Die Potsdamer standen in den Trümmern und bauten sich ihre Stadt neu auf. Es wurde alles verbliebene, was scheinbar oder tatsächlich von Wert war, abgebaut und als Reparationsleistung in die Sowjetunion geschickt. So war es doppelt schwer für die Bevölkerung, eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen. Man war ständig bemüht, irgendwie Lebensmittel und Heizmaterialien zu beschaffen.

Die Frauen unserer Familie standen als Trümmerfrauen zwischen Stahlträgern, Mauerresten und Balken, zogen schwer beladene Wagen und Loren mit der eigenen Körperkraft, da meist keine Pferde oder Lastwagen zur Unterstützung vorhanden waren. Reichten in langen Menschenketten Steine von Hand zu Hand weiter, damit aus den vom Mörtel befreiten Steinen neue Häuser entstehen konnten. Alles für einen Stundensatz von rund 70 Pfennigen, nur die Lebensmittelrationen stiegen für diese Schwerstarbeit. Fett etwa 400 g/Monat, 500 g Brot und 100 g Fleisch in der Woche. Der tatsächliche Nährwert der Nahrung lag größtenteils bei etwa 700 Kalorien/Person/Tag. Salat aus Brennnesseln, Löwenzahn standen neben den erneut unvermeidlichen Rüben auf dem Speiseplan. „Brat mir einer einen Storch“ war nicht nur eine Redensart, aus berufenem Munde wissen wir, wie tranig er schmeckt. Auf dem Heiligen See schwamm kein einziger Schwan mehr, man war dankbar über jeden Rinderfuß, den man irgendwo erhalten konnte.

Meine Mutter erinnerte sich an diese Zeit:

„Nach dem Krieg haben viele Leute in ihren Wohnungen das eine oder andere Zimmer vermietet, weil viel zerstört war und die Leute auch Geld brauchten. So auch Ur-Oma und Ur-Opa! Sie hatten ihr Schlafzimmer an „Fräulein Lorke“ vermietet. Ihre Mutter wohnte eine Treppe höher, auch sehr beengt. Fräulein Lorkes Schwester lebte in New York und schickte regelmäßig Geld, Päckchen und Briefe und Karten. Sie kam auch einige Male zu Besuch. Ich kannte sie. Da ich als Kind sehr viel bei Ur-Oma war, kam ich natürlich auch viel mit Lorkes zusammen (Ur-Opa nannte sie immer die Misses). Ich ging gern zu ihnen, weil sie nicht nur sehr nett waren, sondern sie hatten (Fräulein Lorke) das ganze Bett voller schöner Puppen aus Amerika und ich durfte mit ihnen auch spielen. Einmal bekam ich wunderschöne, handgearbeitete „Opanken“, das waren Sommersandaletten aus beigem Leder, mit kleinem Absatz. Ringsherum mit zartgrünen Lederbändchen eingefasst und schmalem Fesselriemchen und kleiner Schnalle. Sie wären auch heute noch hoch modern! Fräulein Lorke hatte oben seitlich einen Goldzahn, der blitzte, wenn sie lachte und eine gutturale Stimme, vielleicht, weil sie rauchte. Ihre Mutter war eine richtige Omi, wie man sie sich vorstellt, alle jedenfalls sehr nett. Als dann im Hause etwas frei wurde, zogen sie zusammen und Ur-Oma hatte ihr Schlafzimmer wieder. Bis dahin schliefen sie in der kleinen Stube hinter der Küche. Diese Kleine Stube war dann noch viele Jahre immer wieder an Studenten der Pädagogischen Hochschule vermietet, die von Ur-Oma und Ur-Opa immer wie eigene Söhne behandelt wurden und es gut bei ihnen hatten. Es war für sie wie Familienanschluß. Ich muß immer wieder sagen, dass Ur-Oma und Ur-Opa sehr moderne aufgeschlossene Menschen waren mit sehr gutem Charakter! So etwas findet man heute selten, man muß auch sehen, aus welcher Zeit sie stammten und es auch noch andere Werte waren! Heute gibt es doch fast nur noch Egoisten!“

meine Mutter und Enkelin
Neue Zeit, 8.8.19451

Uropa hatten jedoch seine Arbeit bei Kesslau, da alle Betriebe, die in der Lage waren, Autoreparaturen durchzuführen, dringend benötigt wurden und zusammen bauten, was sich reparieren ließ.

Um des Hungers Herr zu werden, wurde im September 1945 die Bodenreformverordnung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) verabschiedet. Man hoffte, durch Enteignung und Neuverteilung ab 1946 die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln.

Jedoch brach 1946/1947 einer der strengsten Winter über Deutschland herein, der wie der Winter 1944/1945 zu einem Hungerwinter werden sollte.

Das folgende Jahr sorgte für eine erneute Inflation. In den westlichen Besatzungszonen wurde die Deutsche Mark eingeführt, nun wurden die dort wertlos gewordene Reichsmarkbestände in größeren Mengen in die SBZ gebracht, um sie einzutauschen gegen Waren. Diese Geldschwemme sorgte für eine Inflation, die faktisch über Nacht alle privaten Bargeldbestände in Ostdeutschland wertlos machten. Um diesen Geldfluss einzudämmen, wurde zwischen dem 24. und 28. Juni 1948 ein Bargeldumtausch durchgeführt.

Herman Wilhelm Seifert links, auf der Treppe sein Chef Herr Bormann und rechts dessen Sekretärin bei Firma Kesslau

Pro Person durften maximal 70 Reichsmark 1:1 umgetauscht werden. Spareinlagen im Betrag bis zu 100 Reichsmark wurden ebenfalls 1:1 getauscht, im Betrag von über 100 bis 1000 Reichsmark im Verhältnis 5:1, wer mehr besaß, musste die Herkunft des Geldes erklären. Oma erzählte dazu einmal, jetzt standen sie mit 40 Mark da, das war ihr ganzer Besitz, für den sie zuvor geschuftet hatten.

Trotz allem, es gelang ein Wiederaufbau der Stadt, die Menschen fanden sich in der neuen Ordnung zurecht, auch, als am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland und als Antwort darauf am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurden. Nun war es offiziell, man lebte als Familie in zwei getrennten deutschen Staaten.

Betriebsjubiläum bei Kesslau 1953, zwischen Uroma und Uropa sein letzter Geselle Willi, neben Uroma links der Chef Herr Bormann

Potsdam wurde im Sommer 1952 zur Bezirkshauptstadt des neu gegründeten Bezirks Potsdam. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 schien noch einmal die Hoffnung aufkommen zu lassen, als würde sich die Politik in ihrer Richtung ändern, ein Trugschluss.

So erlebte Uropa am 4. April 1956 sein 45. Betriebsjubiläum bei Kesslau, ehe er in Rente ging. Man konnte nach wie vor nach „West“-Berlin fahren, jedoch mehrten sich die Anzeichen, dass auch diese Möglichkeit bald verschlossen sein würde, da es der Regierung ein Dorn im Auge war, tausende Arbeitskräfte als  Grenzgänger im Westteil der Stadt arbeiteten lassen zu müssen. Dieses „Problem“ hatte sich seit der Währungsreform 1948 deutlich verschärft, die neue Deutsche Mark war ein Vielfaches einer DDR-Mark wert.

Zwischen 1949 und 1961 hatten rund 2,6 Millionen Menschen den „Osten“ verlassen, beinahe die Hälfte der Ost-Grenzgänger waren 1961 Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn, die übrigen darstellende Künstler, Musiker, hochqualifizierte Wissenschaftler und Techniker oder sie gehörten zum Personal der beiden christlichen Kirchen. In den Augen der Regierung entzogen sich diese „Verräter und Schmarotzer“ dem „Aufbau des Sozialismus“. Bei einer Besprechung zwischen Nikita Chruschtschow und Walter Ulbricht am 3. August 1961 in Moskau fiel die Entscheidung zur Schließung der Sektorengrenze am 13. August. Es folgte der Mauerbau, Symbol einer Teilung, die bis zum 10. November 1989 Bestand haben sollte.

Uroma und Uropa feierten am 7. Juni 1968 ihre Goldene Hochzeit und am 7. Juni 1973 ihre diamantene Hochzeit im Kreise ihrer Familie, die inzwischen angewachsen war um drei Urenkel.

Die diamantene Hochzeit war für mich ein besonderes Ereignis, es ging in den Potsdamer „Klosterkeller“ gegenüber meiner Schule. Es gab Kotelett und Uroma packte in einer Serviette den Knochen für den Schäferhund der Nachbarn ein, der auf dem Hof hinter dem Haus seinen Zwinger hatte. Mich amüsierte das ungemein, wo wir doch alles so fein angezogen waren, Uroma ihre beste Handtasche dabei hatte und diese Gaststätte eine damals wirklich begehrte in Potsdam war, wo Tische lange vorbestellt wurden. Alle anderen nicht verzehrten Speisen ließ sie ebenfalls einpacken, damit sie diese noch zu Hause verbrauchen konnte.

Sie kochte immer noch selbst und ich bin manches Mal nach der Schule zu ihr gegangen, um Mittag zu essen. Dann klopfte ich an die Scheibe und sie fragte, wer da wäre, da sie an Star erkrankt war und kaum noch sehen konnte. Weil Uropa Diabetiker war, hatte sie einen Trick, auf allem, was für ihn bestimmt war, Geschirr oder Eingewecktes, hatten sie einen dicken Farbklecks gemalt, den sie erfühlte. Ihre Hände waren vom vielen Arbeiten mit dicken Knoten gezeichnet und sie fasste daher immer in sehr heißes Abwaschwasser. Mich erstaunte immer wieder, wie sie das vertrug. Am Herd fühlte sie ebenfalls mit der Hand über die Flamme, ob sie an war, doch all das hielt sie nicht davon ab, ihrer gewohnten Hausarbeit nachzugehen.

Dieses lange gemeinsame Leben endete am 28. Oktober 1975, als Uropa nach einem Schlaganfall zu Hause verstarb. Uroma lebte danach im Luisenstift, ehe sie am 2. August 1983 für immer von uns ging. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits Ur-Ur-Großmutter.



Quellen: Privatarchiv
Wikipedia
1Neue Zeit, Mi. 8. August 1945, Jahrgang 1, Ausgabe 15, S. 3