Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(Eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus1)
(3. Fortsetzung)
Die evangelischen Ansiedler des Liebenthaler Bezirks, welcher in einem Wolostamte vereinigt war, bildeten zwei Kirchenspiele; im Jahre 1803 das Kirchenspiel Großliebenthal unter dem ersten Pastor Pfersdorf und das Kirchspiel Freudenthal, welches sich im Jahre 1812 unter seinem ersten Pastor Graubaum von Großliebenthal abzweigte. Zum Kirchspiel Großliebenthal gehören die in den Jahren 1803 bis 1805 von Württemberg aus begründeten Stammkolonieen Großliebenthal, Alexanderhilf, und Neuburg. Zum Kirchspiel Freudental gehören die in den Jahren 1805 bis 1807 von Ungarn aus besiedelten Stammgemeinden Freudental und Peterstal, wogegen der anno 1805 von Handwerkern gegründete gegenwärtige Badeort Lustdorf, in der Nähe Odessas am Schwarzen Meer belegen, von Odessa aus kirchlich bedient wird.
Karte des Liebenthaler Bezirkes
3. Der Molotschnaer Kolonistenbezirk.
Dem Kolonisten der Kolonie Kostheim Ernst Walther verdanken wir eine ausführliche Beschreibung der Einwanderung jener Rheinländer, welche sich im Jahre 1809 an der Molotschna in einer stattlichen Reihe von Dörfern ansiedelten. Er schreibt als Augenzeuge, und so gewinnt sein Bericht eine Lebendigkeit und Anschaulichkeit, wie sie sonst in den Geschichtsquellen der deutschen Kolonien Rußlands vergeblich gesucht wird. Seine verdienstvolle Arbeit, welche eine poetische Zueignung und dito Schluß nicht fehlt, ist im Jahrgang 1849 des „Unterhaltungsblattes für deutsche Ansiedler im südlichen Russland“ abgedruckt.
Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland3
Zunächst waren es 250 aus Preußisch Polen und Pommern eingewanderte Familien, welche bereits im Jahre 1804 folgende 8 Kolonien gegründet hatten: Monthal, Neudorf, Rosenthal, Molotschna, Hoffenthal, Nassau, Weinau und Wasserau.
Kartenausschnitt – Deutsche Kolonisation im Osten2
Diese 250 Familien stammten ursprünglich aus Nassau- Usingen, Württemberg, Baden und Rheinbaiern. Unter diesen Dörfern ist damals schon Molotschna oder Prischib als ehemaliger Sitz des Edelmanns Dubinsky , dessen mitten in dem zur Ansiedlung bestimmten Länderkomplex belegenes Gut von der Regierung für anderes Land eingetauscht worden war, wo der Vorort, wo der Inspektor, Freiherr von Uxküll wohnt und das Bezirksamt sich befindet. Ein ehemaliger preußischer Rittmeister und Kolonist der Kolonie Nassau ist Oberschulz. Diese ersten Ansiedler haben sich schlecht in die neuen Verhältnisse hineingefunden. Sie hatten gehofft, in ein Schlaraffenland zu kommen oder in „ein Paradies, wo Milch und Honig fließt“, und siehe da, der Milchfluss Molotschna leider nur gemeines Wasser. Jetzt waren sie geneigt, bei der ersten besten Gelegenheit davon zu gehen. Das Interesse für Gespenster, Hexen und verborgene Schätze war größer als dasjenige für eine ernste Pionierarbeit auf landwirthschaftlichem Gebiet. Abgefeimte Betrüger beuteten den Aberglauben der armen Kolonisten zugunsten ihrer eigenen Tasche aus. Die Armuth und Niedergeschlagenheit dieser ersten Ansiedler wich jedoch allmählich einem muthvollen Vorwärtsstreben, seit im Jahre 1809 und 1810 neue Ansiedler aus den Rheinländern hinzugekommen waren.
Wir können es nicht unterlassen, die Beschreibung der Auswanderung nach Südrußland im Jahre 1809, der Ankunft und der gastfreundlichen Aufnahme, die man hier fand, zum Theil wörtlich folgen zu lassen:
„Die Freiheitskriege der Franzosen hatten seit dem Jahr 1796 bis 1805 die Rheinländer Deutschlands mehrmals mit ihren Siegespanieren überzogen, Einquartieren, durchmarschieren, rekrutieren, exkutieren, einkassieren, illuminieren disponieren, füssiilieren waren die schönen, hochklingenden Worte, die in den friedlichen Gauen Deutschlands angestaunt wurden.
„Da uns von den Siegern versichert wurde, daß in diesen neuen Wörtern Glück, Weisheit, Aufklärung, Freiheit, mit einem Worte: die ganze Bestimmung des Menschen, ja der Himmel auf Erden enthalten sei, machten wir gutmüthig die Augen zu und sperrten den Mund desto weiter auf. Es schüttelten wohl einige „Griesgrämer“ die Köpfe und wollten die Sache verdächtigen, weil die hohen Worte alle mit „ieren“ und endigten, erkühnten sich sogar, Unglück aus denselben zu prophezeien; allein wir gaben unseren glänzenden Siegern mit Vergnügen Brot, Kleidung, Wein, ja das Hemd vom Leibe für die schöne Versprechungen. „Brauchen wir, doch nichts mehr“, so hieß, „unser ganzes Leben uns abmühen, Glück und Seligkeit zu suchen.“ O, so lange wir noch etwas hatten, hörten wir oft: „Ah! die Deutsch is sik ein brav´Mann! Nur schad, daß nit aufgeklärt, wir magken bald ein klug Volk von die Deutsch.“ Um aber uns diesen Himmel zu öffnen, mußte die alte deutsche Reichsverfassung in ihren Grundfesten erschüttert werden, und endlich, nach der Schlacht bei Austerlitz, wurde unter dem Schutze Frankreichs allen altdeutschen Albernheiten (wie man sie nannte) der Garaus gemacht und auf immer des Landes verwiesen, die denn auch gutmüthig, wie ein dienstloser Lehrer, ihr Bündel schnürten und, einer besseren Zeit harrend, in den Winkel kochen.
„Der Friede gab uns nun Zeit auszuruhen und den Franzosenhimmel anzuschauen; allein die Siegesgöttin prangte längst in Paris in Gesellschaft ihrer würdigen Schwestern. Dir Schuppen fielen uns allmählich von den Augen; von der neunkernigen Nuß blieben uns nur oiere: einquartieren, rekrutieren, einkassieren und illuminieren übrig.
„Durch solche traurigen Folgen der uns vorgespiegelten Freiheit wurden viele Tausende in der Blüthe der Jahre dahingerafft, das stille, häusliche Glück der meisten Familien gestört oder auf immer zerstört.
„Die Auswanderungen nach Amerika, Preußen und Oesterreich hatten schon längst begonnen, aber Unbemittelte konnten so etwas nicht wagen. Da erscholl nach dem Frieden bei Tilsit in den deutschen Rheinlanden auf einmal eine Stimme aus dem fernen Osten, die rief:
„Kommet her, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch eure Last erleichtern. Kommet her, die ihr hungrig seid; ich will mein Brot mit euch theilen. Kommet her, die ihr betrübt seid; ich will euch trösten. Kommet zu mir alle, die ihre Kinder lieben; ich will sie euch erhalten. Kommet und empfanget den Segen, womit der Herr mich gesegnet hat.“
„Diese Stimme – wer von uns allen kann sie hier vergessen? – kam von der Majestät des Kaisers Alexander Pawlowitsch, dem Engel des Vaterlandes, dem Friedensengel Europas. Die letzten, sinkenden Kräfte wurden neubelebt. Als strahlender Himmelsbote trat der Aufruf des menschenfreundlichen Monarchen vor die Hütte der Armuth, die Stätte des Elends, die frohe Botschaft zu verkünden, welche wir mit Freundenthränen zujauchzten. „Ach Gott! Wenn´s nur auch wahr ist? seufzte die Armuth mit ungläubigem Kopfschütteln, „wir wären ja längst in die entfernteste Wüste gewandert, wie viele unserer Brüder, wenn nicht an Kraft gebräche.“
„Der Kaufmann Betmann4 in Frankfurt am Main hörte mitleidig dem Gespräch seine armen Landsleute zu und sprach: „Seht lieben Leute! Diese Nacht ist auch von Osten dieser Trost zugegangen.“ „Was ist´s, was? frug die Neugierde hastig. „Ein Papier, gedruckt mit deutscher Schrift, aus Rußland“ war die zauberisch klingende Antwort. Waren wir da entzückt und mit welcher Begeisterung lasen wir die in Rußland deutsch gedruckten Worte:
hier die Reglements als pdf aus dem Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1849 Nr. 63
„Allgemeine Reglements, die Aufnahme fremder Kolonisten in Neurußland betreffend!“
Die Reglements, welche unser Gewährsmann Ernst Walther wörtlich wiedergiebt, bestehen aus 12 Punkten. Nach diesen Reglements durften keine Lockmittel angewendet werden, um die Leute zur Auswanderung zu bewegen. Alle diejenigen, welche diesen Wunsch hegten, sollten sich bei den Ministern, Residenten, Geschäftsträgern oder Konsuln Seiner Majestät melden. Nach eingeholter Erkundigung über ihre Umstände und Aufführung wurden ihnen dann die nöthigsten Reisepässe nach der russischen Grenze ertheilt. Jeder musste ein gerichtliches Zeugnis aufweisen, daß er ein guter Landwirth sei und seine Schulden berichtigt habe. Jede Person sollte wenigstens Tl. 300 in barem Gelde oder in Waaren bei der Auswanderung besitzen. Jede ledige Person mußte sich an eine Familie anschließen. Jeder Kolonist durfte außer der zollfreien Einfuhr seiner Effekten noch Waaren im Werth von 300 Rbl. auf die Familie behufs Wiederverkauf frei einbringen. Wer Rußland wieder zu verlassen wünschte, mußte außer den Geldern, die er der Krone oder sonst jemandem schuldete, eine dreijährige Abgabe seinem Stande gemäß entrichten. Auch musste er sein Land an jemanden verkaufen oder abtreten, der im Lande blieb. Wegen Ungehorsams und sonstiger Vergehen sollten die Kolonisten nach Entrichtung ihrer Kronsschulden über die Grenze zurückgebracht werden.
1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 05.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski
2 Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897.
3 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1849 Nr. 6, auf Mikrofilm, CMBS
4 Simon Moritz von Bethmann, *31.10.1768 Frankfurt am Main, † 27.12.1826 Frankfurt am Main, evangelisch, Bankier, Abgeordneter, Hessische Biografie 4234