Ein Zeitungsartikel über die Leprakranke in Bessarabien 1932 rückte die Orte Tichilești in der Dobrudscha und Lărgeanca (Larschanka) im Budschak in meinen Focus.
Man könnte meinen, bei Lepra handelt es sich um eine „ausgestorbene“ Krankheit in Europa und es gäbe vielleicht noch Einzelfälle irgendwo in Afrika oder Indien. Doch weit gefehlt.
Die Erkrankung, die unsere Vorfahren nicht nur im Mittelalter plagte, oder Auswanderer nach Russland, ist noch heute in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion verbreitet. 25 % aller Leprakranken der ehemaligen Sowjetunion leben in Kasachstan.1
Endemisch rund um den Aralsee vorhanden, gründete man südöstlich des Aralsees am Fluss Syrdarja das Kas-Leprosorium. In Usbekistan sind südlich des Aralsees Erkrankte im Krantau-Leprosorium am Fluss Amudarja untergebracht und im Bachmal-Leprosorium bei Samarkand. Die Stadt Astrachan besitzt ebenfalls ein Leprazentrum.
Ein weiteres Lepra-Endemiegebiet ist Pamir, ist rund 500 km entfernt, dort befindet sich das Leprosorium Hanaka. Ukrainer nutzen das Leprosorium Kutschurgan, an der Grenze zu Moldawien. Im Nordkaukasus befinden sich das Abinski-Leprosorium und das Terski-Leprosorium. Bei Moskau findet sich das Leprosorium Sielonaja Dubrawka in Siergiev Posad.
Zudem war und ist die Lepra im Baltikum endemisch, auch dort bestanden und bestehen zahlreiche Leprosorien, wie Talsi Lettland, Kuuda/ Estland oder Memel (Klaipeda) Litauen.
Diese kurze Aufzählung sollte genügen, um uns bewußt zu machen, wie aktuell diese Erkrankung in dieser Region noch immer ist.
In einer medizinischen Fachzeitschrift 1827 wurde Folgendes geschrieben:
„Dr. Chr. Heiberg über die Spedalskhed, eine Norwegische Ausschlagkrankheit. Sie kommt nur in der Gegend von Bergen, doch sehr verbreitet, vor, wurde von Fabricius irriger Weise Aussatz (Lepra) genannt. Sie ist nicht mit der im Stift Christiansand herrschenden Raudenseuche, (Radesyge) zu verwechseln. Dr. H. hält sie für eine Species der Elephantiasis, und unterscheidet 3 Abarten, die schuppige, die knollige und die glatte. Die Monate, ja Jahrelang dauernden, mehr oder minder zunehmenden Vorboten sind: Gefühl von Mattigkeit, Schwere, innere Kälte, Schlaflosigkeit, Jucken der Haut, später vollkommene Fühllossigkeit der Gliedmaassen. Die, die Krankheit selbst charakterisirenden Erscheinungen sind nach den Abarten verschieden, doch dauern die Vorboten während der Krankheit fort. Bei der Schuppigen trocknet im Anfang die Haut von Füssen und Händen aus zusammen; nach einiger Zeit erscheint auf den Extremitäten ein trockner, flechtenartiger Hautausschlag mit kleienartiger Abschuppung, öfters verschwindend, und wiederkehrend, heftig juckend, sich ausbreitend, und endlich bleibende, breite, beinahe zolldicke Borken bildend. Zugleich entstehen Drüsengeschwülste, chronische Conjunctivitis, später Pannus und Leucoma; die Augenbraunen fallen aus, der Kranke bekommt eine ganz eigenthümliche Physiognomie; Finger und Zehengelenke schwellen an, die unterliegenden Knochen werden cariös und ganze Glieder, mitunter alle Finger und Zehen fallen ab. Selten klagen die Kranken über eigentliche Schmerzen, und befinden sich im Winter besser als im Sommer. Die 2te Art kündigt sich durch kleine, allmählig sich vergrössernde Flecken an, die entweder in Knollen oder in Geschwüre übergehen. Oft jedoch bemerkt man beide letztern ohne vorhergegangene Flecken. Die Knollen zeigen sich gewöhnlich zuerst an den Augenbraunen und verbreiten sich von da weiter; aber immer sind der behaarte Theil des Kopfes und der Rumpf frei davon. Sie sind veilchenblau, braun, oder grau, immer glänzend, von der Grösse einer Haselnuss bis zu der eines Eies. Lippen und Gesicht, Finger und Zehen, mitunter Beine und Vorderarm, sehr selten Schenkel und Oberarm, sind geschwollen; die angegriffenen Theile gefühllos; Geruch und Geschmack gehen, verloren, das Gesicht, leidet wie bei der vorigen Art, Schlucken und Athmen ist erschwert, letzteres bis zum Ersticken, die Sprache wird unverständlich, Husten kommt dazu, Geschwulst und Knollen breiten sich bis in die Luftröhre aus, und der Kranke stirbt durch Erstickung oder aus Marasmus. Die Geschwüre, welche bisweilen auch bei der schuppigen Art vorkommen, sind von besonderer Gestalt; man bemerkt sie am häufigsten an den Gliedmaassen. Bei der glatten (seltnern) Abart ist die Haut eben, trocken, wie verhärtet. Geschwüre und Caries kommen auch hier vor. Auf eigene Art leiden hierbei die Augenlider, so dass ein sonderbares Hasenauge entsteht. Das untere Augenlid wird verkürzt, nach aussen gekehrt, das Schliessen der Augenlider dadurch unmöglich und der Augapfel beim Schlafen unter das obere Augenlid gebracht, wodurch das Auge begreiflich sehr leidet, und der Kranke bald blind wird. – Ein eigenthümlicher widerlicher Geruch des ganzen Körpers, besonders der Geschwüre und des Athems lässt die Krankheit auch leicht erkennen.“2
Tatsächlich handelte es sich um Lepra. Die übliche Behandlung der „Aussätzigen“ war das Verstoßen aus der Gemeinschaft. Zerlumpt und bettelnd zogen die Erkrankten durch das Land. Als Zeichen ihrer Erkrankung war es üblich, neben der dunklen Kleidung einen Stock, eine Betteltasche und eine Klapper oder ähnliches mitzuführen, um andere Menschen zu warnen, wenn man sich näherte.
Um das Umherziehen und eine Verbreitung zu verhindern, wurden Leprosorien eingerichtet. Hier lebten die Erkrankten, meist dürftigst versorgt und isoliert.
In Rumänien und Bessarabien war die Lepra nicht nur verbreitet, die Zustände für die Erkrankten waren elendigst. Sie waren nach Lărgeanca verbannt und wurden sehr schlecht versorgt, ärztliche Behandlung fand praktisch nicht statt. Vor Hunger in die Umgebung auf den Feldern nach Nahrung suchend, wurden sie von den Bauern mit Dreschflegen und Heugabeln vertrieben. Oft flüchteten sie zurück nach Hause und steckten dort weitere Familienmitglieder an.
Der Arzt Victor Babeş (1854-1926) befasste sich mit der Krankheit intensiv und veröffentlichte einige Schriften in seiner Heimat Rumänien. Da ab 1898 vom rumänischen Staat ein Zwang zur Registrierung eingeführt wurde, erstellte Babeș eine Karte zur Verbreitung der Erkrankung.
Das im Jahre 1900 offiziell gegründete Leprosorium Tichilești wurde von den Bulgaren im ersten Weltkrieg bombardiert, als sie die Region Dobrudscha übernahmen.
Das ehemalige Kloster Tichilești war seit 1875 bereits eine inoffizielle Leprakolonie und erhielt 1928 ein eigenes Krankenhaus. Zudem entstanden in den 1930ern kleine Häuser und ein Innenhof.
Möglich machte das der Bericht des Reporters Filip Brunea-Fox „Fünf Tage unter Leprakranken“4, der die skandalösen Zustände in Lărgeanca offen legte und die Bevölkerung für das Drama sensibilisierte, das sich 8 km von Ismail gelegen in der Steppe abspielte.
Die Zustände in Lărgeanca wurden derartig unzumutbar, da sich durch die Zerstörung Tichileștis immer mehr Erkrankte dort einfanden. Im Jahre 1924 überfielen die hungernden Kranken ein Lipowanerdorf am Weihnachtstag11, da sie bei 30°C unter Null bereits die Grabkreuze ihres Friedhofes als Feuerholz nutzen mussten und nun vor dem Erfrieren standen, da ihnen von den Behörden keinerlei Unterstützung zuteil wurde. Durch diesen Überfall wurden Dorfbewohner infiziert und erkrankten ebenfalls.
Brunea-Fox besuchte die Kolonie im August 1928 und musste sehen, wie wenig sich das Gesundheitsministerium um die Versorgung der Patienten kümmerte. Die Rationen sollten täglich aus 1 kg Brot, 250 g Tee oder Milch, zwei Suppen und zwei Stücken Fleisch (250g) bestehen. Der Satz für einen Patienten wurde von 1918 bis 1928 von 16 auf 20 Lei angehoben, der Brotpreis lag jedoch bereits bei 12 Lei/kg, das Kilogramm Fleisch bei 30 Lei. Gemüse, Obst, Zucker, all das war ebenso wenig in der Ration, wie tägliches Fleisch, die ärztlichen Empfehlungen lagen bei 2.500 kcal, wurde jedoch weit unterschritten.
Wirksame Medikamente wurden aus Kostengründen nicht verabreicht, die hygienischen Umstände waren katastrophal. Der Kostensatz zur Unterbringung von 40 Patienten pro Haus musste nun für 60 reichen.
Dr. Ion Tuchel erklärte dem Reporter, dass die Kranken ein Ansteckungsrisiko darstellen würden. Seine Empfehlung war Tichilești, da der Ort vollständig isoliert liegt und die Lebensbedingungen für die Patienten besser wären, als in der Steppe bei Ismail.
Tatsächlich gab es Wasser, Obstbäume, günstige klimatische Bedingungen, was in Lărgeanca fehlte.
Natürlich wären die Behörden, in deren Zuständigkeit die Versorgung dieser Patienten fällt, verpflichtet, entsprechende Bedingungen zu schaffen. Der Staat verwies daher die Kranken letztlich 1928 nach Tichilești.
In Tichilești wurde die Isolierung strenger durchgeführt, die Lage der Verbannten verbesserte sich jedoch nicht. Als erneut Lebensmittellieferungen aus blieben, entwichen Insassen und lösten 19325 und 19336 in Bessarabien eine Panik unter der Bevölkerung aus, als sie vor dem Bezirksamt erschienen, um zu protestieren.
Das Anwachsen der Erkrankungsfälle durch das ständige Entweichen der Erkrankten sorgte dafür, das ein neues Leprosorium geschaffen werden sollte, diesmal in Siebenbürgen. Die Stimmung in der dortigen Bevölkerung war nach Bekanntwerden dieser Pläne 1935 entsprechend ablehnend.7
Daher änderte sich auch weiterhin nichts an der Lage der Leprakranken, wie man an einem weiteren Hungermarsch 1938 sehen konnte.8
Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges 1939 und der veränderten politischen Lage ab 1945 geriet die Leprakolonie Tichilești immer mehr in Vergessenheit. Im sozialistischen Rumänien schlicht nicht „existent“ und mit dem Ende der Volksrepublik bis heute als „Schandfleck“ Rumäniens angesehen, weiß kaum jemand um die letzten verbliebenen Bewohner. Sie haben in den letzten Jahrzehnten und ärmlichen Bedingungen gelebt, geliebt, Familien gegründet, ihre Toten begraben.
Von ihrer kleinen Invalidenrente könnten die Bewohner heute nicht an einem anderen Ort überleben, in Tichilești sind Essen und Behandlung gesichert, auch aus diesem Grund bleiben die letzten Bewohner.
Quelle: youtube Mike Mihai „The only Leprosy Hospital from Europe (singura leprozerie din Europa)“
Anlässlich des Welt-Lepra-Tags, ein internationaler Gedenk- und Aktionstag, welcher jährlich am letzten Sonntag im Januar begangen wird, berichtete die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe im Epidemologischen Bulletin 4/2017 über die aktuelle Situatin weltweit. Lepra wird durch Mycobacterium leprae hervorgerufen. Während der langen Inkubationszeit (9 Monate – 20 Jahre) können unterschiedliche klinische Symptome mit Hauterscheinungen und Nervenschädigungen auftreten, die zu Sensibilitätsstörungen und Lähmungen führen können.
Pro Jahr werden über 210.000 Lepra-Erkrankungen an die Weltgesundheitsorganistaion9 gemeldet, wobei nicht alle Länder die tatsächlichen Zahlen melden. Auch in Deutschland10 wird die Erkrankung in einzelnen Fällen eingeschleppt. Aufgrund fehlender Erfahrung und Unsicherheiten im Umgang mit dieser Erkrankung wird die Diagnose oft zu spät gestellt, damit die Behandlung verzögert.
1Romana Dabrik: Ehemalige Sowjetrepubliken: Lepra – eine Krankheit der Gegenwart, PP 1, Ausgabe Oktober 2002, Seite 454 in Ärzteblatt Oktober 2002
2Hrsg.: Carl Ferdinand Kleinert: Allgemeines REPERTORIUM der gesammten deutschen medizinisch – chirurgischen Journalistik. III. Heft. März. Leipzig, 1827. Bei Ch. E. Kollmann. S. 50f
Bild Fig. 20 aus: Victor Babeş, Die Lepra, Alfred Holder, Vienna, 1901 (available through the Bucharest City Library DacoRomanica archive public domain
Karte Verbreitung Lepra in Rumänien 1897 in: Victor Babeş, Lepra in Rumänien, Berlin, 1904 (available through the Bucharest City Library DacoRomanica archive public domain
3Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 66-68 poblic domain
4Filip Brunea-Fox: Cinci zile printre leprosi in Reportajele mele. 1927-1938
5.2. Beiblatt der Danziger Volksstimme 18.8.1932
6.Mariborer Zeitung 8.8.1933 S. 3
7Mariborer Zeitung 14.11.1935
8Mariborer Zeitung 11.8.1938
9WHO Epidemiological situation, burden and distribution 2015
10Situation in Deutschland: RKI Jahresstatistik nach Bundesland für 2016 (PDF, 3 MB, Datei ist nicht barrierefrei)
11Mariborer Zeitung, Weihnachten 1929