Am 7. Juni 1913 heiratete Uropa Wilhelm in Altlandsberg Anna Marie Luise Paul. Uroma wurde dort am 28. Februar 1893 geboren.

Von Beruf war sie in jungen Jahren Weißstickerin der Kaiserin Auguste Victoria.

Die Weißstickerei, beschränkt sich auf Verzierung der Wäsche und des Tischzeugs in Leinwand oder Baumwolle. In der so genannten französischen oder hugenottischen Weißstickerei herrscht mehr der Plattstich, in der englischen (der durchbrochenen Arbeit) der Bindlochstich vor; doch kommen bei beiden noch der Languettenstich und verschiedene Phantasiestiche zur Anwendung. Die venezianische Weißstickerei, bei der stellenweise der Grund nach der Arbeit entfernt wird, so dass die durchbrochenen Stellen durch feine Fadenverschlingungen gefüllt werden, streift schon nahe an die Spitzennäherei.

Sie beherrschte das Sticken und Nähen außerordentlich gut, was ihre Wäsche zu Hause bewies, dort gab es auch sehr schöne Gobelins, sie hatte unter anderem zahlreiche Kissenplatten mit diesen Millimeter großen Stichen bestickt, die Geduld dafür habe ich immer sehr bewundert.

Das junge Ehepaar zog in die Junkerstrasse 54 in Potsdam, hier kamen mein Opa Fritz und dessen Bruder Heinz zur Welt.

Leider war ihre Freude an der jungen Ehe schnell getrübt, da der Krieg über sie herein brach. Wie es meinen Urgroßmüttern und ihren Kindern erging, kann man sich vielleicht besser vorstellen, wenn man sich meine Ausführungen über den Steckrübenwinter 1916/1917 in Erinnerung ruft.

Zu dem Foto der beiden Söhne erzählte meine Mutter mir folgende Familiengeschichte:

„Sie sind im Sommer immer für 4-5 Wochen nach Kapsdorf in ihre schlesische Heimat gefahren. Ur-Opa hatte dort noch 4 oder 5 Geschwister, die dort ihr Land hatten und Bäcker oder auch Fleischer waren. Die Ur-Oma fuhr also mit den beiden Jungs, mit dem Zug vom Schlesischen Bahnhof ab. Sie mußten früh aufstehen, da war es noch dunkel und später im Zug, als es hell war, sah sie, dass Opa in seinem Anzug wie in einer Presswurst saß und Onkel Heinz in seinem fast ertrank. Im Dunkeln hatten sie die Anzüge vertauscht !

Ur-Oma, sie hatten damals auch nicht viel Geld, fuhr mit den Jungs von einer Verwandtschaft zur anderen, und nähte und flickte und besserte Wäsche und Kleidung bei ihnen aus. Die Kinder erholten sich, bekamen frische gute Sachen zu essen, denn alle hatten Landwirtschaft und Viehzeug. Sie lernten so ihre Cousins und Cousinen kennen, Onkel u. Tanten und lernten auch gleich, wo die Kälbchen, Ferkel und Küken her kommen. Sie hatten den Stadtkindern so Einiges voraus ! Wenn Ur-Oma in den 4 Wochen so fast alle besucht hatte, kam Ur-Opa für die letzten 14 Tage und holte sie ab. Im Gepäck dann schöne Dinge, wie frische Eier, Speck und Wurst, selbst gebackenes Brot und Geschlachtetes, das dann noch eine Weile an die schönen Ferien in Schlesien erinnerten. Noch eine Anekdote aus dieser Ferienzeit: Opa und Onkel Heinz liefen dort, wie die Dorfkinder, natürlich barfuß. Opa war in einen Kuhfladen getreten, die „Schiete“ quoll durch die Zehen und Opa sagte zu Onkel Ernst, dass er in „Muh-AA“getreten ist, der sagte: „Was, „Muh-AA“ ? Kuh-Scheiße ist das!!!“ Wir haben mit Opa alle gelacht, es war immer nett, wenn wir von „Alten Zeiten“ gesprochen haben.“

Kaum war der Krieg zu Ende, kehrte Uropa an seinen angestammten Arbeitsplatz zurück. Arbeit gab es genug, jedoch gelang es zunächst in keinster Weise, wirtschaftlich voran zu kommen. Deutschland hatte als Folge des Krieges Reparationen zu leisten, das Geld verlor von Tag zu Tag mehr an Wert, die Kaufkraft schwand dahin. Am 15. Juli 1920 erhielt man in Potsdam einen 50 Pfennig Gutschein als Notgeld. Eine neue Auflage vom 28. November 1921 war mit verschiedenen Soldatenmotiven sehr ansehnlich, aber faktisch wertlos.

Politisch gärt es gewaltig im Staat. Bereits am 13. März 1920 versuchten rechtsgerichtete Militärs durch einen Putsch in Berlin die Regierung zu übernehmen und die Weimarer Republik zu stürzen. Weitere Unruhen fanden 1921 statt, am 24. Juni 1922 wurde der Reichsaußenminister Walter Rathenau durch einen Attentäter im Grunewald erschossen. Schließlich marschierten am 11. Januar 1923 französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet ein, da sich die Reparationszahlung geringfügig verzögert hatte. Die Reichsregierung proklamierte den „passiven Widerstand“, der folgende Generalstreik lähmte die Wirtschaft. Nun geriet die Inflation völlig außer Kontrolle, im November 1923 zahlte man 4,2 Billionen Deutsche Papier-Reichsmark für einen US-Dollar. Im Dezember 1918 erhielt man diesen noch für 7 RM!!

Der 100 Millionen Schein wurde nicht einmal mehr auf der Rückseite bedruckt, da man mit der Gelddruckerei gar nicht mehr hinterher kam. Oma erzählte dazu immer, wie sie als Kind einen Millionenschein fand und dachte, nun sei sie reich. Voller Freude lief sie zum Krämer und war schwer enttäuscht, als es dafür nur einen Schokoladenmaikäfer gab.

Sie erzählte aber auch, wie die Frauen zum Fabriktor liefen, um freitags dem Wochenlohn ihrer Männer in Empfang zu nehmen und eiligst einzukaufen, da man am Montag für das Geld schon nichts mehr bekam. Ein 1000g Brot kostete zuletzt 428 Milliarden Mark in Berlin.

Die Inflation bedeutete für Uropa ebenfalls einen Verlust ganz anderer Art. Ihm sollte sein Erbteil ausgezahlt werden, er hatte die Wahl, ob er Geld möchte oder Immobilienbesitz in Schlesien. Seine Brüder hatten dort alle vom Vater ein Haus mit Grund und Boden erhalten, in dem sie ihr Handwerk ausübten. Uropa hatte sich dagegen entschieden und meinte, seine Entscheidung sollte uns eine Lehre sein, Land bleibt, Geld ist „futsch“, seines reichte noch, um sich einen Mantel dafür zu kaufen.

Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung Berlin2

Um der Verelendung Einhalt zu gebieten und eine erneute Hungersnot abzuwenden, wurde Ende 1923 eine Währungsreform durchgeführt. Eine Billion Mark wurde in eine Rentenmark getauscht und sorgte dafür, dass sich das Leben ab 1924 wieder normalisierte.

Eine neue Sorge bahnte sich für meine Urgroßeltern im Winter 1926/1927 an, als ein Hochwasser die Pegelstände von Nuthe und Havel bedrohlich steigen ließ. Die Wiesen zwischen Horstweg und Schlaatz standen ebenso unter Wasser, wie der Park von Sanssouci und die Bahnlinie im Wildpark. Da weite Teile Potsdams auf einem sumpfigen Untergrund erbaut wurden, stieg das Wasser in den Kellern und flutete das Heizmaterial ebenso, wie das Eingeweckte. Dazu erzählte meine Grundschullehrerin einst, wie sie als Kind in der Zinkwanne im Keller der Großeltern zum Regal mit dem Eingeweckten paddelte. So lustig es sich anhörte, so gefährlich war das für die Gesundheit der Stadtbewohner. Nässe und Kälte bringt Erkrankungen mit sich, Typhus war Potsdamern nicht unbekannt, doch nun brach mit dem Beginn des Jahres 1927 eine erneute Grippe-Epidemie aus.

Trotz allem, innerhalb kürzester Zeit änderte sich das Leben, man ging zu Sportveranstaltungen, saß am Rundfunkgerät, legte Schallplatten auf und ging tanzen. Die „Goldenen Zwanziger“ wurden für viele zum „Tanz auf dem Vulkan“, am 24. Oktober 1929 kam es zum Börsencrash in New York, dieser läutete die Weltwirtschaftskrise ein.

Die Folge war auch in Deutschland zu spüren, Anfang 1931 waren bereits fünf Millionen Menschen als arbeitslos registriert. Der Deutsche war schon damals ein Protestwähler und machte bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 wutentbrannt sein Kreuz bei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), 37% der Stimmen entfielen auf einen wortgewaltigen Mann, der ein neuer „Heilsbringer“ sein sollte. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler wurde nicht nur das Ende der Weimarer Republik am 30. Januar 1933 besiegelt, aber das ahnte noch keiner.

Uropa und Uroma wohnten inzwischen längst in der Junkerstrasse (Gutenbergstraße) 89. Zu ihrer Wohnung gehörten die beiden Fenster unten rechts vom Eingang des gelben Hauses. Hier lag ihr Wohnzimmer, nach hinten hinaus das Schlafzimmer. Über den Flur ging es in die Küche und ein kleines Zimmer, in dem Opa und sein Bruder schliefen. Auch Schlafgäste, wie man das damals nannte, wenn man Betten vermietete als kleine Nebeneinnahme.

Hinter dem Haus war ihr Garten und Uropa´s Schuppen. Dort hatte er eine kleine Werkstatt mit allerlei Sattlermaschinen. Im Garten wurde sogar Tabak angebaut und nach der Ernte getrocknet, um die Pfeife zu stopfen oder eine Zigarre zu drehen.

Mit in den Garten zu gehen, bedeutete, die Werkstatt zu besuchen, für mich immer etwas besonderes, vor allem, weil ich mir dann einen Ball aussuchen durfte. Davon stand ein ganzer Sack in der Ecke, über Jahre gesammelt im Garten von all den Kindern, welche ihm ihre Bälle über die Mauer schossen und sie nicht mehr abholten. Uropa hatte es aufgegeben, sie aus seinen Beeten zu sammeln und zurück zu werfen, sie lagen alsbald wieder da – zu meiner Freude.

Als Kind bewunderte ich Uroma´s mannshohe Staude. Die straffen grünen Pflanzen mit ihren wunderbaren satt gelben Blütenbällen, auf welchen sich viele Insekten nieder ließen, pflanzte ich als Ableger in meinen Garten, viele Teilungen und Umzüge hat sie inzwischen überlebt.

Doch zurück zur Geschichte, am 7. April 1933 wurde ein „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, Zweck war der Nachweis der „arischen“ Abstammung, Beamte und öffentliche Angestellte mussten, um weiterhin im Dienst bleiben zu können, ihre Eltern und Großeltern belegen. Hier war Sohn Fritz, mein Opa, betroffen, da er im Januar 1934 Schutzpolizist wurde.

Bald darauf waren Ärzte und Rechtsanwälte genötigt, am 15. September 1935 wurden alle Bürger mit den Nürnberger Gesetzen gezwungen, einen Ariernachweis zu führen, daher wurde eine „Reichsstelle für Sippenforschung“ (Reichssippenamt) gegründet. So kam es zu einer regen Ahnenforschung, von der ich erheblich profitiert habe, da alle Verwandten angeschrieben wurden, um die Familiendaten zu erfassen. Viele dieser Dokumente sind uns erhalten geblieben.

Potsdam- Wilhelmsplatz, Synagoge ganz links3

Während beide Söhne inzwischen bei der Luftwaffe waren und der Arbeitsalltag seinen Lauf nahm, zog eine schwarze Gewitterfront über Deutschland auf, nicht nur die Verdrängung der jüdischen Bevölkerung per „Ahnenpass“ aus dem öffentlichen Laben wurde tatenlos mitangesehen, am 1. Oktober 1938 zog eine deutsche „Schutztruppe“ für die Deutsche Minderheit in die Tschechoslowakei ein und half bei der Errichtung des „Protektorats“. Am 9. November 1938, währen der „Reichskristallnacht„, wurde die Potsdamer Synagoge zerstört und geplündert, ebenso jüdische Geschäfte, der jüdischen Friedhof. Menschen wurden geschlagen, vertrieben, verhaftet – jüdische Menschen.

Später, als dieser Platz „Platz der Einheit“ hieß, stand ich öfter im Durchgang neben der Hauptpost. Man gelangte von hier zu den Häusern und einer Grasfläche, an der Wand zur Post war eine Tafel eingelassen – „An dieser Stelle stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Potsdams. In der Nacht vom 9. zum 10. Nov. 1938 wurde sie von den Faschisten ausgeplündert und zerstört.“

Natürlich hörte man im Unterricht einiges, aber ich hatte beim Anblick dieser Tafel immer die Vorstellung von lauter bunten Glasbruchstücken, die auf dem Boden lagen, da ich mir vorstellte, die Fenster waren, wie in den anderen Kirchen, bunt verglast. Alleine diese Vorstellung erschien mir als ungeheurer Frevel. Die freie Grasfläche im Innenhof hatten die Potsdamer beim Wiederaufbau ihrer Stadt nach dem Krieg angelegt, um der jüdischen Gemeinde einen Platz für den Neuaufbau zu schaffen.

Nach diesem „Auftakt“ wurde im März 1939 die restliche Tschechoslowakei „kampflos“ besetzt, das Memelland per Vertrag wieder an Deutschland angegliedert und Hitlers 50. Geburtstag im Reich gefeiert. Nach Bekanntgabe eines Abkommens mit der Sowjetunion im August erklärt Hitler den Oberbefehlshabern der Wehrmacht, dass der Krieg gegen Polen unmittelbar bevorstehe, gleichzeitig unterzeichneten die Außenminister von Ribbentrop und Molotow in Moskau einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der in einem Geheimen Zusatzabkommen die Interessengebiete in Osteuropa aufteilte.

Uroma und Uropa hatten am 7. Juni 1938 Silberhochzeit feiern können, zwei Söhne in der Luftwaffe, Fritz hatte bereits seine Braut „Irmi“ ins Haus gebracht, doch mit dem Überfall auf Polen durch die Beschießung von polnischen Munitionslagern auf der Westerplatte bei Danzig begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg.

Fortsetzung


Quellen: Privatarchiv
Wikipedia

2Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung Berlin vom 25. November 1923, S. 2
3Potsdamer Synagoge am Wilhelmplatz, ganz links, neben den Hauptpostgebäude, 1945; Wikimedia: Von Bundesarchiv, Bild 170-295 / Max Baur / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de