Die Prischiber Wolost

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

Zur Geschichte Süd Russlands

Die Prischiber Wolost [Anmerkung – Volltext als pdf],2 Zusammen gestellt von Emil Blank, eingesandt von Jakob Sommerfeld, Karlsruhe im Kaukasus, Fortsetzung1

In den ersten Jahren der Ansiedlung gingen die Wirthschaften flott aus einer Hand in die andere, oft für ein Butterbrot, denn manchen fiel die Bodenbearbeitung doch gar zu schwer. Solche Landmüde griffen dann wieder zur Ahle, Nadel und Zwirn, und lagen ihrem Handwerker ob. Und das war einestheils gut, Handwerker müssen eben auch sein. In den letzten 10 Jahren sind die Wirthschaften ganz anormal gestiegen. Man zahlt für eine Wirtschaft bis zu 2700 Rubel. Diese Preise stehen in keinerlei Verhältnis zu den Einnahmen. Schließlich möchte ich auch noch einen wunden Punkt unseres Gemeindelebens aufmerksam machen, wobei ich hoffe, dass unsere Vordermänner auch eine Lanze dafür brechen werden. Es fehlt bei uns an einem Altenheim, an Krankenhäusern, an Armenasylen, an Stipendien für arme aber begabte Kinder. (Der Juni 1912 muss der einst mit goldenem Stichel in die Annalen der Geschichte der Prischiber Wolost eingegraben werden. An diesem denkwürdigen Tage kam ein S´chodbeschluss zustande, nach welchen bestimmt wurde, aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums des Vaterlandskrieges, zwei neue Zentralschulen zu gründen in Heidelberg und in Hochstädt, der Prischiber Zentralschule eine pädagogische Klasse beizugeben und 24 Stipendien für arme, aber begabte Schüler, zu je 200 Rubel zu stiften.

Zum Bau der beiden Zentralschulen wurden je 15.000 Rubel bewilligt und weitere 15.000 Rubel, auch einmalig, der von Pastor Stark gegründeten landwirtschaftlichen Schule in Eugenfeld zugewiesen. Zum Bau der pädagogischen Klassen wurden 6.500 Rubel bestimmt. Ferner wurden vom S´chod zum jährlichen Unterhalte der Schulen genehmigt je 5.600 Rubel für die neu zu gründenden Zentralschulen und die Ackerbauschule Eugenfeld und 4500 Rubel für die pädagogische Klasse.

Landwirtschaftsschule Eugenfeld3

Die Hauptsumme der Stipendien beträgt 4800 Rubel. Alle diese Summen sind dem Landlosenkapital zu entnehmen, was ja ganz natürlich ist, da auf diese Weise ja auch viele landlose Bildung erhalten und leicht ihrem Vorkommen finden, auch ohne Land. Ehre den Männern, die durch Gewandtheit und Ausdauer es endlich durchgesetzt haben, dem vielköpfigen S´chod eine solchen höchstwichtigen Beschluss abzuringen, denn schon nahe an fünf Jahre ist die Schulfrage oft ventiliert, doch nie zu Ende geführt worden, weil keine Einigkeit zu erzielen war. Vor allen anderen ist der Erfolg vom 12. Juni 1912 dem Prischiber Verlagsbuchhändler Gottlieb Schaad, der schon vor 5 Jahren zurück zusammen mit einer Kommission ein Projekt im Schulangelegenheiten ausarbeitete und dem der S´chod schon im Jahre 1911 in einer anderen Angelegenheit seine Erkenntlichkeit aussprach, sowie dem derzeitigen Oberschulzen Gottlieb Littig, Pastor Stachaus aus Eugenfeld und Friedrich Heine Junior, die die Schulsache so warm dem S´chod ans Herz legten, zu verdanken. Möchten sich in der Folgezeit noch recht viele Männer finden, deren Namen der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdienen, sehr viel wäre über analoge Ereignisse zu berichten, aber der Raum gestattet es nicht. Das Jahr 1914 wird jedoch ein kurzes Schlusswort bringen, in welchem etwaige, hier nicht erwähnte wichtige Geschehnisse kurz gestreift werden können. –

Haus des Buchhändlers Gottlieb Schaad (*1859, + nach 1936) in Prischib, die Familie in ihrem Gefährt4

– (Anmerkung)

Solls so bleiben? Seht die Mennoniten jenseits der Molotschna an, sie haben dies alles und noch viel mehr. Warum? Weil bei ihnen weniger eingefleischte Egoisten sind, die nur an sich denken und weil bei ihnen weniger Misstrauen den Vordermännern gegenüber zu finden ist. Wohl fast in jeder unserer Kolonien finden sich einsichtsvolle Männer, die gern einer guten Sache dienen möchten, lasst sie gewähren, setzt ihnen nicht starköpfige Unbeugsamkeit entgegen und wir werden auch bald alle nötigen Einrichtungen haben. Die Elementarlehrer bekommen eine Gage von 500 bis 600 Rubel, dass sie davon nicht leben könne, bei den heutigen Verhältnissen, ist klar, deshalb ist auch kein warmpulsierendes Leben im Lehrerheim zu finden, die Sorgen drücken das arme Schulmeisterlein und dieses findet auch ein starkes Echo im Unterricht. Wer wollte deshalb den Lehrer tadeln! Darum schafft dem Lehrer ein menschenwürdiges Dasein und ihr werdet den Segen an euren Kindern spüren.

Der Konfession nach zerfällt die Prischiber Wolost in zwei evangelisch-lutherische und zwei katholische Kirchspiele: 1. das Prischiber Kirchspiel mit Pastorat und Kirche in Prischib, dazu gehören 10 Dörfer. 2. Das Hochstädter Kirchspiel mit Pastorat und Kirche in Hochstädt, dazu gehören 9 Dörfer, die Heidelberger Pfarrei Pfarrdorf Heidelberg und 4. die Kostheimer – Pfarrdorf Kostheim, mit je 4 Kolonien.

Karte Prischib, Schlatter, Reisen 1822-18265

Während vor 30 – 40 Jahren zurück nur 1 Arzt, 1 Feldscher und 1 Apotheke auf die ganze Wolost kam, sind heute 4 Doktorbezirke mit ebenso vielen Apotheken: Prischib, Hochstädt, Heidelberg und Reichenfeld. Seit drei vier Jahren sind in der Wolost Postabteilhung eingerichtet worden, eine in Prischib und eine in Hochstädt. In Prischib hat sich auch ein Notarius niedergelassen.

Prischib ist der Mittelpunkt aller 27 Kolonien des Prischiber Gebietes und 50 Werst von der Kreisstadt Melitopol entfernt. An die Eisenbahnstation Prischib hat es 18 Werst. Wie auch Tiefenbrunn, Walddorf, Altmontal, Hoffenthal, Alt Nassau, Weinau und Durlach, liegt am Fuße einer Hügelkette, welche sich von Nordosten her ausbreitend an vielen Krümmungen südwestlich ins Asowsche Meer hinabsenkt. Der Molotschnafluß trennt hier das Prischiber Gebiet von dem Halbstätter; er ist zugleich Grenzfluss zwischen dem Melitopoler und Berdjansker Kreise. Vom Gipfel der Hügelkette aus sieht man in weites herrliches Thal. Prischib wurde gerade bei der Vereinigung der zwei Steppenflüsschen Tokmatschka und Tschingul angelegt und von hier aus heißt der Fluss im Molotschna. Bei der Ansiedlung war die Molotschna wasserreich, in der Jetztzeit ist dieselbe aber an manchen Stellen so verschlammt, dass sie in der heißen Jahreszeit teilweise austrocknet.

Prischib wurde im Jahre 1804 von 61 Familien mit 176 Seelen beiderlei Geschlechts begründet, welche heute eine Seelenzahl von 810 (410 männl. und 400 weibl.) entgegen steht, während in allen übrigen Kolonien die Bewohner entweder alle evangelisch-lutherisch oder katholischen Glaubens sind, ist die Einwohnerschaft Prischibs gemischt. 11/ 12 etwa ist evangelisch und 1/ 12 katholischer Konfession. Erstere haben eine Kirche, zu welcher 1811 der Grund gelegt, dann aber wurde der Bau wegen des Einfalls der Franzosen im Jahre 1812 eingestellt und erst 1823 zu Ende geführt. In zwei Raten gab die Regierung dazu aus dem Reichsschatze 60.000 Rubel Banko. Die Kirche ist nur klein und entspricht der Räumlichkeit nach lange nicht der Seelenzahl dieses Kirchspiels. Kein Kirchspiel hat wohl so wenig getan für seine Kirche als das Prischiber.

Kirche Prischib6

Die Katholiken haben ein Bethaus im gemietheten Raume. Im Ort ist also ein Pastor und ein Pfarrer. Da in Prischib sich auch die einzige Schule befindet, die ungefähr den unteren drei Klassen eines Gymnasiums abzüglich Französisch und Lateinisch entspricht, nämlich eine Zentralschule, so sind beide Geistliche zugleich auch Religionslehrer für die Schüler ihrer Konfession. Da wir gerade von der Zentralschule sprechen, so wollen wir auch eine kurze Beschreibung derselben geben. Das erste Zentralschulgebäude wurde von dem verstorbenen Großgrundbesitzer Falz-Fein dem Gebiete zur Eröffnung einer Zentralschule geschenkt. Dieser Mann hat also viel, sehr viel, für die Kolonien gethan, denn mancher brauchbare Mann unserer Kolonien verdankt sein Wissen und Können dieser Schule.

1873 wurde die Zentralschule mit einer Lehrkraft eröffnet. 1900 wurde die Zentralschule in ihr neues Heim auf dem Berge überführt. Es ist ein prächtiger Bau, welcher etwas über 30.000 Rubel kostete. An der Schule arbeiten 8 Lehrer ohne die Religionslehrer evangelischer und katholischer Konfession. Bibliothek und physikalisches Kabinett sind gut eingerichtet. Außer der Zentralschule hat Prischib noch eine von einem Verein gegründete Mädchenschule, die in gemietheten Räumen untergebracht ist und, was den Kostenpunkt anbelangt, noch auf schwachen Füßen steht, denn so weit sind unsere Kolonisten noch nicht, dass sie diese Schule aus allgemeinen Mitteln unterhalten; es fehlt noch an der vernünftigen Einsicht. Ein Hoch den Männern, die dieses Werk trotz aller Schwierigkeiten dennoch zustande gebracht haben. An der Mädchenschule arbeiten 6 Lehrkräfte, – An der zweiklassischen Elementarschule arbeiten 4 Lehrer in 4 besonderen Klassenzimmern. Die Taubstummenschule, von dem im Jahre 1903 ermordeten Pastor Baumann ins Leben gerufen, hat zwei Lehrer: Theodor Hoffmann und Sohn aus einer Lehrerfamilie stammend. Die Taubstummenschule hat ihren eigenen Hof und Gebäude. Auf der Hauptstraße befinden sich kaum sichtbar ein zweistöckiges schönes Gebäude. Es ist dies das Gebietsamt, in dem auch gleichzeitig das Wolostgericht untergebracht ist.

Taubstummenanstalt Prischib

Ein schönes Haus hat auch der jetzige Besitzer der bekannten Schaadschen Buchhandlung – Gottlieb Schaad – in der Hauptstraße ausführen lassen. Hofwärts befindet sich die Schaadsche Buchdruckerei.

Wohnhaus des Gottlieb Schaad in Prischib, später Wohnheim für Studentinnen7

Früher bestand die Hauptbeschäftigung der Bewohner aus Ackerbau. In der neueren Zeit ist aber Handel und Gewerbe vorherrschend. Die meisten Wirthschaften werden an die unwohnenden Russen verpachtet. Es sind nur noch 16 – 18 Wirthe die ihre Felder selbst bestellen. Demgemäß liegt hier auch die Viehzucht im Argen. – Die Kohlgärten, welche ein schönes Stück Geld eingebrachten, sind jetzt verschwunden, dagegen bringt der Obstbau immer noch etwas ein. Prischib hat 3122 Dessj. Land bei 113 Hofstellen, wovon 469 Dessj. Unland sind. Auf besondere Reinlichkeit der Straßen, besonders um den einzigen Glöcklerschen Gast- und Auffahrtshof herum, darf Prischib keinen Anspruch machen. Prischib hat eine Postabtheilung, 1 Apotheke, 1 Apothekermagazin 1 Eisenhandlung, mehrere Manufaktur- und Bakalei-Handlungen, Friseurladen, 1 Eisenfabrik, 1 großen Holzhandel, 1 Zementfabrik, 2 Ziegeleien, 1 Lederfabrik, 1 Gerberei, 1 Bierbrauerei, Mehlhandel, mehrere Weinkeller, Wagenfabriken, Tapezierer, Schneider, Schuster. Ein Telefon verbindet das Gebietsamt mit der Kammer des Landvogts (Michailowka) und der Kreisstadt Melitopol. Alljährlich nehmen die Bauplätze immer mehr und mehr Raum ein und die Seelenzahl wird bedeuten vermehrt durch Zuzug aus anderen Gegenden. – Die an der Elementarschule schon lange mit Treue wirkenden Lehrer Johann Hoffmann und F. Schamota sind bis jetzt trotzdem im Dorfe genug Intelligenz, gewesene Gebietsschreiber, Lehrer und sonst gebildete Gemeindeglieder vorhanden sind, noch immer mit recht stiefmütterlicher Gage bedacht worden, von einer besonderen Dankbarkeit gar nicht zu reden.

Besondere Trachten giebt´s in Prischib wie in vielen anderen Kolonien nicht mehr, die meisten tragen sich städtisch und da passiert es öfter, dass man wahre Zwittergestalten zu sehen bekommt, die ihr Benehmen mit der Modekleidung einfach nicht in Einklang zu bringen verstehen, so dass trotz seinem Äußeren der Pfauenfuß auf Schritt und Tritt zu bemerken ist, auch erst unlängst, dass Frauen und Mädchen wie zum Bali geschmückt den Abendmahlsgottesdienst besuchten und dadurch großes Ärgernis erregten.

Fortsetzung folgt 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 13.03.1913, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Die Prischiber Wolost von Emil Blank erschien in: Neuer Haus- und Landwirtschaftskalender für deutsche Ansiedler im südlichen Russland. 45. Jahrgang (1913), Odessa : Nitzsche, 1913, p 107-133

3Jahresbericht der Landwirtschaftsschule zu Eugenfeld für das Schuljahr 1910-1911, Bundesarchiv Berlin, R 57/7304, public domain

4 Als ihre Zeit erfüllt war 150 Jahre Bewährung in Russland, Quiring, Dr. Walter; Bartel, Helen, Published by Modern Press, Saskatoon, Saskatchewan, Canada, 1963, p74

5 Bruchstücke aus einigen Reisen nach dem südlichen Russland, in den Jahren 1822-1828 : mit besonderer Rücksicht auf die Nogayen-Tataren am Asowschen Meere ; Daniel Schlatter; St. Gallen : Huber und Comp., 1830

6 Heimatkalender der Russlanddeutschen 1957

7 Original unbearbeiteter Ausschnitt des Bildes aus unbekannter Quelle im Stammbaum Prieb

8 Anzeigen der Volkskalender 1913/14

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