„Sie aßen ihr Brot mit Sorgen und Tränen“
Mit der Erfindung der mechanischen Spinnerei und der Gründung der ersten fabrikmäßigen mechanischen Spinnerei auf dem europäischen Festland im Jahre 1783 durch Johann Gottfried Brügelmann in Ratingen begann der Niedergang der Handspinnerei. Sinkende Löhne und der enorme Beschäftigungsrückgang in der Handspinnerei zwischen 1787 und 1799 führten zu einer massiven Notlage der Flachsspinner und Leinenweber, da nun besonders feine Garne industriemäßig hergestellt werden konnten, nur Grobspinner hielten sich noch bis etwa 1817.1 Dazu kam die politische Lage in der Schweiz, nach zahllosen Kriegen erfolgte 1798 der Franzoseneinfall, am 19. Februar 1803 übergab Napoleon die „Acte de médiation, die Schweizer wurden zu französischen Vasallen. Die Gefahr, zum Militärdienst unter Napoleon herangezogen zu werden, wurde zu einem weiteren Auswanderungsgrund, da die Schweizer 16.000 Soldaten stellen mussten.2
Caspar Escher vom Glas (1755-1831), Kaufmann, Stetrichter und Rittmeister, wanderte nach der Liquidation seiner Handelsfirma mit drei Söhnen 1789 nach Russland aus3. Als Major in russischen Diensten schilderte ihm 1802 der Zunftschreiber und Hufschmied Düggeli4 in einem Schreiben die Notlage in der Heimat und bat Escher, bei der russischen Regierung ein Wort für die verarmten Menschen einzulegen. Escher widerstrebte das Unternehmen, von Regimentskameraden letztlich, doch überzeugt, ließ er sich vom russischen Minister des Innern, Graf Kochubey, ein formal mangelhaftes Siedlungsprivileg auf privater Basis ausstellen.5
Die Anwerbung erfolgte durch fünf Agenten und Veröffentlichungen in den Zeitungen überwiegend im Kanton Zürich. Die Aussicht auf 70 Hektar Land, 500 Rubel Startkapital, Steuerfreiheit, Religionsfreiheit und eine Befreiung vom russischen Militärdienst waren verlockend und schnell fanden sich über 200 marschbereite Auswanderungswillige. Auf ihr Drängen hin wurde der geplante Abmarsch im Frühling 1804 vorverlegt.
Am 30. September 1803 fanden sich in Konstanz die etwa 60 Kolonistenfamilien ein, sie kamen überwiegend aus Affoltern am Albis, Bonstetten, Hausen, Hirzel, Mettmenstetten, Seebach und Wallisellen, am 4. Oktober machen sie sich zu einer denkbar ungünstigen Jahreszeit auf den langen Weg. Nach einem Monat erreichten sie Wien, aus Geldnot konnten sie ihre Reise erst fortsetzen, als Escher 6.000 Gulden Reisegeld bekam. Das Unternehmen war für die russische Regierung inzwischen bereits eine Gefahr ihres internationalen Ansehens geworden, sodass man widerwillig eine Zahlung in Kauf nahm. Ende November ging es auf dem Landweg endlich weiter bis Rosenberg (Ružomberok). Das Winterquartier musste eingerichtet werden und den Kolonisten gingen erneut die Mittel aus. Daher reiste Escher, welcher in Begleitung seines Sohnes Fritz war, am 8. März 1804 nach Sankt Petersburg ab. Sie trafen am 26. März ein und erhielten nach langen Verhandlungen Geld für Podolien, sogleich nach Rosenberg (Ružomberok) zurückkehrend, konnte die Kolonne Ende Mai ihren Weg fortsetzen und erreichte im Juni die russische Grenze. Mitte Juli, 40 Tage später, erreichten 56 Familien endlich ihr Ziel Feodossija. Unter ihnen befand sich auch der Bonstettener Josobe Gilg, besser bekannt als Joseph Ille, mit seiner Familie, dessen Nachkommen sich später mit den Nachkommen meiner Ahnenfamilie aus Württemberg verbinden sollten.
Von dem versprochenen Siedlungsland war keine Rede mehr, die russische Bürokratie mahlte langsam und so hausten die Neuankömmlinge in der Steppe, bis sie nach langem Ringen Ostern 1805 eine Landzuweisung nahe der Handelsstraße von Simferopol nach Feodossija am Flüsschen Indol erhielten. Entgegen der Erwartungen gab es nur noch 23 Desjatinen Land pro Familie statt der üblichen 60 Desjatinen wie in anderen Landesteilen, doch nach dieser langen Reise fügten sich die Siedler in ihr Schicksal und gründeten in Erinnerung an ihre Heimat das Dorf Zürichtal.
Damit hatte Escher allerdings nichts mehr zu tun. Kurze Zeit nach der Ankunft auf der Krim hatte ihn eine Krankheit mit heißen und kalten Fieberschüben erfasst, sodass er bis Anfang März 1805 kränkelte. Daher hatte er die Schweizer Kolonisten aus den Augen verloren und wurde er seines Postens enthoben.4
Unterdessen machten sich Anfang Juni 1804 die nächsten Auswanderer auf den Weg. Rund 500 Familien aus den Kantonen Graubünden, St. Gallen, Solothurn, Zürich, Bern und Aargau hatten allen Warnungen ihrer Landesherren zum Trotz den Weg nach Konstanz gefunden und harrten der Abfahrt. In Konstanz schob man am 4. Juni 1804 das „Lumpenpack“ in den Kanton Thurgau ab. Aus dem Kanton Chur reisten am 1. Juni des Jahres weitere 400 Personen los, sie kamen aus dem Bretigau und Davos, ein weiterer Trupp bewegte sich ebenfalls Richtung Rhein, sodass sich die Regierung in Konstanz am 6. Juni erneut genötigt sah, rund 600 Personen zurück in die Schweiz zu schicken.
Angesichts dieser menschlichen Katastrophe erhielt Escher Aufenthaltsverbot im Kanton Zürich.6
Kaum einer der Siedler hatten ausreichend Erfahrung in der Landwirtschaft, die Krim war klimatisch ganz anders als die Schweiz, dazu kamen Heuschreckenplagen und Krankheiten. So starb die Hälfte der Einwanderer in den ersten Jahren, allein 1812 über 40 Erwachsene, als Ersatz kamen neue Siedler aus Süddeutschland und der Molotschna dazu und Zürichtal gedieh.
Um 1820 gab es das erste Gotteshaus, 1860 wurde ein Neubau eingeweiht, der auf einer Anhöhe zwischen Ober- und Unterdorf stand. Im selben Jahr wurde die Tochterkolonie Neu Zürich gegründet.
Bericht des Pastors Emil Kyber 1839
Am Bach stand eine Mühle, die Siedlung wuchs und zählte 1839 bereits 74 Hofstellen mit je rund 40 Morgen Land und 350 Einwohner.7
Wie die anderen Kolonistendörfer, die vom Militärdienst befreit waren, profitierte auch Zürichtal vom Krimkrieg (1853-1856), man konnte der russischen Armee Lebensmittel verkaufen und mit dem Gewinn Land erwerben, so wurden die Nachfahren der verarmten Schweizer wohlhabenden Bauern, manche gar Grossgrundbesitzer.
Zürichtal wurde die wohlhabendste und vornehmste deutschen Kolonie auf der Krim.
Die im Ersten Weltkrieg 1915 erlassenen Liquidationsgesetzen enteigneten die deutschen Landbesitzer, nach der Oktoberrevolution wurden diese Gesetze rückgängig gemacht, dafür wurde ab 1929 die Kollektivierung der Landwirtschaft verstärkt vorangetrieben. Einzelne Zürichtaler machten widerwillig mit, andere weigerten sich, sie wurden im Rahmen der Entkulakisierung „abgeholt“ und in den Ural deportiert.
Bereits seit der Oktoberrevolution kehrten viele Russlandschweizer in die alte Heimat zurück, mit Beginn der Zwangskollektivierung stieg die Zahl der Heimkehrer deutlich an. Anfang der 1930er Jahre wurde die Kirche geschlossen, der Turm gesprengt und der Gebäuderest als Kulturhaus genutzt.
Der Zweite Weltkrieg beendete die Geschichte der krimdeutschen Kolonien, rund 53.000 Nachkommen der einstigen Kolonisten wurden am 20. August 1941, noch vor Eintreffen der deutschen Wehrmachtsverbände „auf ewige Zeiten“ von der Krim vertrieben und nach Kasachstan deportiert.
Die beim Einmarsch der Truppen 1942 noch angetroffenen 960 Krimdeutschen wurden gemeinsam mit Deutschen aus dem Cherson, Nikolajev, Nikopol, Kiew, Charkow, Kriwoj-Rog, Melitopol, Mariupol, Dnipropetrowsk, Kirowograd und Saporoshje als Administrativumsiedler* in den Warthegau verbracht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg in Solote Pole (Zolotoe Pole – Золоте Поле – Caylav Saray) umbenannt, leben heute etwa 3.500 Einwohner in der Siedlung.
Die Krimdeutschen wurden erst 1964 rehabilitiert.
- Peter Dudzik: Innovation und Investition: Technische Entwicklung und Unternehmerentscheide in der schweizerischen Baumwollspinnerei, 1800 bis 1916; Chronos-Verlag, 1987
- Daniel Krämer: «Menschen grasten nun mit dem Vieh» Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17; Schwabe 2015 p216
- Zürcher Taschenbuch, Band 118, Beer, 1997, p300ff
- Walter P. Schmid: Der junge Alfred Escher: sein Herkommen und seine Welt, H. Rohr 1988 p23ff
- Reto Weiss, Marianne Härri: Actum 1803; Geschichten aus dem Zürcher Regierungsprotokoll zum kantonalen Neubeginn vor 200 Jahren, Chronos-Verlag 2003 p83
- Rudolf Arnold Natsch: Die Haltung eidgenössischer und kantonaler Behörden in der Auswanderungsfrage 1803-1874; Bern 1966 p27ff
- Bericht des Pastors Emil Kyber 1839
Wikipedia
*Administrativumsiedler – zumeist Russlanddeutsche, die auf administrativem Wege – aber Personen bezogen – im Laufe des Krieges Deutsche geworden waren