Lebus in Brandenburg, besaß in früheren Zeiten ein Wiesenvorwerk, welches später Tirpitz hieß, heute Plawidlo.
Nach wechselvoller Geschichte und einigen Besitzern erwarb die 1910 in Frankfurt (O.) gegründete Landgesellschaft „Eigene Scholle“ Bauerngüter um Lebus zur Besiedlung, 1913 das östlich der Oder gelegenen Wiesenvorwerk. Ein Teil des Bodens wurde an die ansässigen Bauern rechts der Oder verkauft, damit diese ihre Grundstücke auf eine wirtschaftlichere Größe erweitern konnten. So blieb ein Teil des Bodens mit dem Gutsgebäude als „Restgut“ in ungeteiltem Besitz der Landgesellschaft und wurde von ihrem eingesetzten Verwalter geführt.
Im Jahre 1914 wurden die etwa 460 ha des Wiesenvorwerkes kommunal der Stadt Lebus zugeschlagen. Geplant wurden nun etwa 50 neue Ansiedlungen und ein Restgut von etwa 280 Morgen auf dieser Fläche, zudem eine Pflasterung der Straße zum Wiesenvorwerk und Klärung der Schulverhältnisse.
Währenddessen sorgten der erste Weltkrieg und die Revolution in Russland für einen harten Einschnitt im Leben der deutschen Kolonisten.
Am 10. Oktober 1917 errangen die Bolschewiken unter Lenin im Moskauer und Petrograder Sowjet1 die Mehrheit. Lenin, der nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil im April 1917 „Alle Macht den Sowjets!“ forderte, entschloss sich zu einem bewaffneten Aufstand gegen die provisorische Regierung, die am 25. Oktober bzw. 7. November 1917 (je nach Kalender) gestürzt wurde.
Innerhalb weniger Wochen etablierten die Bolschewiken ihre Kontrolle über die meisten der ethnisch russischen Gebiete, allerdings weniger erfolgreich in ethnisch nicht russischen Gebieten.
Kurze Zeit nach der Machtergreifung wurde für die Russlanddeutschen ein folgenschweres Edikt erlassen, die „entschädigungslose Enteignung aller Grundbesitzer“ 2
Jedes private Bodeneigentum ist für immer aufgehoben; das Land kann nicht verkauft, nicht gekauft, nicht verpfändet werden. Das ganze Land wird ohne Entschädigung enteignet und zum Eigentum des ganzen Volkes erklärt. Das ganze Land bildet nach seiner Enteignung einen dem ganzen Volke gehörenden Sparfonds. Alle Bürger erhalten nur das Nutzungsrecht an Grund und Boden, jedoch nur solange sie imstande sind, das Land mit Hilfe ihrer Familienangehörigen oder in Genossenschaften zu bearbeiten.4
„Dekret über Grund und Boden in: „Sobranie uzakonenij i rasporjagenij rabočego i krest ́janskogo Pravitel ́stva RSFSR“, 1917, Art. 1 der Verordnung“
So entstand durch den Kriegsverlauf eine Situation, die schnell die Schaffung von neuen Siedlerstellen erforderte für jene, die Russland verließen. Die Umsiedler und Flüchtlinge aus Südrussland hatten mit dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Grundstücke und mit Unterstützung durch den Preußischen Staat die finanziellen Mittel, um Grund und Boden zu erwerben. Unter Leitung des Pastors Immanuel Winkler erwarben sie von der Landgesellschaft „Eigene Scholle“ das Land und teilten es unter sich auf.
Diese neu entstandene Siedlung erhielt ab 1918 den Namen Tirpitz, wohl als Gunsterweisung des Kaisers an seinen Großadmiral Tirpitz.
Die Entbehrungen und das Wohnen in primitiven Erdhütten erinnerten an die Ansiedlung der Kolonisten bei Auswanderung nach Südrussland.
Pastor Winkler zog in das vorhandene Gutshaus.
Es dauerte seine Zeit, ein richtiges Wohnhaus zu errichten, Krieg und die Nachkriegsjahre machten das Leben nicht einfacher, daher berichtete der Lebuser Pfarrer Kuntze von zehn Ansiedlern, die im April 1920 in ihre Heimat zurückkehren wollten und von ihm in einem Gottesdienst verabschiedet wurden.
War vor Dezember 1920 noch die Mehrzahl der Einwohner für die endgültige Eingemeindung in die Stadt Lebus, wurde es nun unmöglich, die Forderungen an die Stadt in Höhe von 150.000 Mark als Beteiligung an der Finanzierung der Straße nach Tirpitz und Bau eines eigenen Schul- und Bethauses zu erfüllen. So scheiterte dieser Plan.
Weil die Kinder aber täglich nach Lebus zur Schule mussten, wurde auf Initiative des Pastors Winkler ein Schul- und Bethaus in Tirpitz gebaut, welches Schülern bis zur 8. Klasse Raum bot, dazu Lehrerwohnungen. Die Einweihung war am 16. Oktober 1921.
Pfarrer Winkler wollte zudem die Eigenständigkeit als Alt-Lutheraner Gemeinde erhalten und hielt die Gottesdienste für die etwa 80 Besucher im Schulsaal ab.
Der Bessarabier Emmanuel Franz erwarb nun die etwa einen Kilometer entfernt liegenden alten Gebäude der 1864 errichteten Zuckerfabrik „Emil von Gansauge & Co.“und 60 Morgen Land für sich und sein Familie.
Die Neuansiedler feierten am 28. August 1921 nach eigener Tradition ihr Erntefest in der Gaststätte „Freund“ mit einer neugegründeten Musikkapelle und bauten in den nördlichen Lebuser Loosen erfolgreich Kürbisse und Wassermelonen an.
Der Lebuser Pfarrer Kuntze aber warb für den Beitritt zur Lebuser Kirchengemeinde, die Tirpitzer waren anfänglich dagegen, weil sie von einer Zugehörigkeit zu Lebus höhere Kosten befürchteten. Pfarrer Kuntze hielt trotzdem den ersten Gottesdienst mit 130 Erwachsenen auf dem Kasemenboden der alten Zuckerfabrik ab.
Die Alt-Lutheraner wurden seelsorgerisch durch den Pfarrer Burgsdorf versorgt, der in Abständen von drei Wochen Tirpitz besuchte, am 9. September 1922 gab es daher eine Eingabe der Ansiedler zur beschleunigten Einpfarrung in die Lebuser Kirchgemeinde, da Pastor Winkler häufig geschäftlich unterwegs war, fortan kam Pfarrer alle drei Wochen nach Tirpitz.
Mit Erlass des Staatsministeriums vom 1. Oktober 1922 erhielt Tirpitz den Status einer eigenständigen Landgemeinde. Auch das Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik mit der verbliebenen Zuckerrübenverladestelle an der Oder wurde dem Ort Tirpitz zugeschlagen.
Tirpitz hatte nun 262 Einwohner.
August Erdmann (1864–1934), der Küster, Gemeindeschreiber in Sekretär Tarutino war und von 1918-1920 Sekretär des Vertrauensrates der deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet in Berlin, kehrte aus Tirpitz zurück nach Tarutino.
Er sendete der Lebuser Kirche einen Betrag von 100 Lei, was 67.833 M entsprach, als Betrag zur Verwendung für die Ansiedler in Tirpitz, der Pfarrer Kuntze legte das Geld in Lebus bei der Sparkasse als „Erdmansche Stiftung“ an.
Der Siedler Philipp Bechtloff wurde der erste Ortsvorsteher von Tirpitz. Ab 1923 standen ihm die beiden Gerichtsmänner Otto Schulz und Eberhardt Porath zur Seite, Pastor Winkler wurde Gutsvorsteher.
Der Ort wurde nun an die elektrische Versorgung angeschlossen und bekam 1924 einen ortseigenen Friedhof, starb ein Tirpitzer, so fand die Trauerandacht auf den Höfen statt und anschließend erfolgte die Beisetzung auf dem neuen Friedhof.
Als 1925 eine größere Forderung fällig wurde, Immanuel Franz für die Bürgschaft eintreten musste und Pastor Winkler die Gemeinde nach Kanada verließ, wanderte die Familie von Andreas Gienger nach Mexiko aus und kehrte erst 1935 unter dem Eindruck der dortigen Unruhen nach Lebus zurück. Eine erneute Ausreise, wie von anderen vor ihnen nach Kanada, ließ das Dritte Reich nicht zu.
1925 verfügte der Ort, finanziert von der Kreisverwaltung, über einen gepflasterten Weg zur Straße Frankfurt (Oder) – Trettin, was vor allem dem Fuhrwerksverkehr zugute kam. Die Dorfstraße wurde mit Kopfsteinpflaster befestigt, beiderseits mit Süß- und Sauerkirschbäume bepflanzt, die Höfe befanden sich links und rechts der Straße, ganz wie sie es in Südrussland gewohnt waren.
Leontine Helene Freund, Tochter von Christian Freund und Bertha geb. Dieter aus Kaisertal, kommt in Tirpitz zur Welt.
Jakob Schäufele (*1880) und seine Frau Pauline geb. Elzer (*1880) verlassen mit vier Kindern Tirpitz nach Buenos Aires, Argentina.
Heinrich Hilz (1897-1968) aus Johannesruh in Taurien verläßt mit seiner Frau Alida Neuberger (1903-1941) die Gemeinde. Beide hatten hier 1923 geheiratet, Tochter Hildegard (1924-2020) war in Tirpitz geboren, doch am 28. Juli 1926 verließen sie per Schiff von Hamburg aus Deutschland und siedelten sich in Canada an.
1939 berichtet Auguste Winter geb. Killmann aus Tirpitz über die Bewohner von Reichenfeld:
Verzeichnis (unvollständig) der Bewohner von Reichenfeld Kr. Melitopol, Gouv. Taurien.
Dr. Spranger
Biehler
Kretschmann (seine Tochter Pauline oo Traugott Haydt aus Prischib. Sie starb in Laiso b/Tirpitz.
Kinder: Ida, Amalie, Otto, Reinhold, Richard).
Lorenz
Laipe ? Leipe ?
Eschenauer
Schatz Dampfenmühlenbesitzer
Neiser Dampfenmühlenbesitzer
Johann Wettstein Dampfenmühlenbesitzer
Bür(g/k)el Dampfenmühlenbesitzer (Geschwisterkinder!)
Andreas Stichling oo Christine Wettstein (aus Wasserau Kr. Melitopol)
Friedrich Krüger (Sohn d. Theodor K. ) oo Pauline Wettstein (a. Wasserau, Vater: Karl W.) .
Bauer
Heinrich Stichling oo Berta Gross (Vater: Gottlieb G. aus Wasserau)
Schmidt (seine Tochter Karoline oo David Rixen (aus dem Kaukasus ,wohnt in Tirpitz ).
Kinder: David
Daniel (Schupo in Berlin)
Ottilie oo Salomon Wiese, Frankfurt/O.
Ella oo Johannes Ginger, Lehrer.Nach Angaben von Frau Auguste Winter, geb.Killmann,
Tirpitz, Kr. Lebus, 17.8.19395
1945 bestand Tirpitz aus 38 Gehöften, dem Gutsgebäude, dem Gebäudekomplex „Alte Zuckerfabrik“ und zwei Arbeiterhäusern, mit 18 Landarbeitern, die zumeist auf dem Gut arbeiteten. Im Nordosten von Tirpitz befand sich eine Windmühle. Alles in harter Arbeit entstanden, sollte es nun verlassen werden, die meisten Bewohner blieben, nur wenige Familien, wie die von Philipp Bechtloff, gaben ihre Höfe auf. Familie Bechtloff fuhr am 1. Februar 1945 mit dem Traktor über das Eis der Oder, die russische Armee besetzte am 5./6. Februar Tirpitz, viele Einwohner wurden erschossen, misshandelt, vergewaltigt und verschleppt. Aus Tirpitz wurde mit dem Kriegsende das polnische Plawidlo, aber die Erinnerung an seine russlanddeutschen Bewohner bleibt.
Quellen
1 Arbeiter-, Bauern- u. Soldatenrat der russischen Revolutionen (1905 u. 1917)
2 Heinz Ingenhorst: Die Russlanddeutschen, Aussiedler zwischen Tradition und Moderne, Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York, 1997, S. 35
3 Meßtischblatt 3553 : Lubusz [1946, 1:25.000]
4 N. Babenkova, Dissertation 2006; Einführung: Geschichtliche Grundlagen der Modernisierung des Bodenrechts in Deutschland und Russland „Dekret über Grund und Boden in: „Sobranie uzakonenij i rasporjagenij rabočego i krest ́janskogo Pravitel ́stva RSFSR“, 1917, Art. 1 der Verordnung“
5 DAI microfilm 007953036
6 GESCHICHTLICHES Lebuser Land – Ausgabe Lebus vom 01.06.2011. Bericht im Auftrage des Heimatvereines Lebus e.V. von Manfred Hunger
7 Bilder von alten Ansichtskarten
8 Kirchenchronik Lebus 1818-1848
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