Fern der Heimat – Friedrich Seel

Manchmal ist es ein Zufall, ein Name, ein Ort, der Dinge zusammen fügt – Ahnenforschung ist oft wie ein Puzzlespiel, hat man ein Teil, fügt es andere plötzlich zu einem Bild zusammen. Was eben noch wirr aussah, ist nun ein Ganzes…

Eines dieser Puzzleteilchen ist auf dem Friedhof der Kriegsgefangenen des ersten Weltkrieges in Frankfurt/a.O. zu finden.

Tafel Kriegsgräberstätte Gronenfelde

Hier liest man „Seel, Friedrich 1880-04.01.19171, eine nüchterne Zeile, die eines der vielen menschlichen Kriegsschicksale beinhaltet.

Die Initiativgruppe “Kriegsgefangenenfriedhof Erster Weltkrieg in Frankfurt (Oder)”2 hat einen Auszug aus den Sterbebüchern des Standesamtes Frankfurt (Oder) (1914 bis 1921) veröffentlicht, hier kann man auf Seite 72 lesen:

Seel Friedrich
Russ. Kriegsgefangener Soldat seit Dezember 1914
Berufsschullehrer
* 06. 09. 1878 evangelisch
Wh. u. * Eugenfeld, Kreis Melitopol, Gebiet Saparoschje
oo Berta Seel, geborene Springer
Vater: Friedrich Wilhelmowitsch Seel Mutter: Anna Seel, geb. Strohm beide in
Eugenfeld/Ukraine
+ 04. 01. 1917 Wo? Eine Recherche erbrachte noch kein Resultat.
Im Sterbebuch des Standesamtes Frankfurt (Oder) bzw. in jenen der heutigen Ortsteile Frankfurts ist
Friedrich Seel nicht verzeichnet. Es ist zu vermuten, dass er aufgrund seiner Deutschkenntnisse und
Bildung in einem anderen Ort tätig war. Die Todesumstände sind nicht ganz geklärt. War es Mord oder
Selbstmord durch Strangulation? Über die Beerdigung von Friedrich Seel auf dem Kriegsgefangenen-
Friedhof Frankfurt gibt einen dokumentarischen Hinweis: Ein zeitgenössischen Foto von dem Grab mit
Inschrift des Namens und der Lebensdaten auf dem Holzkreuz, zu erkennen ist das Umfeld, welches zwei orthodoxe Kreuze zeigt. Somit ist klar, dass Friedrich Seel auf dem Frankfurter Kriegsgefangenen-
Friedhof seine letzte Ruhe gefunden hat.

Wer war nun Friedrich Seel tatsächlich?

Geboren wurde er als Friedrich Carl Seel am 23. August 18793 in Eugenfeld, sein Vater Wilhelm Seel (1845-vor 1915) war aus Neu Nassau, die Mutter Elisabeth Barbara Schill (1848-1915) aus Hochstädt. Diese Orte liegen im ehemaligen Gouvernement Taurien und gehören heute zur Ukraine. Außer Friedrich Carl sind mir noch 13 weitere Geschwister bekannt. Seine Mutter starb 1915 als Witwe, zu diesem Zeitpunkt waren bereits mindestens sieben ihrer Kinder verstorben, soweit ich das bisher ermitteln konnte. Die hohe Kindersterblichkeit war damals nicht ungewöhnlich, es gab viele Kinderkrankheiten, aber Medikamente zur Behandlung leider noch nicht.

Der Mitteilung aus Frankfurt/a.O. können wir entnehmen, er war Berufsschullehrer – es gab viele landwirtschaftliche Schulen, so dass anzunehmen ist, Friedrich war an einer dieser tätig. In Eugenfeld gab es eine landwirtschaftliche Schule, in Odessa konnte man Landwirtschaft studieren, ebenso in Dorpat, aber auch in Deutschland fanden sich viele der Kolonistennachkommen zu einer Ausbildung ein, um ihr Wissen dann in die Heimat mitzunehmen.

Friedrich heiratete Berta Springer (*1881 Alt Nassau)4, die genannte Anna Strohm (*1851) war nicht seine Mutter, sondern seine Schwiegermutter, verehelicht mit Andreas Springer (*1847). Woher die falschen Angaben kommen, ist für mich nicht ermittelbar – falsche Übertragung von Dokumenten oder gar bewusst falsche Angaben seinerseits als Kriegsgefangener?

Der Auszug des Kirchenbuches belegt uns die Eltern von Berta.

Dem Paar werden drei mir bekannte Kinder geboren: Otto Friedebert (1906-1977), Ernst Jakob (1907-1915) und Olga Christine (*1910).

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges verändert alles, Friedrich wird ihn nicht überleben.

Wie er nach Deutschland kam, ist nicht bekannt, vermutlich, wie viele der Kolonistensöhne, als Dolmetscher, da sie nicht nur deutsch sprachen – sondern hervorragend russisch, oft auch weitere Sprachen örtlicher Volksgruppen – nahmen die deutschen Truppen sie als Dolmetscher mit und entließen sie nach Endes des Krieges in Deutschland, hier habe ich bereits einige ähnliche Personalien ermittelt.

Über die Umstände der Gefangennahme ist nichts bekannt, nur, das er auf dem Frankfurter Kriegsgefangenenfriedhof Gronenfelde bestattet wurde.

Dieser entstand aus Notwendigkeit, da man in Frankfurt/a.O. 1915 ein Kriegsgefangenenlager geschaffen hatte, in dem bei Kriegsende 1918 noch 22.986 Männer interniert waren. Neben Briten, Franzosen, Belgiern, Rumänen, Serben und Italienern weit über 17.000 Soldaten der russischen Armee.

Die Bedingungen des Lagerlebens sorgten durch schlechte Ernährung und Krankheiten für zahlreiches Todesfälle, daher wurde im Sommer 1915 in Lagernähe ein gesonderter Friedhof angelegt, auf dem die Toten gemäß den Bestattungsritualen5 ihrer Religionen beigesetzt wurden.

Nur durch die Registrierung der Friedhofsverwaltung und ihrer Personenangaben, kann man heute auf ein Register2 mit 581 Namen zurück greifen.

Die Haager Landkriegsordnung von 1899/1907 gestattete Kriegsgefangenen die Ausübung ihrer Religion und Kultur, so entstand im nahegelegenen Eichenweg die Heilandskapelle.

Auf dem Foto das Richtfest 19156, ein einfacher Holzbau, im Volksmund „Russenkirche“, deren Gestaltung7 der Innenräume ebenfalls von den Kriegsgefangenen ausgeführt wurde.

Hier fanden Theateraufführungen, Konzerte, Gottesdienste und Lesungen für die Kriegsgefangenen aller Nationen und Religionen statt.

Nach Ende des Krieges verfiel die Kirche, ehe im Jahre 1923 der Heimkehrerbauverein gegründet wurde, der eine freie, zivile Siedlung aufbaute. Am 9. August 1925 gründete sich der „Verein zur Förderung des kirchlichen Lebens im Heimkehrlager“ und 1928 übergab der Magistrat der Stadt Frankfurt/a.O. die Kapelle der evangelischen Kirchengemeinde. Bei der feierlichen Einweihung am 2. September 1928 wurde ihr vom Generalsuperintendenten D. Vits der Name Heilandskapelle verliehen.8

Vielleicht ist dem einen oder anderen Leser mehr über die Familie des Friedrich Seel bekannt, dann würde es mich freuen, davon zu erfahren.

Sein Gedenken wurde in Frankfurt/a.O. für die Nachfahren bewahrt.

Was ich Ihnen erzählen kann, ist die Herkunft seiner Vorfahren. Der Urgroßvater von Friedrich, Johann Friedrich Seel, wurde am 16. Juli 1788 in Burgschwalbach geboren und wanderte mit Familie nach Alt Nassau in Taurien aus. Sein Vater Johann Jacob Friedrich (*1751) starb kurz nach der Durchquerung der Passstelle Grodno im Mai 1804, denn seine Ehefrau, Friedrichs Mutter Anna Sophia Sänger (1752-1834), trifft ohne ihn im Dezember 1805 in Taurien ein.

Ganz unbekannt war der Familie Russland jedoch nicht, bereits 1767 hatten sich Verwandte auf den Weg gemacht und lebten mit Familien in Kaltschinowka und Rundewiese.

Was ich ebenfalls berichten kann, ist die Geschichte ihres gemeinsamen Vorfahren, Johann Philipp Seel (1618-1680), ehemals hochherrschaftlicher Schultheiß von Burgschwalbach, der sich plötzlich in die Hexenprozesse von Idstein im Jahre 1676 verstickt sah und in deren Verlauf seine Ehefrau Anna Elisabeth „die alte Schultheißin“ (um 1604-1676) zum Tode verurteilt und verbrannt wurde.

Die Umstände waren nicht vorhersehbar und erscheinen aus heutiger Sicht makaber, trotzdem möchte ich sie hier kurz anreißen, da Anna Elisabeth eine Erwähnung verdient hat.

Ihr gemeinsamer Sohn Johann Jakob (+1690) – Kirchensenior und Schultheiß in Burgschwalbach – ehelichte am 20. September 1666 die Tochter des örtlichen Pfarrers, Anna Veronica Heymann. Das junge Mädchen hatte am 20. November 1668 ein totes Söhnlein zur Welt gebracht unter schweren Geburtsumständen und starb Tags darauf.9

Ihr Vater, Pfarrer Johannes Heymann (um 1619-1690) zeigte daraufhin die anwesende Hebamme und die Schwiegermutter Anna Elisabeth Seel als Hexen an, da er glaubte, sie hätten seine Tochter mit Verzauberung und das tote Enkelkind durch teuflischen Segen (es erhielt einen Nottaufe unter der Geburt) umgebracht.

So nahm der Hexenprozess mit seinem gut dokumentierten Fragenkatalog seinen Lauf, die Frauen wurden angeklagt und beschuldigt. Die Liste der Vorwürfe erweiterte sich erheblich, es wurden Zeugen befragt, darunter die eigene Familie und Anna Elisabeth antwortete wahrheitsgemäß, was ihr letztlich als Hexerei ausgelegt wurde.

So wurde am 23. Oktober 1676 das Urteil gefällt: „….Zu wohl verdienter straf undt anderen zu einem abscheulichen Exempel mit dem Feuer vom Leben zum Todt hinzurichten undt zuverbrennen seye…“10

Wer meint, das Zeitalter der Hexenverfolgung wäre vorbei, der sei eines Besseren belehrt, am 10. August ist der Internationale Tag gegen Hexenwahn, der an die heutigen Opfer weltweit erinnert und unsere Aufmerksamkeit darauf lenken soll, wie man im Namen von Religionen und Ideologien Menschen ausgrenzt, ihrer Würde beraubt, sie verurteilt und um Leben, Gesundheit, Heimat, Familie, Hab und Gut bringt.

Quellen:

1 Foto der Gedenktafel 24 August 2019, Sebastian Wallroth, Creative Commons Attribution 4.0 International

2 Projekt: Kriegsgefangenenlager Gronenfelde, Viadrina Frankfurt/a.O., 2018

3 FamilySearch, Kirchenbuch Eugenfeld 1880

4 FamilySearch, Kirchenbuch Molotschna 1881

5 wikimedia, Frankfurt an der Oder, Kriegsgefangenenlager, Beerdigung von Verstorbenen, Friedhof

5 wikimedia, Frankfurt an der Oder, Kriegsgefangenenlager, Beerdigungszug eines russischen Gefangenen

6 wikimedia, Heilandskapelle Frankfurt (Oder). Richtfest 1915 aus:
Monumente. Magazin für Denkmalkultur in Deutschland. 28. Jahrgang, Nr. 5. Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Oktober 2018, ISSN 0941-7125, S. 60

7 wikimedia, Kirchenschiff der Heilandskapelle, 21 March 2007, Förderverein Heilandskapelle, Lothar Schneider, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany

8 wikimedia, Heilandskapelle in Frankfurt (Oder), Deutschland. 9 August 2008, Sebastian Wallroth, public domain

9 archion, Kirchenbuch Burgschwalbach-Diez, Beerdigungsregister 1661-1716

10 arcinsys Hessen, HHStAW Bestand 369 Nr. 371, Untersuchungsprotokoll gegen Anna Elisabeth Seel aus Burgschwalbach wegen Zauberei 1676

wikipedia

weitere Informationen zur Heilandskapelle und hier

weitere Informationen zur Hexenverfolgung auf der Gemeindeseite Hahn-Taunus

Autor, Recherche

Jutta Rzadkowski, 28.06.2023

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