Nach der Schließung der Grenze wurde Opa Fahrschullehrer beim Kraftverkehr, das hatte er bereits einmal während der Militärzeit gemacht. Und ausgerechnet mein Opa, als Fahrschullehrer mit der Straßenverkehrsordnung bestens vertraut, immer darauf achtend, dass der Fahrschüler keine Fehler macht, ließ alle Regeln außer acht, als ich mich auf den Weg ins Leben machte. Natürlich viel zu früh und ohne große Vorankündigung in die Geburtstagsfeier meines Vaters platzend, gab Opa Gas und schaffte es tatsächlich, meine Geburt auf dem Rücksitz seines Trabis zu verhindern. Auf dem Foto inspiziere ich ihn im Alter von 3 Monaten eingehend während eines Ausflugs an den Templiner See.
Seine Fahrlehrerkarriere fand ein Ende, als der Fahrschüler trotz aller Vorsicht und Umsicht in einen Unfall verwickelt wurde, bei dem sich Opa Wirbelbrüche zuzog. Bei seinem ehemaligen Kollegen habe ich noch den Autoführerschein gemacht, mit dem eigenen Trabi, man klemmte nur ein Fahrschulschild auf das Dach und ein paar zusätzliche Pedale für den Fahrlehrer an, das war alles. Mulmig war mir aber erst, als auf dem Leipziger Dreieck rechts und links neben mir zwei riesige russische LKWs standen und ich mir ausmalte, was passiert, wenn sie mich übersehen würden beim Abbiegen. Meinen Fahrschullehrer störte das weniger, er sang laut schallend neben mir die märkische Hymne „Steige hoch, du roter Adler“.
Doch zurück zu Opa Fritz. Inzwischen war er Meister der Kraftfahrzeuginstandhaltung, da er neben seinem Beruf ein Fernstudium absolviert hatte zwischen September 1960 und Juni 1962. Danach qualifizierte er sich 1964 in Lehnin zum nebenberuflichen BfN-Bearbeiter, BfN war das Büro für Neuererwesen. Viele Ideen hatte er ja immer, eine davon war ein Fahrschultrainer. Ich nehme an, der Unfall inspirierte ihn dazu, eine Lösung zu entwickeln, wie man den Schüler erst auf den Verkehr loslassen musste, wenn er die Grundprinzipien des Fahrzeuges verstanden hatte.
Wie es häufig bei Menschen mit Erfindungsgeist ist, ihr Name bleibt ungenannt, ein Patent wurde nie in Erwägung gezogen und so ernten andere den Ruhm.
Am 1. Mai 1965 zeichnete man in Karl-Marx-Stadt mit dem Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ eine überbetriebliche Arbeitsgemeinschaft für ihren Fahrtrainer aus, der dem Fahrschüler nun das Rüstzeug mitgeben sollte in Form von Trockenübungen, da der Leiter der Hauptverwaltung im Ministerium für Verkehrswesen, Ing. oec. Seeling, die städtische Fahrschule zur Musterfahrschule der Republik aufbauen wollte1. Interessanterweise hatten die praktischen Tests durch erste Fahrschüler in einem Wartburg-Torso stattgefunden, sie sahen, so wie Opa sich das überlegt hatte, einen Film mit Straßenverkehr, während sie das Auto steuerten.
Im September 1968 saßen in Berlin schon 30 Fahrschüler gleichzeitig in einem Raum im Fahrschultrabant und „fuhren“ entsprechend des ablaufenden Films ihre Strecke, dabei wurden alle Lenk-, Schalt-, Kupplungs-, Brems- und Gasbewegungen aufgezeichnet. Ebenso, ob man geblinkt hatte oder nicht2. Der Streifen Papier, der dabei entstand, wurde mir damals auch mitgegeben, als Beleg, die Fahrtrainerstunden bestanden zu haben. Das Kybexgerät zeichnete bereits 1968 auf, ob Fahrschüler richtige oder falsche Antworten in der Theorieprüfung gaben, entsprechend leuchteten rote oder grüne Lampen auf, die der Fahrschullehrer sah2.
Im April 1968 wurde Opa anlässlich seiner zehnjährigen Betriebszugehörigkeit im VEB Güterkraftverkehr und Spedition für seine vorbildliche Pflichterfüllung, großen Fleiß, einwandfreie Arbeitsausführung bei den umfangreichen Transportaufgaben und erfolgreichen Arbeit bei der Entwicklung des Betriebes zu einem sozialistischen Großbetrieb ausgezeichnet.
Bereits zu meiner Geburt besaßen Oma und Opa ein eigenes Auto. Der Verkauf der LKWs sorgte für die notwendigen Mittel und so wurde ein Trabant angeschafft. Einen solchen besaßen wir viele Jahre später ebenfalls, im Westen belächelt, im Osten ganzer Stolz der Besitzer. Vor allem war das Fassungsvermögen des Kofferraumes enorm und die gebogene Heckklappe öffnete sich entsprechend weit. So war die Ausführung des 500er sehr beliebt bei „Muckern“ (Bauern) und allen, die etwas zu transportieren hatten, egal ob Kartoffelsäcke oder Waschmaschine.
Oma, die als Sekretärin und Stenotypistin inzwischen ebenfalls beim Kraftverkehr arbeitete, lernte das Fassungsvermögen allerdings auf andere Weise kennen. Bei einer Urlaubsfahrt nach Thüringen sprang ihnen ein Hirsch durch die Frontscheibe ins Auto und rutschte bis zur Rückbank ins Auto. Sie hatten beide wirklich unglaublich viel Glück, da er wegen des Geweihs nicht mit dem Kopf hineingelangte und sie sich unverletzt unter dem Tier hervor graben konnte. Sie hatte sich auf der langen Fahrt auf der Rückbank zum Schlafen ausgestreckt und wurde auf diese Weise sehr unsanft geweckt.
Wir Kinder schliefen ebenfalls häufig auf der Rückbank, da dort das Bettzeug lag, welches für die Campingausflüge mitgenommen wurde. Dort eingekuschelt, zu Füßen die Kühltasche und alle möglichen anderen Dinge, war man ruckzug „weg“ und die Probleme des „Sind wir schon da?“, kamen gar nicht erst auf. Wir sind dann ausgeschlafen ausgestiegen, mitunter längst, von uns unbemerkt, am Ziel.
Beide besaßen einen Wohnwagen mit Vorzelt, auch hier war Opa aktiv und entwarf alles nach ihren eigenen Bedürfnissen, unter anderem bekam er eine Auflaufbremse. Später übernahm mein Onkel das Schmuckstück und hegte und pflegte es weiter. Wer ihn heute sehen möchte, kann das im Museum der Firma Hymer tun.
Dieser Wohnwagen ist mit seinem Zelt in meinen Erinnerungen natürlich viel größer, als er es tatsächlich war, es gab eine kleine Kochnische und der Tisch war versenkbar, damit alle Platz zum Schlafen hatten. Einmal waren beide unterwegs ins Dorf, wir waren auf ihrem Stammplatz am Plessower See, wo sie durch die vielen Campingjahre eine Menge Bekannte hatten. Es fing an zu regnen, so stark, es sah aus, als wäre der Wohnwagen unter Wasser, da der Regen keine Tropfen mehr bildete, sondern eine grüne Flut darstellte. Bald blitzte, donnerte und krachte um uns herum und wir machten uns große Sorgen, da beide unterwegs waren. Plötzlich tropfte es oben durch die Lucke. So gut die Dichtung war, diesen Guß hielt sie nicht aus. In unserer Not kamen wir auf die Idee, Kaugummi hineinzudrücken. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte es auf zu regnen und beide trafen mit den Einkäufen ein. Wir beichteten Opa, das nun Kaugummi an der Deckenöffnung klebte, das war das einzige Mal, dass er sich freute, dass wir welches hatten.
In den nun folgenden Jahren entwickelte sich der Betrieb zum VEB Kombinat Kraftverkehr Potsdam, Stammbetrieb Güterkraftverkehr und Spedition Babelsberg, Opa, der inzwischen als Justiziar arbeitete, wurde am 7. Oktober 1970 und am 6. Februar 1980 zum Aktivist der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet.
Die Urlaubsfahrten änderten sich auch, es ging nicht mehr mit dem Wohnwagen auf die Campingplätze, sondern nach Kemnitz. Gegenüber des angestammten Campingplatzes hatte der Kraftverkehr am Seeufer eine Badestelle, zu der sein Ferienlager gehörte. Daneben konnten Oma und Opa sich ein idyllisches Grundstück schaffen, mit einem kleinen Wochenendhaus.
Hier werkelte Opa natürlich in seiner Freizeit und baute einen kleinen Erdkeller, um Getränke kühl zu halten, einen Schuppen für Werkzeug und Toilette, eine Ecke für den Kamin, um lange Abende draußen am Feuer sitzen zu können. Oma pflegte den Garten und wir Kinder verlebten hier schöne Stunden, lernten schwimmen und wanderten mit beiden um den See.
Eines Tages hatte Opa auf dem Grundstück eine Robinie fällen wollen. Als er merkte, der Stamm wollte nicht so wie er, überlegte er, ob er seinen Sohn um Hilfe bitten sollte und ging daher die Hände im Seewasser abspülen. Er, der uns immer gewarnt hatte, ohne Badelatschen an die Schilfkante zu gehen, damit wir uns nicht die Füße aufschneiden, machte genau das. Dieser Schnitt brachte ihn ins Krankenhaus zum Nähen. Als wir ihn dort besuchten, meinte er nur: „Ich sage Euch eines, alt werden ist Mist. Mein Kopf ist noch 18, aber dieser alte Körper schafft auch gar nichts mehr.“ Da war er bereits 80 Jahre !
Das Autofahren gab er kurz darauf auf. Er war sein ganzes Leben ein umsichtiger Fahrer, hatte nie einen Unfall verschuldet, aber er merkte, wie sehr ihn der immer stärker zunehmende Straßenverkehr belastete. So entschied er, seinen Führerschein abzugeben.
Die Zeiten und damit verbunden die Grundstücksverhältnisse änderten sich. So kam der Abschied von ihrem geliebten Wochenendhaus, ein wehmütiger letzter Gang, der Oma und Opa sehr geschmerzt hat.
Beide waren zwischenzeitlich aus ihrer alten Wohnung ausgezogen, da die Schlepperei mit Kohlen ein Ende haben musste. Nun genossen sie ihre Zeit auf „Balkonien“ mit weitem Blick über Potsdam.
Leider wurde Opa sehr krank und es stand daher ein letzter Umzug an, um vor allem Oma von der Pflege zu entlasten. Beide verbrachten ihre letzten gemeinsamen Jahre im Altersheim, wo Opa am 31. Januar 2006 sein erfülltes und erlebnisreiches Leben vollendete.
Er hatte einen Bogen aus dem Kaiserreich bis in die Bundesrepublik geschlagen, politische Systeme kommen und gehen gesehen.
Gewiss, er war manchmal dickköpfig, sehr streng mit sich und anderen, sicher kein einfacher Charakter, aber er war der beste Opa, den ich hätte haben können. Er erzählte auf die spannendste Weise bei Spaziergängen durch die Schlösser und Gärten von der Geschichte Brandenburgs. Wusste unglaublich viel, vermittelte mir den Drang, nach den Vorfahren und ihren Geschichten zu suchen und vor allem eines, ein tiefes Heimatbewusstsein. Seine Lebensweisheiten begleiten mich bis heute.
Danke für alles, was Du mir auf den Lebensweg mitgegeben hast.
Quellen: Familienarchiv
wikipedia
1Neue Zeit vom 25. Mai 1965 S. 7
2Neues Deutschland vom 28. September 1968 S.8