Zur Geschichte Süd Russlands II

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus1)

(2. Fortsetzung)

Entstehungsgeschichte der evangelischen Kolonien

Im Chersonschen, Taurischen u. Jekaterinoslawschen Gouvernement

Einleitung – Jubiläum! Das ist in unserer Zeit kein unbekanntes Wort. Es wird fast zu viel jubiliert. Hat doch sogar ein Mann das Jubiläum seiner Henne gefeiert, als diese ihr tausendstes Ei gelegt hatte. Wenn aber in Blick auf das zurückgelegte erste Jahrhundert ihres Bestehens in vielen unserer deutschen Kolonien in Südrussland von einem „Jubiläum“ gesprochen wird, so ist das ganz etwas anderes. Sie haben guten Grund dazu. Ihr Fortschritt ist in diesem Zeitraum in jeder Beziehung ein außerordentlicher gewesen. Die Zahl ihrer Dörfer und die Größe Ihres Landbesitzes ist in dem Maße gewachsen, wie die Zahl ihrer Köpfe. Das Rußland für sie eine wahre Heimath geworden ist, merkt man am Aufblühen ihrer Kultur, ihrer Schule, ihrer Kirche und ihres Gemeinwesens. Haben die Kolonisten dies zum Theil ihrer eigenen Kraft und Tüchtigkeit zu verdanken, so dürfen Sie füglich auch einmal feiern und, durch den Rückblick auf die Vergangenheit festlich gehoben, sich ihrer selbst im edlen Sinne des Wortes bewußt werden. Dann werden ihnen auch ihre Fehler und Mängel lebendig vor die Augen treten. Derer sind nicht wenige, und wenn trotzdem ein so schöner Fortschritt konstatirt werden muß, so ist das wahrlich nicht ihr Verdienst allein. Das Entgegenkommen, die Langmuth und Geduld der Obrigkeit, namentlich in der ersten Zeit der Ansiedlung, hat ebensoviel dazu beigetragen, als die eigene Tüchtigkeit; – das darf nicht verschwiegen werden. In allem aber hat wunderbar die göttliche Vorsehung gewaltet, welche die Geschicke der Menschen leitet. Wer das demüthig anerkennt, der hat die richtig Jubiläumsstimmung und wird sich gern ein Stündchen in die Entstehungsgeschichte der Kolonien vertiefen.

Um die öden, aber außerordentlich fruchtbaren Gegenden an der Wolga und im Süden Rußlands zu besiedeln, berief die Kaiserin Katharina die Zweite ausländische Kolonisten. Sie stellte ihnen zinsfreie Darlehen von Kapitalien auf zehn Jahre und die Befreiung von jeglichem Dienst und Abgaben im Laufe von 30 Jahren in Aussicht. Den Entschluß, in ihrem großen Kaiserreiche Ausländer aufzunehmen, verkündete sie durch ein Manifest am 4. Dezember 1762; am 22. Juli 1763 erließ sie ein neues Manifest, wodurch Ausländer nach Rußland berufen wurden, um unter deutlich bezeichneten Vorrechten und Rechtsverhältnissen sich in Rußland bleibend niederzulassen. Darauf wurden nach verschiedenen Ländern Europas Bevollmächtigte ausgeschickt, um Auswanderer anzuwerben und einzuführen. Muni, La-Roy2 und Baron von Bork waren solche Bevollmächtigte, welche Direktoren genannt wurden.

Durch dieses Vorgehen der großen russischen Kaiserin war den auswanderungslustigen Westeuropäern außer Ungarn und Nordamerika auch Rußland als Zufluchtsstätte geöffnet. Der Strom der westeuropäischen Auswanderung entsandte für eine lange Reihe von Jahren einen nicht unbedeutenden Arm in die Länder des Zarenreiches, da auch Kaiser Alexander der Erste, dem Beispiel Katharinas folgend, ausländische Ansiedler nach Rußland berief. Dieser Strom versiegte erst, als unter Nikolai dem Ersten keine Kolonisten mehr nach Rußland berufen wurden.

Der Siebenjährige Krieg, welcher die deutschen Staaten zerrüttet hatte, die Austreibung der Protestanten wodurch Frankreich erschüttert worden war, und Schrecken, welche die französischen Heere unter Napoleon dem Ersten über die deutschen Lande brachten, religiöse Bewegungen, Hungersnoth, Sucht nach Abenteuern, einfacher Wandertrieb und der allgemeine Drang nach Osten, um den biblischen Ländern Kaukasiens und Palästinas näher zu sein, waren die Faktoren, dank welchen der Aufruf der großmüthigen Beherrscher des europäischen Ostens nicht ohne Widerhall blieben.

Ungefähr ein halbes Jahrhundert währte die Einwanderung der Deutschen in Rußland, doch ging dieselbe nicht in ununterbrochener Gleichmäßigkeit, sondern stoßweise von statten. Zu verschiedenen Zeiten stellten sich, d. Ruf der russischen Regierung Folge leistend, Gruppen von Kolonisten ein, welche dann auch meistens gemeinsam in den ihnen zugewiesenen Gebieten angesiedelt wurden. Die einzelnen Kolonistenbezirke weisen daher in der Regel verschiedene Ansiedlungsperioden auf. So sind nacheinander folgende Bezirke entstanden:

  1. Die Bezirke der Wolgakolonisten, angesiedelt in den Jahren 1764 – 1770
  2. Der schwedische Kolonistenbezirk, zum ersten Mal angesiedelt von Kolonisten schwedischer Nation aus Estland im Jahre 1782.
  3. Altdanzig 1787.
  4. Der Chortitzer Mennonitenbezirk 1789
  5. Josefsthal und Rybalsk 1789.
  6. Jamburg 1792
  7. Der Liebenthaler Kolonistenbezirk 1803 – 1805.
  8. Der Molotschnaer Mennonitenbezirk 1804.
  9. Der Molotschnaer Kolonistenbezirk 1805 -1810.
  10. Neusatz und Zürichthal in der Krim 1805.
  11. Der Kutschurganer, Glücksthal und Beresaner Kolonistenbezirk 1808.
  12. Der Klöstitzer und Malojaroslawetzer Kolonistenbezirk 1814.
  13. Hoffnungsthal im Gouvernement Cherson 1817.
  14. Der Sarataer Kolonistenbezirk 1822.
  15. Chabag bei Ackermann
  16. Der Berdjansker und Marinpoler Kolonistenbezirk 1822.

Soweit ist der Raum gestattet, soll im Folgenden die Geschichte der Ansiedlung der protestantischen Kolonieen des Chersonschen, Taurischen und Jekaterinoslawschen Gouvernements mit Ausnahme der Mennonitenbezirke und der zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts entstandenen Kolonien Alt-danzig, Josefsthal und Rybalsk hier kurz behandelt werden. Auf Vollständigkeit darf die Darstellung einer so reichhaltigen Chronik, wie die verschiedenen Kolonistenbezirke in dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von kaum 100 Jahren sie bieten, keinen Anspruch machen. Es fehlt vielfach auch leider an zuverlässigen Quellen. Mögen diese Zeilen dazu dienen, daß einige fähige Köpfe angeregt werden, zu thun, um von der Geschichte der Kolonieen der Vergessenheit zu entreißen, was noch nicht rettungslos verloren ist.

1. Der schwedische Kolonistenbezirk.

Dieser Bezirk besteht aus den Kolonieen als Altschwedendorf, Mühlhausendorf, Schlangendorf und Klosterdorf bis zusammen etwa 2600 Einwohnern. Die Kolonie Altschwedendorf wurde im Jahre 1782 von den schwedischen Bauern des Kirchspiels Roicks auf der zu Estland gehörenden Insel Dagden angesiedelt. Da diese schwedischen Bauern in ihrer Heimath mit ihren Gutsherren in endlosen Streitigkeiten lebten, so verhängte Kaiserin Katharina die Zweite die harte Strafe über dieselben, sich im Gouvernement Cherson anzusiedeln. Trotz allen Wehklagens mussten 1200 Personen, darunter Greise und Kinder, die in damaliger Zeit außerordentlich beschwerliche Reise antreten. 300 Personen starben unterwegs. Ein Teil fiel der Pest zum Opfer, welche bald nach der Ansiedlung ausbrach. Einige ergriffen sogar die Flucht.

Reiseweg der Schweden (selbst erstellt mit google maps11)

Im Jahre 1794 bestand die Kolonie nur noch aus 227 Personen, und doch hatte sie 12.000 Dessjatinen Land zugewiesen bekommen. Ein Beweis, wie gering der Wert des Landes damals angeschlagen wurde, ist die Thatsache, daß die Kolonie Altschwedendorf im Jahr 1804 einen Theil ihres Landbesitzes an die neu entstehenden Kolonien Mühlhausendorf und Schlangendorf abtrat.

Skizze zur Lage der schwedischen Kolonien, Sep. 19423

Im Jahre 1863 – so berichtet G. C. Nöltingk in seiner Festschrift: „Bericht über die Wirksamkeit der Unterstützungskasse für evang.-luth. Gemeinden in Rußland“ – stellte sich die Nothwendigkeit heraus, an Stelle des alten verfallenen Kirchleins vom Jahre 1788, das so klein war, daß immer nur eine der drei Kolonien zur Zeit den Gottesdienst besuchen konnte, eine neue Kirche zu bauen. War es bloß konservativer Sinn, daß die Schweden die neue Kirche durchaus an dem Platz haben wollten, wo die Kaiserin Katharina die erste erbauen ließ, der am äußersten Ende der Ansiedlung lag; – die Deutschen, in Uebereinstimmung mit dem Konsistorium, in der Mitte der Dörfer neben dem Pastorat. Der Streit währte über ein Jahrzehnt, bis die Unterstützungskasse ihre Beisteuer zum Bau im Betrag von 1200 Rbl. zurückzuziehen drohte, falls derselbe nicht vor dem Ende des Jahres 1878 in Angriff genommen sein werde. Diese beklagenswerthe Uneinigkeit mag wohl die lange andauernde Pfarrvakanz und damit den Beschluß des Bezirks-Comites vom Jahr 1883 veranlaßt haben, ein Theologenstipendium von 300 Rbl. ausschließlich zu Gunsten Altschwedendorfs zu gründen. 

Schwedisch-lutherische Kirche, Zmiivka4

2. Der Liebenthaler Kolonisten Bezirk.

Zu Anfang unseres Jahrhunderts, als sämmtliche Staaten Westeuropas vor der Wahl standen, „sich entweder dem despotischen Soldatenkaiser Napoleon zu ergeben oder als Ueberwundene nach der Strenge les Kriegsgesetzes behandelt zu werden“, erging von Seiten des menschenfreundlichen Kaisers Alexander des Ersten von Russland durch seine Gesandten und Konsuln an Auswanderungslustige in Württemberg die willkommene Einladung, ihre Heimath zu verlassen und als Kolonisten nach Rußland zu kommen. In den Jahren 1803 und 1804 begann die Auswanderung zu verschiedenen Zeiten in einzelnen Kolonnen oder Transporten. Zwei Regierungskommissäre, Ziegler und Esch hatten die Sammlung der deutschen Bauern zum Zweck der Ansiedlung in Rußland zu bewerkstelligen. Der jeweilige Sammelplatz der Auswanderer war die Stadt Ulm in Württemberg. Hier schiffte man sich ein, um die Reise auf dem Wasserwege die Donau hinunter über das Schwarze Meer zu machen.

Gegen 1000 Familien trafen allmählich unter der Leitung der Regierungskommissäre in Odessa ein, in dessen Umgegend sie ihre neue Heimath finden sollten. Graf Pototsky hatte hier sein Land der Regierung verkauft, und nun wurde es den deutschen Ansiedlern zugemessen. Von der russischen Grenzstadt Raziwilow an, wo einige Kolonnen 2 Monate lang Winterquartier aufschlugen, bekamen sie bis zur Ansiedlung von der hohen Krone nebst Vorspann täglich auf den Kopf eines Erwachsenen 10 Kop. und eines Kindes unter 14 Jahren 5 Kop. Diese Gelder wurden ihnen am Ort ihrer Bestimmung noch 2 Jahre lang unter dem Namen Tag- oder Nahrungsgeld geschenkweise ausgezahlt. Außerdem bekam jeder Familienvater vorschussweise das Nothwendigste an Feld- und Hausgeräthschaften, Brot- und Saatfrucht, ein Paar Ochsen, einen hölzernen Wagen, fünf Rbl. Banko für eine Kuh, einen Pflug und auf 3-4 Wirthe eine Egge. Dieser Vorschuss belief sich auf jeden Wirth mit Einschluß des Fachhauses, welches die Krone ihnen baute, auf 355 Rbl. Banko. Es gab auch wohlhabende Leute unter den Ansiedlerpionieren das Liebenthaler Bezirks, welche weder Reise- noch Tagegelder namen; aber ihre Zahl läßt sich nicht mehr feststellen.

Die Ansiedlung geschah unter der Oberaufsichts des damaligen Generalgouverneurs von Neurußland, Herzog von Richelieu, durch den damaligen Verwalter der Odessaschen ausländischen Ansiedlungen, Fürsten von Meschtschersky. Zu den ersten Ansiedlern aus Württemberg gestellten sich noch solche, deren Eltern in den Jahren 1782 und 1783 aus Württemberg und Rheinbaiern nach Ungarn gezogen waren und selbst im Padscher Komitat und Banat geboren sind. In Ungarn den Betrieb der Landwirthschaft gründlich erlernt und zogen es vor, den russischen Boden zu bearbeiten, weil ihnen daselbst unter anderem Freiheit vom Militairdienst versprochen wurde. Später kamen noch Handwerker und andere Beisassen hinzu, welche zwar kein Land, aber Gartenstücke und Hausplätze erhielten und Kleinhäusler genannt wurden.

Fortsetzung folgt 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 28.11.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Le-Roy, in russischen Diensten stehender Unternehmer und Werber, seine Transporte zogen über Regensburg, Weimar, Lüneburg nach Lübeck, von dort per Schiff nach Russland

3 Kartenskizze aus der AkteAlt Schwedendorf des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Mikrofilm LDS 007938111

4 Шведська лютеранська церква, Зміївка Дзюбак Володимир – Eigenes Werk 30.9.2014 CC BY-SA 4.0

5 Die letzte Ulmer Schachtel, Max von Eyth (1836-1906), erstellt 27.4.1897, Stadtarchiv Ulm, siehe auch Deutsche Fotothek Bild mi13513c02

6 Der Kehlheimer, mit bis zu 42 m, die größte Zille auf der Donau. aus: Schaefer, Kurt; Architectura Navalis Danubiana. Erweiterung 1995. 5. Aufl., S. 299

7 Ing. Ernst Neweklowsky: Donauschiffe (mit 7 Abb.) in: Heimatgauer, Zeitschrift für oberösterreichische Geschichte, Landes- und Volkskunde. Hrsg. von Dr. Adalbert Depiny, Verlag R. Pirngruher, Linz 10. Jahrgang 1929 2. u. 3. Heft, p.160

8 Die Donau bey Kellheim in Bayern. Original-Stahlstich um 1840, Anonymus, Verlag Hildburghausen, Bibliographisches Institut um 1840, Ordinari – reguläre Schiffsfahrt

9 The Bloxberg (from Pesth). Der Gellértberg vom gegenüberliegenden Ufer; Stahlstich von C. Cousen nach W.H. Bartlett, um 1840

10 Johann Peter Fehr, Ulm von Osten, 1795, Aquarell, (Ulmer Museum)

11 Reiseweg J. Rzadkowski, Nutzungsbedingungen google maps

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