Schottener Kreisblatt, Nr 15.-58. Jahrgang. 22. Februar 1910

Die deutschen Ansiedler an der Wolga

von Johann Georg Kromm

Abschrift DAI, Kommando Stumpp

Wie allgemein bekannt, sind um die Mitte der 60-ger Jahre des vorvorigen Jahrhunderts auch aus Schotten und seiner Umgegend zahlreiche Familien, durch Krieg und mannigfache Bedrückungen in Armut und Not geratene Familien, dem Manifest der russischen Kaiserin Katharina II gefolgt und haben sich an der Wolga angesiedelt . Der Nachkomme einer damals von hier ausgewanderten, aus einer Witwe und zwei Kindern bestehenden, wohl auch sehr bedrängt gewesenen Familie, der Lehrer Georg Kromm in Jagodnaja (auf deutsch Erdbeerenland), dessen Sohn im vorigen Jahr als Teilnehmer an einem evangelischen Missionskursus in Witzenhausen die deutsche Heimat seiner Väter besuchte, hat in einem 36 eng beschriebene Seiten umfassenden sehr interessanten Bericht die dortigen Verhältnisse und insbesondere die seiner und der aus der Umgegend Schottens stammenden Kolonistenfamilien geschildert, aus dem wir mehrere Auszüge folgen lassen wollen. Vielleicht ergeben sich aus denselben für manche Familien aus Oberhessen Anhaltspunkte zur Entdeckung noch lebender Verwandten unter den Kolonisten an der Wolga.

Das erste Manifest der Kaiserin Catharina blieb ohne Erfolg, weil es keine besonderen günstigen Privilegien enthielt; jedoch auf 1763 erlassene, huldvolle Manifest der Kaiserin liessen tausende Auswanderungslustige ihre durch Krieg (1756-1763) verwüstete, deutsche Heimstätte, um in den Gauen Russlands ein neues Eldorado zu finden, wie sie es erhofften. Der Inhalt dieses Manifestes war in kurzem der: Dass ein jeder Ausländer, welcher sich aufmachen würde, um nach Russland zu ziehen und daselbst auf unbewohnten Landstrichen häuslich sich niederzulassen, mit Freuden soll empfangen werden. Daneben wurden den Ansiedlern bedeutende Vorrechte, Vorteile und Unterstützungen in Aussicht gestellt. Die russische Regierung hatte den Einwanderern das nötige Reise- und Taggeld zum Unterhalte von der Station und dem Tage ihrer Meldung an, bis an den Ort ihrer Bestimmung versprochen, um auch den Ärmsten und Unglücklichsten die Möglichkeit zu bieten, ihr Heil in Russland zu suchen. Der Aufruf durch dieses zweite Manifest, vom 22.Juli 1763, wirkte, namentlich in Deutschland, wo ganze weite Landstrecken durch den obenerwähnten siebenjährigen Krieg und Brand verödet, wo über 800.000 Soldaten um nichts und wieder nichts, das Leben gelassen und die Völker Europas in ein namenloses Elend gestürtzt und obdachlos geworden waren. An Armen und Unglücklichen jeder Art, die durch eine Auswanderung nichts zu verlieren, möglicherweise aber zu gewinnen hatten, war also kein Mangel, und das Manifest Katharina II hätte zu keiner anderen Zeit gelegener kommen können. Aus Württemberg, Preussen, Baden, Hessen-Darmstadt, Hessen- Kassel, Sachsen, Bayern, Mecklenburg, ja auch aus der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich, sammelten sich ganze Scharen von Freiwilligen um die russischen Abgesandten (Kommissäre), um sich von ihnen in die neue Heimat führen zu lassen. Als nächster Sammelplatz war Roslau an der Elbe bestimmt. Am 8. April 1766 trafen die ersten Auswanderer in dieser Stadt ein. Von hier wurden sie nach der Seestadt Lübeck gebracht. Am 23. Mai verliess ein Teil der Auswanderer auf grossen Seeschiffen den Hafen von Lübeck und lief nach einer glücklichen Fahrt von 9 Tagen auf der Ostsee in den Hafen von Kronstadt unweit St. Petersburg ein. Eine andere Partie war nicht so glücklich und erreichte erst nach einer 3monatlichen, sehr beschwerlichen und gefahrvollen Fahrt, auf welcher ein Schiff auf der Ostsee verunglückte, die Gestade Russlands. Sämtliche Auswanderer wurden jedoch gerettet. Unbeschreiblich soll das Elend gewesen sein, welches dieser Transport der Auswanderer auf der langen und ungünstigen Fahrt zu bestehen hatte, da alle erkrankten und viele infolge eines fast gänzlichen Mangels an Medikamenten und ärztlicher Hilfe auf der See starben, deren Leichen den Wellen übergeben werden mussten.

Auf ihrer weiteren Wanderung gelangten die Fremdlinge nach der heutigen Kreisstadt Oranienbaum am finnischen Meerbusen, wo damals die Kaiserin Catharina II. auf ihrem Lustschlosse weilte. Sie empfing die Einwanderer mit grosser Huld und versicherte sie ihres Schutzes, ihrer steten Fürsorge und Gewogenheit.           

Von Oranienbaum aus begaben sich nun die Einwanderer, in 3 Partien geteilt, auf die Reise nach Saratow, dem Orte ihrer Bestimmung. Eine dieser Partien wählte den direkten Weg über Nowgorod, Twer, Moskau, Rjäsan und Pensa, bis in die Kreisstadt Petrowsk, wo sie sich auf den Winter einquartierten; die andere wählte die Wasserstrasse auf der Newa, dem Ladogasee und den Nebenflüssen der Wolga. Viele derselben überwinterten jedoch schon in Torschok und Twer, andere kamen auf Barken nach Kostroma. Der dritte Transport endlich überwinterte in Kolomna und fuhr dann im Frühjahr auf der Oka. und Wolga nach Saratow.

Am 24. Juni 1767, als am Tage Johannes des Täufers, langten die ersten Züge an dem Flecken an, wo heutzutage Catharinenstadt steht. Sie fanden daselbst nichts vor als Himmel und Steppe, Bäume und Wasser. Dennoch machten sie sich unverzüglich ans Werk, errichteten die fürs Erste unumgänglichen Erdhütten und Zelte und begann dann teils in Catharinenstadt selbst, das der grossen Kaiserin Catharina II. zu Ehren also genannt wurde, teils in der Umgegend an besonders dazu geeigneten Stellen ihre kleinen Häuschen zu bauen. Die übrigen zu gleicher Zeit angekommenen fuhren den Wolgastrom hinab, bis nach Saratow, von wo aus sie ebenfalls sofort zur Gründung ihrer Kolonien auf Berg- und Wiesenseite von der Obrigkeit angewiesen wurden.

Es entstanden in demselben Jahre auf der Wiesenseite ausser Catharinenstadt und anderen Kolonien, namentlich: Podstepnaja, Rosenheim, Wolskaja (Kukus), Priwalnaja (Warenburg); auf der Bergseite Talowka (Beideck), Sosnowka (Schilling), Norka, Ustkulalinka (Galka), Golobowka (Dönhof) und 6o Werst oberhalb Saratow, in nordwestlicher Richtung Jagodnaja-Poljana; später, im Jahre 1772, kam die Kolonie Tobotschnaja, hinzu. 7 Werst südlich von Jagodnaja-Poljana und 18o2 kam endlich noch hinzu: die Kolonie: Neu- Skatowka (Neu-Straub), welche von Alt-Statowka oder Straub, von der Wiesenseite herüberkamen, so dass jetzt diese drei Kolonien ein Kirchspiel bilden. Diese letztgenannte Kolonie liegt 12 Werst südlich von Jagodnaja-Poljana entfernt.

Im Jahre 1768 wanderten die letzten Kolonisten in das Wolgagebiet ein und gründeten Kolonien, so dass deren 1o2 auf Berg- und Wiesenseite mit einer Bevölkerung von 8oo Familien (manche behaupten 8ooo Familien) entstanden, welche ca. 27 ooo Seelen beiderlei Geschlechts zählten. Die Berufung und Ansiedlung der Kolonisten kostete der Krone 5199813 Rbl. 23 Kop. (damals zählte man in Banko-Assignation: 1 Rbl. in Silber, 3 Rbl. 5o Kop. Diese Schuldsumme wurde ihnen angerechnet, um sie nach und nach abzuzahlen. Von dieser Schuld wurde jedoch durch Allerhöchsten Befehl, (vom 2o. April 1782) die Summe von 1.21o.197. Rbl. 69 1/4 Kop. erlassen und zwar 1.o25.4o2 Rbl. 97 1/2 Kop., welche von der Krone für den ersten Aufbau der Kolonistenhäuser und Kirchen und 17.914 Rbl. 25 Kop., welche für die den Kranken der Eingewanderten geleistete ärztliche Hilfe verausgabt worden waren; ferner: 136.47O Rubl., 23 3/4 Kop. Schulden auf der Reise von Oranienbaum bis nach Saratow verstorbenen Familien und 2o.382 Rbl.23 3/4 Kop., der in den ersten Jahren von den Kirgisen in Gefangenschaft geschleppten Familien.

Während der ganzen Reise, sowohl zu Wasser als zu Lande, hatte ein jeder Kolonist die ihm zugesagten Tagegelder pünktlich bekommen, und es hatten dieselben zur Anschaffung der notwendigen Lebensmittel vollständig ausgereicht; aber auch für die Landwirtschaft bot die Krone Hilfsmittel. Jede Familie bekam 2 kalmückische Pferde, 1 Kuh, einen russischen Pflug, eine Egge, ein Beil, einen Spaten, einen Bohrer, einen gewöhnlichen unbeschlagenen einspännigen russischen Bauernwagen usw. Desgleichen verabfolgte die Krone auch nach Bedürfnis Geldvorschüsse zur ersten Einrichtung und die nötige Saatfrucht.