Es passierte eines Tages, als die Ameisen nach dem langen Winterschlaf langsam aufwachten und sich gemütlich reckten und streckten. Im Wald war schon ein Hauch des Frühlings im Schaukeln der Bäume und der ersten Blätter zu spüren. Die Wiesen wurden wieder grün, auf den Büschen sprießen Knospen. Die Sonne stand mit jedem Tag höher auf dem Himmel. Die Zugvögel kamen zurück. Auch der Kuckuck meldete sich aus dem Eichenwald. Es wehte ein warmer Wind und der Frühling begann seinen bunten Blumenteppich auszubreiten.

Die Ameisen hörten das Vogelgezwitscher und andere Waldgeräusche und krochen auch in die Sonne, wärmten sich auf, vertraten ihre Füße und streckten die Fühler. 

Rings um einer alten Eiche ging es hektisch zu. Eine Menge von Ameisen eilte, um der Ameisenkönigin zu helfen, die kleinen Larven zu betreuen, die sie im Winter gelegt hatte. Unermüdlich schleppten sie über den Boden Blätter, trockene Halme und winzige Stöckchen, um ihren Ameisenhaufen zu reparieren. Geschäftig liefen sie über trockene Stellen auf ihrem neuen Ameisenpfad.

Vielleicht von weit her, aber vielleicht auch nicht, kam eines Tages die neu gewählte Bienenkönigin zusammen mit ihrem Bienenvolk angeflogen und ließ sich nach ein paar Runden über dem Wald in einer großen Baumhöhlung nieder. Es war wirklich ein schöner Platz. Das Ameisenreich befand sich in der Nachbarschaft. Etwas weiter bereiteten sich wilde Rosen auf einem Feld aus und dahinter wuchsen Lindenbäume.

Dorthin begannen die Bienen zu fliegen, um Vorräte vom schön duftenden Honig in ihrem neuen Zuhause anzulegen. Den ganzen Tag hörte man das Summen der Bienen. Bald begann auch die Bienenkönigin ihre Eier zu legen und sich auf die Geburt einer neuen Bienengeneration vorzubereiten. Sie sah, wie die Ameisen in der Nachbarschaft von früh bis spät einander unterstützten und auf die Kleinen aufpassten. Eines Tages kam sie auf die Idee, die Ameisenkönigin zu sich einzuladen. Sie wollte sich mit ihr unterhalten, wie es der Nachbarin so geht, wie man den Nachwuchs besser pflegt, womit füttert, damit sie schneller wachsen und nicht krank werden. So ein Plausch könnte ja für beide interessant sein…

Ohne lange nachzudenken, schickte sie ihre Diener, um der Ameisenkönigin ihre Einladung zu überbringen. Sie hatte sich auf den Besuch sehr sorgfältig vorbereitet. Die Tische waren für die Gäste feierlich mit verschiedenen Leckereien und Getränken gedeckt. Die einzigartig geschwungenen Hocker waren aus Wachs gemacht. Als alles vorbereitet war und das Fest beginnen konnte, verstäubten die jungen Bienchen von ihren Flügelchen den Blumenstaub und die Gräser – und Blumenduft verbreitete sich über den ganzen Eichenwald.

Die Ameisenkönigin hatte sich natürlich sehr über die Einladung ihrer Nachbarin gefreut. Sie nahm eine ganze Gefolgschaft dafür mit. Es war die Ameisenleibgarde, die vor ihr, um sie zu schützen, marschierte.  Ihr folgten die Ameisenältesten, die ein langes Leben gelebt, viel Interessantes erlebt hatten und darüber fabelhaft berichten konnten. 

Und wie viele Dienerinnen hatte die Königin um sich! Sie nahm auch gern auf ihre Spaziergänge ihren kleinen Sohn mit. So auch diesmal. Die Ameisen nahmen auf den Wachshockern Platz, die Bienen saßen etwas höher auf Grashalmen, Blättern, um ihre Gäste besser zu sehen und ihnen sofort jeder ihrer Wünsche zu erfüllen.

Natürlich wurden sie gegenseitig vorgestellt. Jedes bedeutende Mitglied der Gefolgschaft erzählte kurz über sich, über seine Auszeichnungen und Posten in ihrem Königreich. Beim Essen wurde noch mehr erzählt, jeder hatte viel Interessantes zu berichten. Die jungen Bienchen kreisten um die Gäste herum und freuten sich, so viel Amüsantes und Neues mitzuhören. Die Bienenschreiber notierten all‘ diese Geschichten auf Wachstafeln für die königliche Bibliothek. Der Sohn der Ameisenkönigin war besonders neugierig. Das Ameisenlein hörte  sehr so aufmerksam zu und kroch weit nach vorne, um besser alles mitzubekommen, sodass alle bald seine Neugier bemerkten. 

„Wie wissbegierig der Königssohn ist“, riefen die Erwachsenen begeistert und machten für ihn Platz neben den Erzählern. Langsam wurde es dunkel. Die Gäste begannen sich zu verabschieden. Sie betraten ihren Ameisenpfad und liefen hintereinander zu ihrem Ameisenhaufen zurück. Die Bienen kreisten ein bisschen über den Grashalmen und Blumen, auf denen sie gesessen hatten und schwärmten zurück zu ihrer großen Baumhöhlung mit Lindenhonigvorräten.  Auf sie warteten ohne Zweifel süße Träume.

Bald wollte auch die Ameisenkönigin ein schönes Abendmahl für ihre Nachbarn ausrichten und dazu noch einen Ritterschaukampf veranstalten.  Beide Königinnen saßen auf wunderschönen Sesseln, die aus Grashalmen und Blumenstängelchen geflochten, und mit weichen, wunderbar duftenden Blumenblüten gepolstert waren. Es war sehr bequem. Die Gefolgschaft nahm Platz auf Blättern und Grashalmen. Ein kleines Ameisenlein  war besonders hoch geklettert, um die Ritter besser zu sehen. Es wusste ja nicht, wie lange das Turnier dauern würde, das sich die Ameisen sich ausgedacht hatten. Es wurde „Wer baut schneller sein Haus“ benannt.

Die Ameisen sammelten im Eiltempo kleine Stängel für einen neuen Ameisenhaufen und die Bienen flogen in alle Richtungen aus, um trockene Grashalmen für den Bienenstock zu suchen. Was dann passierte? Wer hat gesiegt?  Leider hat es keiner erfahren.

Plötzlich wurde es sehr windig, alles ringsum drehte sich im Kreise. Der Wind schmiss das kleine Ameisenlein – den Königssohn – vom Blatt und trug ihn irgendwo hin. Er fand sich im Lindenhain, der ziemlich weit vom heimischen Ameisenhaufen entfernt war.  Um nach Hause zu kommen, musste er das Tal mit wilden Rosen überqueren. Er kroch ziemlich lange umher und wurde müde. Da fand er ein stilles Plätzchen in einer Rosenknospe und schlief bald ein. 
Die Ameisenkönigin hatte während dessen ihre ganze Gefolgschaft auf die Suche nach ihrem Söhnchen geschickt. Doch der starke Wind hinderte sie daran, die Suche in der Nacht auszuweiten. Der Sohn der Ameisenkönigin schlief tief und sammelte Kräfte für den nächsten Tag. Er ahnte noch nicht, was für Überraschungen ihm bevorstanden.  Er wurde am frühen Morgen wach und begann den Abstieg von der Rose. Er war noch nicht ganz unten, als er eine Gefahr von oben witterte. Ein riesiger Schatten verdeckte die Sonne. Eine Amsel hatte ihn bemerkt und wollte ihn verspeisen, aber der Ameisensohn versteckte sich schnell in der Mitte eines Strohhalms. Die Amsel packte den Strohhalm und wedelte ihn hin und her. Aber der kleine Ameisenprinz war nicht dumm. Er stemmte sich mit den Füßchen an die inneren Seiten des Strohhalms und konnte sich so festhalten. Die Amsel schmiss ihn in die Höhe. Noch nie musste der Kleine solche Pirouetten miterleben und das alles in der Luft. Er fiel aus dem Strohhalm heraus und landete auf einer aufgeblühten Rose, die ihn zwischen ihren Blüten versteckte. Also flog die Amsel unverrichteter Dinge weg.

Langsam legte sich der Wind. Die Bienen flogen weiter, um emsig Nektar zu sammeln. Viele wussten Bescheid über den verschwundenen Sohn der Ameisenkönigin und schauten sich sehr aufmerksam um.  Eine Biene setzte sich auf die Rose, in der er sich versteckt hatte. Er hörte schon seit einiger Zeit das Bienensummen und als er über seinem Kopf das gestreifte Bäuchlein sah, kroch er aus der Knospe heraus nach oben. Er freute sich sehr, als er seine netten Nachbarinnen wieder sah, die er auf dem Fest kennengelernt hatte. Der süße Nektargeruch der Bienchen! M-m! Jede roch noch etwas anders, weil sie verschiedene Blumen bestäubten. Eine bevorzugte die Kleeblumen, die andere Rosen oder Lindenblüten.

Die Biene, die etwas größer als die andere und auch stolz darauf war, lud das Ameisenkind mit einer graziösen Geste auf ihren weichen Rücken und sie flogen nach Hause.  „Tschüß!“, verabschiedete es sich von der Rosenknospe. Nach dem Strohhalmabenteuer hatte es keine Angst mehr durch die Luft zu fliegen. Der Ameisenprinz musste sich nicht mal festzuhalten: Er lag gemütlich zwischen den weichen Haaren der Biene und beobachtete von oben die Landschaft. 

Die anderen Bienen waren schneller als sie im Ameisenkönigsreich. Als die Biene mit dem Sohn der Ameisenkönigin neben ihrer Residenz landete, hatte sich schon das ganze Ameisenvolk dort versammelt. Die glückliche Königin ordnete ein Fest an. Sie lud ihre Nachbarn – das Bienenvolk, dazu ein. Die Feierlichkeiten dauerten vom frühen Morgen bis in den späten Abend hinein. Dann flogen und krochen alle sehr zufrieden nach Hause. Das kleine Ameisenkind fiel in einen tiefen Schlaf in seinem Bett.

Alle sprachen darüber, wie schön die Nachbarschaft zwischen Bienen und Ameisen sei, sodass sie echte Freunde geworden sind. So unterschiedlich wie sie auch waren, es gab ja schon immer echte Freundschaftswunder. Es ist egal, ob du als Biene oder Ameise geboren worden bist. Ein Freund eilt zur Hilfe, wenn es dir schlecht geht, ohne lange nachzudenken. Und du veranstaltest als Dank für deine Rettung eine Feier für ihn, weil du froh bist, dass du so einen Freund hast. Wir sind alle Gottes Geschöpfe, jeder ist anders, aber wir wollen friedlich nebeneinander auf unserem Planeten leben.

Hier ist des Märchens Ende,
man muss das Blatt wenden.

Autor: Alexander Weiz

Titelbild: Jutta Rzadkowski

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