Kasachstan

Atomwaffentestgelände Polygon Семипалатинский ядерный полигон

Geschehnissen, wie sie mir Zeitzeugen schilderten


Der „Neuanfang“ in der kasachischen Steppe war mit Blut, Schweiß und Tränen erkauft worden. Nach der Entkulakisierung mit ihrer Verhaftungswelle, der Zwangskollektivierung und der folgenden Hungersnot der dreißiger Jahre, den Deportationen und den in der Trudarmee versklavten Menschen folgte nun ein weiterer Schicksalsschlag – die Verstrahlung. Allein in der Nähe von Semipalatinsk lebten rund 50.000 Deutsche neben den Einheimischen.

Mitten in der kasachischen Steppe, auf etwa. 18.000 km² Fläche nahe der Stadt Semipalatinsk (Semei) lag das Atomwaffentestgelände Polygon (Семипалатинский ядерный полигон).

Am 29. August 1949 wurde nahe Kurtschatow der erste Atomwaffentest der Sowjetarmee durchgeführt.

Auch die Erprobung der deutlich stärkeren Wasserstoffbomben begann hier; 1953 kam es zur Explosion der ersten thermonuklearen Vorrichtung RDS-6s.1)

Von 1949 bis 1989 wurden 496 nukleare Bombentests überwiegend zu militärischen Zwecken durchgeführt. Bis 1962 erfolgten 113 Explosionen überwiegend im nördlichen Teil des Geländes in der Atmosphäre oder am Boden, was zu einer erheblichen Strahlenbelastung der Atmosphäre führte. Ab 1963 wurden 383 Tests auf dem Gelände unterirdisch in Bohrlöchern und Tunneln im Balaplan-Gebiet und in den Degelen-Bergen durchgeführt. Nimmt man alle 468 unter- und oberirdischen Atomtests zusammen, ist auf die Steppe Kasachstans der Fallout von etwa 20.000 Hiroshima-Bomben niedergegangen.

Am 29. August 1991 erfolgte die Stilllegung des Atomwaffentestgeländes, 1996 wurden die Stollen versiegelt, die jedoch durch illegale Altmetallhändler immer wieder aufgebrochen wurden.

Bild 4)

„Wie Sie wissen, wurden wir 1941 in das Semipalatinsk Gebiet verschleppt und wohnten dort bis 1966 unmittelbar an dem Atomwaffentestpolygon. Der erste Test wurde am 29 August 1949 um 7 Uhr durchgeführt. Mein Vater hat den Pilz gesehen, niemand wusste, was es ist. Dann wurden regelmäßige Tests durchgeführt, so dass manchmal sogar in der Stadt Fensterglas kaputt ging und manche alte Häuser zerstört wurden. Dem Volk wurde gesagt, es seien ungefährliche Übungen, von der Bestrahlung kein Wort. Nach der Absolvierung der medizinischen Fachschule wurde ich, ein 17-jähriger Junge, in die weiten Berge, wo man die Schafe hinbrachte, als Feldscher zum Arbeiten geschickt. Dort haben wir jedes Mal gesehen, wie die Flieger über uns mit der Atombombe geflogen sind und nach ein paar Minuten gab es eine oder mehrere Explosionen. Wir wurden zuvor von einem Offizier hinter einen Berg geschickt, die Fenster musste man mit einer Decke zuhängen, das Feuer im Herd löschen, damit nichts passiert. So bin einmal fast blind geworden, als ich zu früh die Augen geöffnet habe, weil es so hell wird, man kann minutenlang nichts mehr sehen, vor den Augen wird es dann alles schwarz.“

Foto aus dem Euronews – Beitrag „Kasachstans nukleares Erbe“ 2)

„Ich habe ein Jahr lang (1955-1956) nur 60 km von dem Dorf Karaul als Feldscher14) gearbeitet.“

„Als ich dann an der Medizinische Hochschule studiert habe, mussten wir auch den Geigerzähler studieren. Ich habe den Zähler in das Klassenzimmer gebracht und eingeschaltet, er fing an wie verrückt zu pixen. Wir haben es dem Lehrer gezeigt und gesagt, das hier die Radioaktivität sehr hoch sei, da hat der Lehrer das Gerät ausgeschaltet und fort getragen. Uns hat er gesagt , das Gerät sei kaputt, und wir haben es nie wieder in die Hände bekommen. Später wurde in Semipalatinsk ein geheimer Medizindispanser (Dispanser № 4) eröffnet, und niemand wusste, was man dort macht. Erst nach der Einstellung der Tests 1991 wurde bekannt, dass man dort die Bestrahlung der Leuten studiert hat. Später hat Kasachstan bekannt gegeben, dass die verstrahlen Leute Entschädigungen bekommen sollen. Unsere Familie hat Bescheinigungen bekommen, dass wir in den genannten Jahren in Gebieten mit erhöhter und maximaler Bestrahlung gelebt haben und den Anspruch auf Entschädigung haben. Aber Russland akzeptierte die Bescheinigung nicht, nur wenige konnten sich per Gericht durchsetzen, wir nicht. Vor paar Jahren hat sich auch in Deutschland ein Verein nach dem Vorbild vom Novosibirsk Verein gebildet und hat einen Antrag beim Bundestag gestellt, weil Deutschland wegen dem Krieg auch nicht unschuldig ist, dass man die Tests durchgeführt hat. Dort hat man den Antrag angenommen, aber gesagt, es sei ungewiss, wann der angesehen wird, weil es im Bundestag viel Wichtigeres zu entscheiden gibt, und die Zeit reicht nicht.“

Ein Fünftel des Polygon genannten ehemaligen Atomtestgebietes ist Sperrgebiet. Fünf Prozent gelten als nicht betretbar für die nächsten 1000 Jahre. Experten der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA werten den Balapansee als verstrahlteste Zone Kasachstans – übertroffen nur von „Ground Zero“ im Polygon, wo 1949 die erste sowjetische Atombombe gezündet wurde. Noch 30 Jahre nach der nuklearen Tiefbaumaßnahme ermittelte die IAEA am Seeufer eine Strahlendosis von 140 Millisievert im Jahr. Zum Vergleich: Die natürliche Hintergrundstrahlung liegt bei etwa 0,2 Millisievert; laut IAEA-Standard müssen ab einer jährlichen Strahlenmenge von zehn Millisievert Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung ergriffen werden.5) 6)

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew am 29. August 1991 per Dekret die Schließung des Atomtestgeländes bei Semipalatinsk angeordnet und eine Entschädigung für durch radioaktive Verseuchung entstandene Gesundheitsschäden verlangt. Die Regierung Kasachstans und die Vereinten Nationen haben hochrechnen lassen, dass 67.000 Anwohner rings um das Polygon Strahlendosen von bis zu fünf Sievert ausgesetzt waren. Eine Belastung, die „mit hoher Wahrscheinlichkeit Krebs verursacht“, insgesamt waren etwa 1,2 Millionen Menschen durch Radioaktivität betroffen. Folge: eine dreifach höhere Krebsrate und zehnmal größere Kindersterblichkeit als im Rest von Kasachstan. 1997 hatten 500 von 1000 in Semipalatinsk geborene Babys Gesundheitsschäden, viele von ihnen sind körperlich, geistig oder mehrfach behindert.5) 15)

350.000 Menschen wurden in den vergangenen Jahren im Dispanser untersucht. Die Strahlenopfer, bis hin zur heutigen dritten Generation, erhalten einen Ausweis, der ihnen lebenslang kostenlose gesundheitliche Überwachung und Versorgung sichert.7) In Deutschland leben etwa 40.000 Augenzeugen und Leidtragende dieser Tests.3)

Genehmigt mit dem Beschluss Nr. 431
des Ministerrates der Republik Kasachstan
vom 26. Mai 1993

AUSWEIS als Berechtigung für Vergünstigungen für die Opfer der Kernkraftversuche auf dem Versuchsgelände Semipalatinsk

Person …

hatte in unten näher bezeichneten

Zeiträumen seinen Wohnsitz in folgenden Strahlungszonen:
vom Januar 1949 bis August 1952 – Zone mit maximaler Strahlung in Petropawlowka,
Kreis Schana-Semei.
vom September 1952 bis Juni 1955 und
vom September 1956 bis Dezember 1956- Zone mit erhöhter Strahlung in Semipalatinsk, vom Juli 1955 bis August 1956 – Zone mit erhöhter Strahlungsgefahr in Senkowka, Kreis Borodulicha bzw. Kreis Nowopokrowka, vom 19 01.1965 bis 19.10.1966 – Zone mit erhohter Strahlungsgefahr in Leninogorsk, Gebiet Ost-Kasachstan.

Der Ausweis ist auf dem Staatsgebiet der Republik Kasachstan unbefristet gültig

BESCHEINIGUNG
Anlage zum Ausweis Nr….
Gemäß dem Gesetz der Republik Kasachstan über den „Sozialer Schutz für die infolge von
Kernkraftversuchen auf dem Kernkraftversuchsgelände Semipalatinsk geschädigten Bürger“ vom 18.12.1992 erhalten die Bürger, die unter das o. a. Gesetz fallen, aus den Zonen mit erhöhter Strahlungsgefahr weggezogen sind und ihren Wohnsitz außerhalb der Republik Kasachstan haben, Vergünstigungen gemäß dem Erlaß Nr.2228 des Präsidenten der Russischen Förderation vom 20.12.1993.

Beschreibung der Zonen mit Strahlungsgefahr für die Bevölkerung im Versuchszeitraum von 1949 bis 1990:
Zonen mit einer außerordentliche Strahlungsgefahr: über 100 rem
Zone mit maximaler Strahlulgsgefahr:35 bis.100 rem
Zone mit erhöhter Strahlungsgefahr:von 7 bis 35 rem
Zone mit minimaler Strahlungsgefahr:bis 7 rem

Die häufigsten Erkrankungen sind Krebs, Herz- und Blutkrankheiten, Erkrankungen der Blut bildenden Organe und des endokrinen Systems. Beobachtet werden Schilddrüsenerkrankungen, Erkrankungen des Knochen-Muskel-Systems, ungewöhnliche Verletzungen der Haut, Erkrankungen des zentralen Nervensystems, psychische Erkrankungen und vorzeitiges Altern. Die Suizidgefahr ist überdurchschnittlich hoch. Bei vielen Menschen hat die Radioaktivität zu genetischen Schäden geführt, auch die kommenden Generationen leiden an den Folgen.8)

Seit 1992 kümmert sich der Internationale Hilfsfonds e.V. als erste europäische Hilfsorganisation um Atombombentestopfer in Kasachstan.9)

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bestätigte erst 1997, dass der Standort Semipalatinsk schwere Gesundheitsrisiken birgt.12) 13)

Ein winziger Ansatz zur Unterstützung der Opfer war in Artikel 2 Absatz 5 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 99/2000 vorgesehen, hier findet sich die Grundlage zur Bereitstellung von Mitteln zur Deckung von Maßnahmen, die auch die Finanzierung der Unterstützung für Strahlungsopfer in der Region von Semipalatinsk beinhalten.10)

Um in Deutschland lebende Strahlenopfer entschädigen zu können, wurde am 18. September 2008 eine Petition an die Bundesregierung mit der Bitte um Unterstützung gerichtet. Das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (BVG) vom 27. Juni 1960, zuletzt geändert am 14. August 2013, regelte die Entschädigung der Kriegsopfer in der ersten Generation. Die zweite und dritte Generation fallen nicht mehr unter dieses Gesetz. Die Forderungen der Petition beinhalteten die Anwendung des BVG auf die Strahlenopfer unter den Russlanddeutschen und auf die zweite und dritte Generation dieses Personenkreises. Entschädigung für den gesundheitlichen Schaden, der durch die Atombombentests entstanden ist und jährliche Früherkennungsuntersuchungen.11)

Im Jahr 2009 wurde im Internet im Portal „Odnoklassniki“ eine Gruppe für die Deutschen aus Russland und Kasachstan, die Opfer der Atombombentests auf dem Atomversuchsgelände von Semipalatinsk geworden sind, gegründet. Im März 2012 folgte die Gründung des gemeinnützigen Vereins „SAWTS e. V. Strahlenfolgen atomarer Waffentests in Semipalatinsk“.

Neue Entwicklung gab es am 27 September 2018 mit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel (Aktenzeichen B 9 V 2/17 R) zur Versorgung der Russlanddeutschen, die durch Atomtests in Kasachstan verstrahlt wurden. Der bisherige Sachstand (wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag WD 6–3000-081/10)  lehnte eine Entschädigung ab. Im Urteil wurde dem Kläger Recht gegeben, das die Verbannten der Sondersiedlungen zu dem geschützten Personenkreis des § 1 Absatz 2 Buchstabe c Bundesversorgungsgesetz gehören und damit ein Recht auf Entschädigung bei nachweislicher Gesundheitsschädigung haben, weil sie sich wegen der Internierung der atomwaffentestbedingten ionisierenden Strahlung nicht entziehen konnten und ihr demzufolge während der Internierungszeit schutzlos ausgeliefert waren.

Zu beachten ist dabei die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel vom 12.9.2019 (Az: B 9 V 2/18):

1. Eine Strahlenbelastung durch Atomwaffenversuche in der ehemaligen Sowjetunion kann einen Entschädigungsanspruch auch für solche deutschen Volkszugehörigen begründen, die der Strahlung erst im Anschlussgewahrsam nach ihrer Internierung ausgesetzt waren.

2. Nicht entschädigungspflichtig sind Umstände, die Gewahrsamsunterworfene in derselben Weise getroffen haben können wie alle anderen sowjetischen Staatsbürger oder die Bürger der Bundesrepublik.

 



1) Radio Stimme Russlands Die Lehren von Semipalatinsk

2) Euronews http://www.youtube.com/watch?v=Bcnl-rYG8u4

3) Ulla Lachauer: Steppenbeben Augenzeugen der sowjetischen Atomwaffentests erzählen Steppenbeben. Augenzeugen der sowjetischen Atomwaffenversuche erzählen (pdf) Deutschlandfunk, 10.9.2013

4) Der Spiegel 1/1990 Strahlenopfer in Kasachstan

5) Im Auge des Atom-Sturms greenpeace magazin 2.01

6) Grenzwerte und Dosisbegriffe im Strahlenschutz

7 Suzanne Krause: Das Erbe der Atombombenversuche Deutschlandfunk 2.6.2010

8) Wudan Yan, Die Folgen der Strahlung, Spektrum 14.8.2019

9) Internationaler Hilfsfonds e.V.

10) II/1082 DE Amtsblatt der Europäischen Union 8.3.2005 BEZIEHUNGEN ZU DEN LÄNDERN IN OSTEUROPA, IM KAUKASUS UND IN ZENTRALASIEN

11) Freiheitsglocke Berlin, April 2013 63. Jahrgang, Nr. 726 VOS – Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. Gemeinschaft von Verfolgten und Gegnern des Kommunismus

12) RADIOLOGICAL CONDITIONS AT THE SEMIPALATINSK TEST SITE, KAZAKHSTAN: PRELIMINARY ASSESSMENT AND RECOMMENDATIONS FOR FURTHER STUDY INTERNATIONAL ATOMIC ENERGY AGENCY VIENNA, 1998

13) Peter Stegnar, Toni Wrixon: Semipalatinsk Revised IAEA Bulletin 40/4/1998

14) In der russischen Armee gibt es den Feldscher als unterste Stufe des Militärarztes noch heute, sie waren als Wundärzte oder Militärchirurgen auch in Deutschland bekannt. In der Sowjetunion und im heutigen Russland war und ist der Feldscher auch im zivilen Bereich als medizinische Hilfskraft tätig (oberhalb einer Krankenschwester, unterhalb eines Assistenzarztes angesiedelt) – vorzugsweise in ländlichen Gebieten. Er hält selbständig Sprechstunden ab. Auch in Deutschland gab es bis 1950 medizinisches Personal, das in seiner Ausbildung unterhalb des approbierten Arztes angesiedelt war und im Alltag selbständig Behandlungen durchführte: Arzthelfer (nicht mit dem heutigen Beruf vergleichbar) und Dentisten. Ein Haupteinsatzgebiet ist die Medizinische Prophylaxe (Hygiene) und die Medizinische Grundversorgung. Schwerere Fälle überweisen sie an die nächst höhere Stufe der medizinischen Versorgung, vorzugsweise Krankenhäuser. Die Feldscher wurden und werden in Russland in dreijährigen Fachschulen ausgebildet, sie besitzen eine vorausgehende Schulbildung, die dem deutschen Abitur vergleichbar ist. Nach einer 2-3 jährige Praxisphase schließt sich für künftige approbierte Mediziner ein 5-6 jähriges Hochschulstudium an, ehe sie als Ärzte (Assistenzärzte) in Kliniken wechseln. Dort erfolgt wie in Deutschland die Weiterqualifikation zum Facharzt (Oberarzt, Chefarzt). Approbierte Ärzte arbeiten auch als niedergelassene Ärzte.

15) Meinrad Schade „war without war„, Fotografien aus Kasachstan 2010

Prof. Dr. Horst Kuni Das strahlende Jahrhundert Klinische Nuklearmedizin, Klinikum der Philipps-Universität Marburg Vortrag am 8.11.1999

Laubreiter, Andreas (2009) Deutsch-russische Kernwaffenterminologie mit Schwerpunkt auf die ehemaligen sowjetischen Atomwaffentestgelände Semipalatinsk und Nowaja Semlja. Diplomarbeit, Universität Wien. Zentrum für Translationswissenschaft

Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG) Zuletzt geändert durch Art. 1 V v. 21.6.2023 I Nr. 165 ab dem 01.01.2024 gilt Entschädigung nach dem Sozialgesetzbuch 14 (SGB XIV)

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