Zur Geschichte Süd Russlands IV

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1

(4. Fortsetzung)

„Der gute Herr Betmann2“ – so berichtet Ernst Walther weiter – „hatte Tag und Nacht zu thun mit Ertheilung der Reisepässe nach Südrußland und, dank ihm! es war ihm keine Mühe zu viel und er machte den Armen keine überflüssige Stunde Aufenthalt. Begleitet von seinen Glückwünschen betraten wir, in Kolonnen getheilt, hoffnungsvoll den Weg, wie uns der Zufall zusammenführte. Wer kein Fuhrwerk hatte, lud seine Habe auf einen Schubkarren; die Mutter band ihren Säugling oben darauf und spannte sich selbst mit einer Zugleine vor den Karren, während ein kleiner 7- bis 8jähriger Knabe, sich am Rocke der Mutter haltend, nebenher trabte und dieselbe mit den Worten tröstete: „Mutter, muscht nit heule, kommer bald zum Russema, der hat viel Brot und Salz. Gelt Mutter, dort finde uns d´ Franzose nit, der Russema stot vor Thüre na und lasst se nit rei, derno dersemer unser eins selber esse.“

Abschied – deutsche Emigranten auf dem Kirchhof3

Jenseits Offenbach bei Frankfurt a. M., am sogenannten Wäldel, sah man unter dem Schatten der Bäume alltäglich mehrere Reisefertige gelagert, Fußgänger zu Fußgängern, Karrenschieber zu Karrenschiebern, Fuhrwerke zu Fuhrwerken gruppierten sich gesellschaftlich zusammen. Württemberger, Badener, Hessen, Pfälzer und Elsässer ein gemeinsames Ziel verfolgen; jede Stunde erschallten die Begrüßungen hinzukommender und sich dem Zug anschließender, alle von Herrn Betmann mit Pässen versehener Auswanderer: „Woher? Wohin? Schließen wir uns euch an, um mit euch eure Hoffnungen zu theilen! Brüder! Wischt den Staub aus den Augen und laßt uns gemeinschaftlich ziehen! Holla! Holla! Vorwärts!“

Titelbild des Buches „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau“ : die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“4

Grodno war der erste Sammelplatz dieser Ansiedler auf russischem Boden. Hier kamen die Wohlhabenden etwas früher in der besten Stimmung transportweise an, während die Armen mühselig und allmählich nachfolgten. Im Auffahrtshofe bei Ivan Kulikowsky feierten sie dem Geber alles Guten ein Dankfest. An einem fröhlichen Abend wurde die Gesundheit Sr. Majestät des Selbstherrschers aller Reußen ausgebracht und am anderen Morgen die Einwanderung angetreten. Der Empfang der Nahrungsgelder bis Jekaterinoslaw hatte ihnen sehr wohlgethan. Sie waren in mehrere Kolonnen getheilt, von welche jede einen Obmann oder Anführer hatte. Im Verlauf der Herbstmonate des Jahres 1809 trafen sie allmählich in die Jekaterinoslaw ein, wo das Vormundschaftskomtoir für ausländische Ansiedler seinen Sitz hatte. Manche waren unterwegs dem Einfluß der ungewohnten Lebensweise und der Strapatzen der Fußtour erlegen. Der Vormundschaftskomptoir sorgte nun für die bestmögliche Einquartierung der Ankömmlinge in den bereits bestehenden deutschen Kolonien Josefsthal, Rybalsk, Großweida, im Chortitzer und Molotschnaer Mennonitenbezirk und in den ersten Ansiedlungen der Molotschnaer Kolonisten. „Die durch Sterbefälle entstandenen Lücken wurden zwischen Witwern, Witttwen und Jungfrauen größtenteils ausgefüllt, so daß im eigentlichen Sinne sehr wenig Verwaiste übrig blieben.“

Diese zweite Ansiedlung von Molotschnaer Kolonisten bestand aus etwa 600 Familien. Der größte Theil von ihnen besaß in ganz richtige Begriffe von der Landwirtschaft. Bei der Ansiedlung wurde leider keine Rücksicht auf den Unterschied der Konfession und Nationalitäten genommen, so daß die verschiedensten deutschen Landsleute, sowie Lutheraner, Kalvinisten und Katholiken nebeneinander und durcheinander zu wohnen kamen, was dem Frieden und der gedeihlichen Entwicklung sehr hinderlich war. Es wird diesen Pionieren der zweiten Ansiedlung zum Vorwurf gemacht, daß sie bei der Ansiedlung eben weiter nichts im Auge hatten, als möglichst schnell und an einem möglichst bequem gelegenen Platze Land zu bekommen. Doch für die damalige Zeit war das in gewissem Sinne entschieden ein Vorzug und bedeutete einen nicht geringen Fortschritt in der Geschichte der Kolonisation, denn viele der anderen Kolonisten hatten zu schwache Begriffe vom Landbau, als daß sie den Besitz des Landes überhaupt hätten schätzen können.

Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897.5

Die ersten Jahre der Niederlassung beschreibt Ernst Walther folgendermaßen: „Die Steppe über dem Thalufer war gänzlich unbewohnt und wurde nur von herumziehenden tatarischen Hirten (Nomaden) jährlich einige Male besucht, die den üppigen Wuchs des Grases nicht hemmten.“ „Noch bei der zweiten Ansiedlung haben solche Schäfer die Gegend besucht und mit Verwünschungen über Pflug, Grabscheit und Baumzucht durchzogen. Nach ihrem Bedürfniß ist ihnen eine lange Reihe von Jahren hindurch diese Gegend vom Urgroßvater her als Paradies vererbt gewesen und nun erschien ein in ihren Augen abscheuliches Volk, dessen Sprachlaute ihren Ohren widerlich berührten, um in diesem „gesegneten Lande“ das Unterste nach oben zu kehren.

Tatarische Steppe6

Weder ihre Gebete, noch ihre Verwünschungen wurden erhört, der Pflug zog Grenzen und zur Ansiedlung wurde im Frühjahr 1810 rasch geschritten. Jeder Familie wurden 60 Dessjatinen7 Landes zugetheilt und von Seiten der Behörde ein Vorschuß von 200 Rubel Banko gezahlt zu Anschaffung zweier Pferde, eines Wagens, einer Kuh, und für Saatfrucht, die zum Theil aus weiter Ferne geholt wurde. Damals kaufte man für 200 Rbl. mehr, als heute für 600 (das ist geschrieben im Jahre 1849! Anmerkung des Verf.); Bauholz zu einem 8 Faden8 langen und 4 Faden breiten Wohngebäude zur Stelle geschafft, bestand in dem Werthe von etwa 105 Rbl. Banko.“

Beispiel eines einfachen Pfluges, Foto von 1922, Kreis Mariupol 1922 (World ORT)

Die erste Ernte dieser neuen Siedler fiel schlecht aus. Wildheit des Bodens, schlechte Ackergeräthe, mangelhafte Aussaat, trockener Sommer waren die Ursachen. Der fünfte Theil der Ansidler erntete nur das Brot. Darauf folgte der „französische Winter“ des Jahres 1812. Sechs Wochen unausgesetzt Schneegestöber, 20 bis 26 Grad Kälte, große Armuth – das alles war nicht gerade geeignet, die in Erdhütten eingeschneiten, durchs Kamin aus- und einkletternden, landesfremde Westeuropäer in ihren leichten Zwilchkitteln zu ermuthigen. Den langen, bangen Winter hindurch wurden Ermangelung von Mühlen das Getreide zum Theil roh gegessen. Der Gedanke, daß der Feind endlich bei Moskau sein Ende gefunden, war die schönste Genugthung, und als endlich der späte Frühling ins Land zog, ging man frisch ans Werk für Gott, Kaiser und das neue Vaterland.

Postkarte mit Erdhütte in Antonowka am Styr9

Trotzdem das Molotschnaer Klima gesund ist, erkrankten im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte doch viele deutsche Ansiedler und manche mußten in ein frühes Grab gesenkt werden. Aus Mangel an Geld war man auf Tauschhandel angewiesen. Wie gering die Preise der landwirthschaftlichen Erzeugnisse damals waren und wie theuer der Landmann diejenigen Waaren bezahlen mußte, die er brauchte, beweist die von Ernst Walther berichtete Thatsache, daß man für ein Maß10 Kalkerde ein ebensolches Maß Roggen, für ein Pud11 Salz zwei Pud Weizen gab. Bei einer Fahrt von 100 bis 200 Werst12 erhielt man für ein Pud Weizenmehl den damals hohen Preis von einem Rubel Banko. Roggenmehl mengte man unter den Kalk zum Tünchen der Wohnung.

In Bezug auf die Ackergeräthe jener ersten Zeit erzählt Ernst Walther folgendes: „Die Ackergeräthe waren in einem elenden Zustande. Pflüge und Wagen waren zuweilen von der lächerlichsten Zusammensetzung, z. B. ein kleinrussischer Unterflug auf einem deutschen Karren, sogenannte Tschumackenräder am deutschen Wagengestell und umgekehrt. Die neuen Geräte waren theils aus über Uebereilung, theils aus Mangel an geschickten Handwerkern schlecht geraten. Am besten waren noch die von Mennoniten erhandelten Ackergeräthe. Weil dieselben aber alt und abgängig waren veranlaßten sie bald eine zweite Ausgabe.“

Wie hoch die Mennoniten in ihrem Wohlstande damals über ihren Nachbarn aus Süd- und Mitteldeutschland standen, zeigt folgende Anmerkung Walthers:

„… Man muss gestehen, daß hinsichtlich des Ackerbaus die Kolonisten von den Mennoniten manchen Handgriff erlernt und vielseitige Hilfe genossen haben; denn jene theils schon vor Ablauf des vorigen und beim Beginn dieses Jahrhunderts als geschlossene und bemittelte Brüdergemeinden auf noch günstigem Vorrechte hin aus Preußen eingewanderten Leute, reich an mancherlei Erfahrungen, waren zu jener Zeit schon an Wirtschaftsgeräthen und Gebäuden zu vortheilhaft eingerichtet, daß die Wünsche eines armen, so zu sagen vereinzelt dastehenden Kolonisten sich nicht von ferne erkühnten, einst auch diesen Standpunkt erreichen zu können.“

Der Molotschnaer Kolonistenbezirk bildete zunächst ein lutherisches Kirchspiel unter dem Namen Molotschna. Auf Verfügung der Kolonialbehörde traf im Jahre 1812 der erste Pastor, namens Sederholm, ein und ein Jahr darauf wurde der Grundstein zu der von der Krone erbauten Kirche gelegt, welche aber erst 1823 eingeweiht werden konnte. Dieses auf einem Hügel gelegene Kirchlein ziert heute noch den schmucken wohlhabenden Vorort Prischib, dessen städtischer Anstrich keine Erinnerung mehr an die Zustände jener Entstehungszeit aufkommen läßt.

Kirche Prischib13

Die Kolonistendörfer an der Molotschna stehen gegenwärtig wohl überhaupt unter den deutschen nicht mennonitischen Ansiedlungen im Süden Rußlands in der Kultur am höchsten. Möchte dieser Ruhm der Molotschna zum Sporn aller deutschen Brüder in unserem Vaterlande stets erhalten bleiben! Möchten Hochmuth und Selbstüberhebung verpönt sein, Fleiß aber und nüchterner Sinn im Verein mit unentwegtem Vertrauen zu Gott im Gehorsam gegen alle Obrigkeit zu einem solchen Fortschritt führen, daß alle die einst auf sie gesetzten Hoffnungen der Regierung sich auf das schönste erfüllen!

Fortsetzung folgt. 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 12.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Simon Moritz von Bethmann, *31.10.1768 Frankfurt am Main, † 27.12.1826 Frankfurt am Main, evangelisch, Bankier, Abgeordneter, Hessische Biografie 4234

3 Carl Wilhelm HübnerNationalmuseum Oslo  – German Emigrants at the Churchyard – NG.M.00159 – National Museum of Art, Architecture and Design Erstellt: 1846 Gemeinfrei

4 „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau : die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, ISBN 978-3-00-026821-2, kann zum Preis von 22,50 Euro beim Autor Norbert Gottlieb, Auf der Mauer 3, 76831 Ilbesheim, Tel. 06341/30403 er­worben werden

5 Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897

6 Руслан Селезнёв Таврийская степь – panoramio 25. Juni 2009 Standort: 47° 23′ 33,66″ N, 34° 27′ 14,03″ E CC BY 3.0

7 1 Dessjatine = 2400 Saschen² = 10.925,3975 m² ≈ 1,1 ha

8 altes deutsches Maß für Brennholz, 1 Faden = 1,74 – 4,07m3

Der Saschen (auch russischer Klafter oder Faden) ist ein altes russisches Längenmaß. Er wurde 1116 als „dreifache Elle“ erwähnt und mindestens ab 1493 als großer Saschen bezeichnet. Der Abstand der Handspitzen der waagerecht zu den Körperseiten gestreckten Armen wird als »geschwungener Saschen« oder Machovaja Saschen bezeichnet und betrug etwa 1,76 Meter. Nach einer Verordnung vom 3. Januar 1843 hatte 1 Saschen ab 1. Januar 1845 die Länge von 3 Arschin oder 2,13356 Meter.

Das o.g. Gebäude wäre also ca. 17 x 8,5 m gewesen.

9 Feldpostkarte Ertser Weltkrieg (1914-1918) mit Erdhütte in Antonowka am Styr, Druck und Verlag Julius Kreß, Hoflieferant Kassel

10 Maß, ursprüngliches Hohlmaß, je nach Region 1-2, heite 1 Liter entsprechend

11 1 Pud = 40 Pfund (russisch) = 16,38 Kilogramm
Bei Getreide rechnete man 8 bis 10 Pud und bei Mehl brauchte man 9 1⁄3 Pud für ein Kuhl oder Sack.

12 1 Werst = 500 Saschen = 1,0668 Kilometer

13 Illustrierten Molotschnaer Volks-Kalender für die deutschen Ansiedler in Süd-Rußland

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