Ach Tantchen, erzähl doch mal von Friedland….

Nun sitze ich hier mit einer Tasche voller Erinnerungen. Ich wusste nicht, was mich beim Öffnen erwarten würde. Stück für Stück entnahm ich ihr ein Foto, ein sorgsam gefaltetes Blatt und begann mit jedem Fundstück weiter in meine eigenen Erinnerungen zurückzuwandern.

Vor ein paar Jahren saßen wir bei Kaffee und Kuchen und tauchten in die Geschichte einer Heimfahrt ein, die wir zuvor intensiv vorbereitet hatten.

Wie es manchmal der Zufall will, sollte die Reise in ein Kurhotel gehen und die Entfernung nach Friedland schien mit einer Taxifahrt überbrückbar zu sein. So wurden Stadtpläne gesucht, vor allem aus der Zeit vor dem Krieg, denn man musste sich zurechtfinden können. Das Internet sollte Auskunft geben, was einen erwarten könnte. Alles wurde gründlich studiert und die eigenen Grenzen diskutiert. Wie würde es sein, so viele Jahrzehnte nach dem Krieg? Würden einen die Erinnerungen überwältigen, kann die Gesundheit verkraften, was man vorfinden wird?

Am Ende siegte die Neugierde über alle Ängste, es musste einfach sein, wenn nicht jetzt – wann dann???

Bereits einmal waren Angehörige in der alten Heimat gewesen, das mochte bald drei Jahrzehnte her sein, sie hatten jedoch nicht die Erinnerungen, die ein Mensch hat, der dort geboren wurde, den Kindergarten besuchte, in die Schule kam.

Die Fotos, die sie machten, waren jedoch bereits ein herber Schlag. Das geliebte Vaterhaus, wie sah es nur aus! Was war aus dem Heim der Großeltern geworden! Hinter dem Haus lag der Garten, hier wurde der Sommer verbracht, die Mutter hegte und pflegte ihn, ein wunderbarer Platz zum Spielen mit der Freundin und dem Bruder.

Genau gegenüber lag Vaters Schuhmachergeschäft, auch hier wurde neben der harten Arbeit viel gescherzt und gelacht. Mutter fotografierte gern und so blieb manche Erinnerung auch fotografisch für die Nachwelt erhalten.

Da stehen sie beide, Vater in der Lederschürze, Mutter neben ihm.

Sie erzählte gern, wie sie dem Vater einen Streich spielte. Die Männer schliefen nach der harten Arbeit und dem Feierabendbier, das sie manchmal tranken, tief und fest ein. So fest, dass man sie nicht wecken konnte. Natürlich wollten sie das nicht glauben. So stellte sie eines Tages ihre Fotoausrüstung auf, spannte Laken und Tücher, damit das Licht des Magnesiumblitzes auch wirklich die Schlafenden beleuchtete, da es ja spät am Abend war und dunkel in der Werkstatt.

Das Bild entwickelte sich danach und präsentierte es den vollkommen überraschten Männern.

Mit diesen Erinnerungen fuhr sie nun Friedland entgegen. Wo sollte sie aussteigen? Der polnische Taxifahrer war überaus freundlich. Sollte er sie bis vor die Tür fahren? Nein, sie entschied sich anders, nur bis zum Marktplatz, von dort wollte sie laufen. Sie wollte mit ihren Gedanken allein sein und die Knie würden schon durchhalten, ihretwegen war die Kur. Die Jahre der Arbeit auf der Neubauernstelle hatten ihre Spuren hinterlassen. Neben ihrem Beruf als Hauptbuchhalterin der LPG hatte sie ihrem Mann immer geholfen, das Vieh zu versorgen und den Acker zu bearbeiten. Fünf Kinder hat sie ihm geboren und jetzt, da sie schon seit Jahren verwitwet war, musste sie diesen Gang allein gehen. Nur für sich.

Sie hatte sich entschieden, bis zum Marktplatz sollte er sie bringen. Hier, vom Ring aus, waren es nur wenige Minuten zum Brauberg. Vor Jahren wurden von dem Besuch Fotos mitgebracht. Viel schien sich nicht verändert zu haben.

Sie erinnerte sich noch genau, wie sie als Kind durch die Laubengänge hüpfte. Hinter den Schaufenstern gab es viel zu sehen, so manches Mal drückte sie sich die Nase an den Scheiben platt. Doch eines Tages war auf einmal alles anders, Scheiben waren vernagelt und sie gruselte sich ein wenig vor ihnen, sie wirkten wie tote Augen in den dunklen Gängen.

Viele Geschäfte waren nicht mehr geöffnet, aber es gab auch nicht mehr viel einzukaufen in Friedland, der Krieg war inzwischen ausgebrochen, doch was wusste sie schon davon … als Kind ….

Ihre Schritte beschleunigten sich, der Stadtplan lag vergessen in der Handtasche. Hier entlang ging es heim, diese Straße kannte sie genau. An deren Ende würde sie zu Hause sein.

Die Mutter hatte sie hier mit ihrem Bruder Reinhold fotografiert. Was hatten sie für Spaß im Schnee, und den gab es reichlich, damals…

Während ihre Schritte immer schneller wurde, vergaß sie ihr Alter, was eben noch blass in der Vergangenheit lag, begann an Farbe zu gewinnen und kehrte nun mit Macht zurück.


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