Wagnis unternommen zu haben, da sie jeden Augenblick gewärtig sein mussten, wilden Tieren oder Räubern zum Opfer zu fallen; jedoch schwand alle Besorgnis, nachdem sie eine nie gesehene grosse, frische, kristallklare Quelle mit vielen bedeutenden Nebenquellen gefunden hatten.

Nun stand bei allen der Entschluss fest, hier eine Kolonie zu gründen. Noch vor wenigen Jahren stand hier von dieser Quelle nur wenige Faden entfernt eine Wassermühle, mit zwei Gängen, sie wurde darum vernichtet, weil diese Quelle schon viele Jahre hindurch immer weniger Wasser spendete und die Müller ihre Wasserräder mehr und mehr vergrösserten, wodurch das Wasserbett im Laufe von 6o Jahren um mindestens 2 Faden gehoben wurde, so dass um ebensoviel Faden die Quelle verschlammt ist. Vor drei Jahren wurde die Quelle nach neuster Art verbessert, wobei unter anderem eine Menge Zement verwendet wurde. Die Gesamtkosten beliefen sich auf ca. 3ooo Rubel.

In alten Zeiten war die Quelle mitten im Urwalde und auch in späteren Jahren noch war sie mit allerlei Bäumen, Sträuchern und Gestrüpp umgeben. Ich kann mich noch gut erinnern, dass unser Haushof voller sehr dicker Stümpfe war, welche noch vom Urwald herrührten. Für unsere Vorfahren mags anfänglich doch nichts Leichtes gewesen sein, mitten im Urwalde beständig der Gefahr von Räubern und wilden Tieren ausgesetzt zu sein. Unsere ganze Bevölkerung steht mit allen Völkerschaften in jeder Beziehung auf freundschaftlichem, guten Fusse, als sei es eine grosse Familie, und es existieren auch schon einige Mischehen; jedoch sind das nur solche Familien, welche schon sehr lange Jahre garnicht hier wohnhaft sind.

Zum 28. August 19o9 wurden es 142 Jahre, dass die hiesige Kolonie Jagodnaja Poljana 1767 gegründet wurde. Noch heutzutage wird der 28. August „Herkommenstag“ genannt. Lange Zeit hindurch wurde dieser Tag alljährlich  kirchlich und gottesdienstlich gefeiert, jedoch nach und nach unterliess man die Feier; auch wurde an diesem Tage keine Arbeit getan. Dass man diesen Tag ohne Gottesdienst feierte, indem man sich aller Arbeit enthielt, kann ich mich noch aus meiner Knabenzeit erinnern, aber es war ohne Gottesdienst ein Tag des Bummelgehens.

Damals warens im Ganzen 8o Familien, während es jetzt fast 13oo Familien sind mit annähernd 1o ooo Seelen beiderlei Geschlechts ohne die vielen Übergesiedelten und Ausgewanderten. In den Jahren 1857 und 1858 fand eine grosse Übersiedlung ins Samarische Gouvernement, nach dem Flusse Ober-Jeruslann staat (sic!), wo von den hiesigen Übersiedlern zwei Kolonien gebildet wurden, nämlich Schönthal, jetzt aus 2945 Seelen bestehend und Neu-Jagodnaja, jetzt aus 2113 Seelen bestehend und seit 17 Jahren mit ersteren Ausgewanderten nach Nordamerika können gut 2o und mehr Jahre gerechnet werden, was auch 152o Seelen gibt. Hier folgen die hauptsächlichsten Staaten in Nordamerika, in welchen von unseren Leuten mehr oder weniger zu finden sind, z.B. Cansas, Colorado, Pine Island bei New-York, Baltimore, Oklahama, Wisconsin, in der Stadt Oshkosh, Washington, im fernen Westen und Canada, in der Stadt Culgary, also im Nordwesten. In Washington und Calgary im Staate Canada, haben es einige schon zu sehr grossem Reichtum gebracht, 3o, 4o, 5o und 7o ooo Dollars und höher. Von diesen Krösusen sind einige schon etliche Monate hier zum Besuche gewesen und wenn sie sich nach dem längeren Nichtstun langweilen, gehts wieder retour zum Eldorado. Man hat bei aller Armut und teuren Zeiten dennoch auch hier Wirte, welche dieses Krösusen womöglich noch weit überlegend sind, die also nicht 5o ooo, sondern 15o ooo Rubel an Vermögen mindestens besitzen und, diese Leute besitzen fast garkeine Bildung, aber sie sind dennoch geriebene Geschäftsleute. Die hiesige Kolonie ist im Vergleiche zu Schotten, Nidda, Büdingen und mit vielen anderen dortigen Städten, je einzeln genommen, bedeutend grösser, so dass also die Tochter-Landgemeinde grösser ist, als alle obengenannten Mutter- Stadtgemeinden. Wenn alle Übergesiedelten und Ausgewanderten noch hier wären, so würde sich eine Seelenzahl von 16 578 ergeben, also eine grössere Seelenzahl als unser gesamtes aus drei Kolonien bestehendes Kirchspiel hat. Die Vermehrung ist trotz grosser Sterblichkeit durch mehrfache Epidemien unter Erwachsenen und namentlich unter den Kindern, dennoch in 142 Jahren kolossal gewesen! Das Klima ist hier im allgemeinen sehr gesund, so dass viele im Winter Erkrankte sich im Sommer erholen.

In den letzten Jahren und auch gegenwärtig sind viele nach Sibirien übergesidelt, und zwar in die Gegend von Imsk und Akmolinsk, deren Anzahl auch schon mehrere Hundert beträgt, von denen auch schon einzelne Familien zurückgekommen sind, weil es ihnen daselbst wegen gänzlichem Wassermangel (Quellen) nicht gefallen hatte, und auch so manches andere daselbst vermissen, was sie hier umsonst und in Fülle haben. Mit dem Übersiedeln und Auswandern in andere Länder und Gegenden  scheint es, als ob sich die Menschen untereinander ansteckten, was man mit einem Fieber vergleichen könnte, als Übersiedlungs- und Auswanderungsfieber, weil bei solchen Perioden die Menschen wie toll hineinrennen ohne jegliche Überlegung, wo auch jeder wohlgemeinte Rat zu Schanden ist. Sie stürzen sich blindlings mit grosser Hast ins Verderben.

Im Jahre 1774 am 5. August wurden die Hiesigen von dem gefürchteten Pugatschew mit seiner Räuberbande überfallen, welcher mit seinen Raubgenossen von Petrowsk nach Saratow eilte, und hierbei auch unsere Kolonie heimsuchte, jedoch hier weiter keine besonderen Übeltaten verübte, ausser dass er drei Mann mitschleppte, welche später zu Tode gepeitscht worden sein sollen. Einen Berg und eine Schlucht zeigt man heute noch, wo er sein Lager hatte. Sonst ist gesagt, dass dieser Aufwiegler Pugatschew vom 9. – 13. August 1774 sein Unwesen in den deutschen Kolonien an der Wolga, auf der Berg- und Wiesenseite getrieben habe. Er soll grosse Ähnlichkeit mit Peter III. gehabt haben, weshalb er sich für denselben ausgab.