Taurien, einstiges Gouvernement, welches die Halbinsel Taurien (Krim), die nördlich liegende nogaische (krimsche) Steppe, das Land der tschernomorskischen Kosacken und die zwischen der Kubanmündungen gelegene Halbinsel Taman umfaßte. Mit dem Festland ist die Halbinsel durch die Landenge von Perekop verbunden.
Es findet sich im Norden der Halbinsel eine baumlose Steppe mit einigen Salzseen, im Süden längs der Küste ein Kalkgebirge, durchzogen von waldige Höhen und fruchtbaren, wasserreichen Tälern. Das milde Klima ist ideal für den Anbau von Wein, Obst und Südfrüchten. Die Halbinsel Taman besitzt zudem einige Bergteerquellen, ein natürliches Vorkommen von Asphalt.
Zur Zeit des antiken Griechenlands Sitz der Skythen und Amazonen, gab es auch griechische Kolonien. Phanagoria, auf der Halbinsel Taman, Pantikapaion und Theodosia im Osten der Krim. Chersonesos (Heraklea) auf dem Steppenplateau, oder etwa Olbia an der Mündung des Bug.3 Die Geschichte Tauriens war wechselhaft, wie ich unter Krim geschrieben habe, zogen im Laufe der Jahrhunderte viele Völkerschaften in diesen Gegend, eroberten und zogen wieder von dannen. Am Ende des 12. Jahrhunderts waren die Genueser Herren der Krim und gründeten Caffa. Hier war der Sitz einer Administration im Netzwerk von Handelsstützpunkten im Schwarzen Meer. Im 13. Jahrhundert eroberten Tataren die Krim und im 15. Jahrhundert Türken. 1771 von den Russen erobert, wurde 1774 die Unabhängigkeit der Krim anerkannt. 1783 wurde die Krim zu russischem Eigentum erklärt und als solches 1784 von der Türkei förmlich anerkannt. Unter dem Namen Taurischer Chersones, kurz Taurien, wurde die Krim 1784 dem russischen Reich angegliedert.
Grigori Alexandrowitsch Potjomkin erhielt als Dank für die Eroberung den Beinamen „der Taurier“, der kaiserliche Titel erweitert als dem „Zaren des taurischen Chersones“.
Als Teil des Kolonisationsgebietes Neurussland wurde eine Oblast Taurien eingerichtet. Dabei wurde der antike Name Taurien wiederbelebt, als Name für die Krim setzte sich Taurien außerhalb von offiziellen Dokumenten allerdings nicht durch. 1796 von Zar Paul I. aufgelöst, wurde es 1802 von Alexander I. als Gouvernement wiedererrichtet. In dieser Form bestand es bis Oktober 1921.
Potjomkins Ansiedlungsversuche brachten nicht den gewünschten Erfolg, erst unter Alexander I. begann um 1803/1804 eine gezielte Ansiedlung von Deutschen und rund 60 Schweizer Familien.
Die Gründungen der deutschen Kolonien erfolgte rasch (am unteren Ende der Tabelle ist ein Schieberegler für die volle Breite):
Kolonie
heutiger Name
Gründung
Herkunft der Kolonisten
Hoffental
heute im nördlichen Teil von Wynohradne
1804
ev.
einige Familien sind 1802 – 1807 aus Baden und Württemberg nach Preußisch Polen ausgewandert; 1810 kamen noch zwei Familien aus Württemberg und 17 Familien aus Westpreußen
Rosental
Nowe Pole, Нове Поле
1804
ev.
Zu den ursprünglichen Familien kamen 1810 drei Familien aus Preußisch Polen und 3drei aus Baden. 1823 kamen noch zwei Familien und 1833 acht Familien aus der aufgelösten Kolonie Neudorf. Insgesamt waren es 28 Familien.
großteils zerstört, der größte Teil der Einwanderer kam aus Württemberg und Baden. Später weitere Einwohner aus den verschiedenen Teilen Deutschlands und den umliegenden deutschen Kolonien
Wasserau
Wodne, Водне
1805
ev.
1802 kamen Einwanderer aus Württemberg, Kreis Rottenburg nach Preußisch Polen, dann 1804 mit einigen anderen dortigen Familien (insgesamt 38 Familien) nach Südrussland. 1810 kamen 4 Familien aus Baden-Durlach dazu. 1823 übersiedelte die ganze Gemeinde an einen günstigeren Ort, da das Land im ursprünglichen Ort sich über 12 km ausdehnte und daher die Bearbeitung umständlich war..
Weinau
Tschapajewka, Чапаєвка
1805
ev.
1802 aus der Stuttgarter Gegend, lebten die Kolonisten einige Jahre in Preußisch Polen. 1810 kamen noch 12 Familien aus Baden. 1815 zogen 15 Familien nach Wasserau und 1840 drei Wirte nach Kronsfeld.
Waldorf
Schowtnewe, Жовтневе
1809
kath.
Durlach
1810
ev.
zerstört, südlich von Tschapajewka, Чапаєвка
Grüntal
1810
ev.
zerstört, bei Tschornosemne, Чорноземне
Heidelberg
Nowohoriwka, Новогорівка
1810
kath.
die meisten Familien kamen aus Baden: Mannheimer, Heidelberger und Rastatter Umgebung; 1822 kamen zu den 82 Familien noch weitere 10 hinzu
Hochstädt
Wyssoke, Високе
1810
ev.
Kostheim
Pokasne, Показне
1810
kath.
Badener Familien aus dem Raum Bruchsal, Elsässer, Pfälzer aus der Gegend um Landau und Speyer
Leiterhausen
Traktorne, Тракторне
1810
kath.
Familien aus der Gegend von Mannheim, Heidelberg und dem Elsaß
Reichenfeld
Plodorodne, Плодородне
1810
ev., kath.
30 evangelische und eine katholische Familie aus der Gegend um Mannheim und Heidelberg. Dazu einige Württemberger aus dem Raum Stuttgart und einige Pfälzer aus dem Bistum Speyer. 1823 kamen noch 6 evangelische und 4 katholische Familien aus Zarskoje Selo bei Petersburg, wohin sie 1807 – 1809 eingewandert waren.
Friedrichsfeld
Rosdol, Роздол
1812
ev.
Familien stammen aus dem Raum Mannheim und Heidelberg; dazu 4 Familien aus der Stuttgarter Gegend; 1811 kamen weitere Familien, die 1804 aus Preußisch Polen nach Neudorf eingewandert sind und dann nach Friedrichfeld umsiedelten.
Neu Nassau
Suwore, Суворе
1814
ev.
12 Familien stammen aus dem Schwarzwald (Württemberg) und 20 aus Hessen-Nassau.
Karlsruhe
Sraskowe, Зразкове
1815
ev.
15 Familien kamen aus Weinau und 16 aus Wasserau; 1821 zogen weitere 5 Familien aus dem Durlacher und Eppinger Raum in Badens zu; einige aus dem Elsaß
21 Familien kamen aus Altmontal, 1823 kamen weitere 7 hinzu
Hochheim
Komsomolske, Комсомольське
1818
ev.
Tiefenbrunn
Tschystopillja, Чистопілля
1820
ev.
Blumental
Riwne, Рівне
1822
kath.
Nachkommen der Kolonien Kostheim, Leiterhausen, Heidelberg und Waldorf
Kronsfeld
Marjaniwka, Мар’янівка
1825
ev.
Die Kolonie wurde von Familien, die aus der Gegend von Heidelberg und Tübingen auswanderten und zunächst bei Petersburg (Zarskoje selo) siedelten, gegründet. Es waren 19 Familien, die unter ihrem Schulzen Adam Schatz Kronsfeld gründeten. 1833 musste die Kolonie 12 weitere Familien aus dem aufgelösten Neudorf aufnehmen. 1839 kamen weitere 3 Familien aus Weinau hinzu.
3Skizzen aus der Geschichte der Krim Vortrag, gehalten im Stadthaus zu Weimar den 20. März 1855 Autor: Sauppe, Hermann (1809-1893) Professor, deutscher klassischer Philologe, Pädagoge und Epigraphiker, 1855
Um Ihnen, werter Leser, die Gelegenheit zu geben, sich mittels weniger beispielhafter Zeitzeugenberichte selbst ein Verständnis der Geschehnisse zu verschaffen, hier einige Verweise, diese Links stehen weder in meiner Verantwortung, noch geben sie meine Ansichten wieder:
Brief von Gisela Sch. an die Eltern – geschrieben nach dem unmittelbaren Erleben des Angriffs auf Dresden – diesen Angriff mussten auch unsere Angehörigen erleben, Autorin: Gisela Sch. bzw. Original1
Ella Steingräber, geboren 1932 in Bessarabien spannt in mehreren Videos einen Bogen von der Kindheit in die heutige Zeit, erzählt über Umsiedlung und Flucht als Zeitzeugin3
Artur Weiss, Buchautor, 1931 in Bessarabien geboren und einer der wenigen Zeitzeugen, die in der DDR lebten und auch aus dieser Sicht ihren Lebensweg schildern5
Da für viele unbegreiflich ist, weshalb sich die Umsiedler zur Waffen-SS haben einziehen lassen, sind diese Berichte vielleicht ein Ansatz zum Verständnis:
Weiterführend wäre das Buch Die „Rückführung“ der Volksdeutschen am Beispiel der Bessarabiendeutschen von Heinz Fieß, dazu eine Rezension der „Revista BUNĂ – Zeitschrift für Befreiung & Emanzipation – nicht nur in Rumänien“ mit zahlreichen Quellbelegen.
Bereits 1789, nachdem die Siedlung Chortitza gegründet wurde, kamen Mennoniten aus Westpreußen in die Siedlung, da ihnen der preußische König Friedrich Wilhelm III. den Landerwerb erschwerte, weil sie keinen Wehrdienst leisten wollten. Trotz aller Schwierigkeiten mit den vorgefundenen Bedingungen, siedelten bald immer mehr von ihnen. Da die Mennoniten als Musterlandwirte galten, förderten die Zaren ihre Ansiedlung. Zar Paul I. erließ im Jahre 1800 ein Privileg, welches die Mennoniten „auf ewige Zeiten“ vom Wehrdienst befreien sollte.
1803 überwinterten Siedler, die zur Ansiedlung im Prischib bestimmt waren in Chortitza. Das Gebiet nahe des Asowschen Meeres bot auf ungefähr 6.500 Dessjatinen Platz für Kolonisten am Fluß Molotschna. Gutsbesitzers Dubinsky hatte etwa 45 Werst von der Kreisstadt Melitopol, 320 Werst von der Gouvernementsstadt Simferopol und 150 Werst von Jekaterinoslaw entfernt, sein Gut gegen Entschädigung abgetreten.
Jeder Siedler erhielt 65 Desjatinen Land, in den Jahren 1803–1805 wanderten 342 westpreußischen Mennoniten-Familien ein und gründeten 57 Dörfer. Viele von ihnen waren vermögend, da sie zuvor ihre Höfe in Westpreußen verkauft hatten und daher einen wesentlich leichteren Start hatte, als beispielsweise viele Kolonisten später in Bessarabien
Mykolajiwka/Миколаївка, Nikolajewka/Николаевка (heute eingemeindet nach Seljony Jar/Зелёный Яр)
Paulsheim
1852
Pawliwka/Павлівка, Pawlowka/Павловка (heute eingemeindet nach Seljony Jar/Зелёный Яр)
Kleefeld
1854
Mohutneje/Могутнє, Mogutneje/Могутнее
Alexanderkrone
1857
Molotschne/Молочне, Molotschnoje/Молочное
Mariawohl
1857
Selenyj Jar/Зелений Яр, Seljony Jar/Зелёный Яр
Friedensruh
1857
Myrnyj/Мирний, Mirny/Мирный
Steinfeld
1857
Sadowyj/Садовий (existiert nicht mehr; bei Makiwka/Маківка), Sadowy/Садовый
Gnadental
1862
Blahodatne/Благодатне, Blagodatnoje/Благодатное
Hamberg
1863
Kamjanka/Кам’янка, Kamenka/Каменка
Klippenfeld
1863
Mohotschnyj/Могочний (heute eingemeindet nach Stulnewe/Стульневе), Mogotschny/Могочный (heute eingemeindet nach Stulnewo/Стульнево)
Fabrikerwiese
1863
Fabrytschne/Фабричне, Fabritschnoje/Фабричное
Bis etwa 1819 verhinderten die napoleonischen Kriege weitere Auswanderungen, bis 1820 wanderten dann 254 Familien ein. Danach verlief die Auswanderung deutlich langsamer, bis 1835 hatten sich insgesamt 1.200 Familien mit etwa 6.000 Personen nieder gelassen. Die Siedlung besaß etwa 120.000 Desjatinen Land, ein Teil davon Gemeindelandum für künftige Generationen und die damit verbundende Zahl der Menschen die Versorgung zu garantieren.
Die Einwohner von Molotschna wurden, wie die der Chortitzaer Ansiedlungen, 1943 in den Warthegau evakuiert und später von der Roten Armee bei ihrem Einmarsch nach Deutschland zurück in Verbannungsorte der Sowjetunion deportiert. Viele ihrer Nachkommen leben heute in Deutschland, Kanada, den Vereinigten Staaten und Südamerika.
Die ehemaligen Molotschnaer Kolonien sind heute die kleine Stadt Tokmak in der Oblast Saporischschja in der südlichen Zentralukraine.
Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897.
Die Einwanderung der Mennoniten nach Russland begann mit der Aufforderung des russischen Abgesandten, Collegien-Assessor George von Trappe, dem Ruf der Zarin Katharina II. Folge zu leisten und die Steppe urbar zu machen.
Die Anhänger der nach ihrem Gründer Menno Simons benannten Glaubensrichtung lehnen die Taufe ihrer Kinder ab, sie sollten sich erst als Erwachsene durch die Taufe bewußt zu ihrer Religion bekennen. Durch ihre Ablehnung jeglicher Gewalt verweigern sie auch jeden Kriegs – oder Militärdienst, Staatsdienst und die Eidesleistung. Bereits im 16. Jahrhundert flüchteten die Mennoniten auf Grund dieser Haltung und religiöser Verfolgung in das Mündungsgebiet der Weichsel. Hier erhielten sie 1780 von Friedrich II. ein Gnadenprivileg, das sie vom Militärdienst befreite. Ihnen wurde Schutz bei der Ausübung ihres Gewerbes zugesagt, vor allem in der Textilherstellung und –verarbeitung, jedoch durften sie nur mit Genehmigung des Königs Land erwerben.
König Friedrich Wilhelm II. war nicht bereit, dieses Gnadenprivileg nach dem Tod seines Onkels 1786 anzuerkennen und verschärfte das Verbot des Landerwerbs. So wurde die Landnot enorm, dazu kamen nun Zwangsabgaben für protestantische Schulen und Kirchen, die ihre Kinder nicht besuchten und für die Befreiung vom Militärdienst, die mangels Wehrdienst erfolgen musste. Die ständigen Überflutungen der Deiche brachten Ernteausfälle mit sich, die der ständig wachsenden Mennonitengemeinschaft zusätzliche Probleme bereiteten. So war die Verlockung, weites Siedlungsland zu erhalten, gross.
Die Danziger Mennoniten entsandten zwei Deputierte, Jakob Höppner und Johann Bartsch, Ende September des Jahres 1786 nach Russland, um geeignetes Siedlungsland zu finden. Ihr Reiseweg führte sie zunächst per Schiff nach Riga, von dort aus nach Dubrowna/Weissrussland. Dem Generaladjutanten von Taurien, Generalleutnant Baron von Stahl empfohlen, brachen sie nach Krementschug auf und von dort nach Cherson.
Hier war nicht nur ihr Winterlager, sie bereisten den Cherson, ehe sie am 13. Mai 1787 der Zarin in Krementschug vorgestellt wurden. Diese sicherte ihnen folgende Privilegien zu:
Religionsfreiheit
als Reisekosten in das Siedlungsgebiet erhält jeder Erwachsene 25, jedes Kind unter 14 Jahren 12 Kopeken und freies Quartier
bei Ankunft für jede Kolonistenfamilie 65 Desjatinen Land
die russische Regierung verpflichtete sich, Holz für den Hausbau und Baumaterial für zwei Mühlen zu Verfügung zu stellen
bis zu ersten Ernte soll eine Unterstützung von 10 Kopeken pro Person und Tag gezahlt werden
für den Kauf landwirtschaftlicher Geräte und Saatgut erhält jede Familie ein Darlehen von 500 Kopeken, welches nach 10 Jahren in drei Raten zurückzuzahlen wäre
in den ersten 10 Jahre nach der Ansiedlung erhalten die Kolonisten eine Steuerbefreiung, danach wären pro Desjatine und Jahr 15 Kopeken zu zahlen
Befreiung von Militärdiensten, Fuhrdiensten, öffentlichen Arbeiten und Einquartierungen, im Gegenzug sind die Kolonisten verpflichtet, Brücken und Wege in ihrem Siedlungsgebiet zu pflegen und instand zu halten
Die Abgesandten begleiteten nach dieser Unterredung die Zarin auf die Krim. Im September des Jahres wurden auf ihr Bitten hin diese Zusicherungen durch Fürst Potjomkin fixiert. Höppner und Bartsch kehrten danach über Krementschug, Sankt Petersburg, Riga und Warschau zurück in die Heimat. Noch in Riga trafen sie auf die Familien des Hans Hamm, Kornelius Willins, Peter Rogese, Jakob Harder und Dietrich Isaak. Bei ihnen war auch der ledige Abram Krahn, Schwager des Isaak. Sie hatten sich bereits auf den Weg nach Russland machen wollen, als ihnen das Geld aus ging. Nun konnten sie Reisekosten im Hauptbüro beantragen zur Weiterreise.
In Warschau mussten Hoppner und Bartsch den König von Polen, Stanislaus II. August, über den Wunsch zur Auswanderung der Danziger Mennoniten und ihr Abkommen mit der russischen Zarin unterrichten. Mit ihrem Eintreffen in Danzig wurde am 19. Januar 1788 eine Versammlung der Auswanderungswilligen einberufen. Wer auswandern wollte, musste nun einen Pass beantragen und zehn Prozent seines Vermögens als Abzugsgeld an den preußischen Staat zahlen.
Am Ostersonntag, den 22. März 1788, brachen 7 Familien mit 50 Personen unter Höppners Führung von Bohnsack aus nach Stutthoff auf. Am nächsten Tag setzten sie sich mit Schlitten über das tauende Eis in Richtung Riga in Bewegung. Um ihren Pferden Schonung zu geben, blieben sie vier Wochen, ehe sie nach Dubrowna aufbrachen, das sie am 24. Juni 1788 erreichten.
Eine Weiterreise war zunächst nicht möglich, da sich Russland im Krieg mit der Türkei befand. Bis zum Frühjahr 1789 lagerten sie, während nach und nach weitere 228 Familien eintrafen. In der ersten Maiwoche 1789 brachen 6 Familien mit Höppner auf, um eine Vorhut zu bilden. Über Orscha und Krementschug reisten sie nach Jekaterinoslaw, wenig später weiter in das Tal der Chotitza, welches sie im Juli 1789 erreichten.
Das Entsetzen der Kolonisten bei Ankunft war groß, ein verlassenes zerstörtes Dorf lag vor ihnen, kein Baum, kein Strauch, kein Tier war in der Umgebung zu finden. Das ihnen versprochene Land war nicht hier, doch nun mussten sie sich allen widrigen Umständen zu trotz einrichten.
Während Höppner, Bartsch und einige andere auf die Dneprinsel Chortyzja zogen, wo ein verlassenes Wohnhaus ihr Quartier wurde, begannen die anderen Familien mit der Errichtung von Unterkünften, zumeist Erdhütten, um sich auf den herannahenden Winter vorzubereiten.
So wurde die Kolonie Chortitza ( Chortyzja, Хортиця, Хортица), nordwestlich der Insel Chortyzja, durch Flamen gegründet. Die Friesen ließen sich im von ihnen gegründeten Dorf Kronsweide nieder. Zwischen 1793 und 1796 kamen weitere 118 Familien, welche auf die bereits bestehenden Kolonien Chortiza verteilt wurden. Ingesamt entstanden zwischen 1789 und 1797 elf mennonitische Kolonien.
Eine erneute Bestätigung ihrer Privilegien erhielten die Mennoniten 1800 durch einen Gnadenbrief des russischen Zaren Paul I.
Ab 1803 erfolgte eine erneute Auswanderungswelle, die nun ankommenden 342 Familien aus dem Elbinger und Marienburger Gebiet lagerten bei ihren Brüdern und Schwestern der Chortitzer Kolonien, ehe sie in die Molotschna weiter zogen.
Die Aufhebung aller Privilegien der Russlanddeutschen durch den russischen Zaren Alexander III. im Jahr 1871 zwang auch die Mennoniten zum Militärdienst, trotzdes von ihnen durchgesetzten Ersatzdienstes entschlossen sich tausende nach Übersee auszuwandern. Vor allem zwischen 1874 und 1879 zog es sie vor allem nach Nordamerika, etwa 18.000 ließen sich in Canada nieder.
Ab 1899 verließen viele Familien die Kolonien auch in Richtung Sibirien, ab 1907 sogar planmäßig. So entstanden bis 1914 rund 100 Siedlungen durch 200 Chortitzer und 1000 Familien aus der Molotschna um Omsk, Slawgorod, Pawlodar und Minussinsk.
Die russische Regierung unterband diese Auswanderungswelle ab 1929 radikal. Die Entkulakisierung seit 1928 betraf auch die Mennoniten, deren Geistliche und Lehrer, sowie viele weitere Menschen verschleppt, verbannt oder erschossen wurden. Die Kirchen wurden, wie überall, geschlossen. Insgesamt wurden zwischen 1929 und 1941 aus den Chortitzer Kolonien 1144 Männer, 162 Frauen und 150 Jugendliche verschleppt. Der Verbleib von 973 Personen ist ungewiss, 332 kamen in den Ural , 66 in den hohen Norden, 50 in den Süden, 18 nach Sibirien, jeweils sechs in die Zentralgebiete und den Fernen Osten, vier nach Kasachstan und eine Person in den Kaukasus.
Am 28. August 1941 wurde die Umsiedlung aller Russlanddeutschen durch Stalin befohlen, nun wurden die meisten verbliebenen Einwohner deportiert, das betraf 1438 Männer, 367 Frauen und 482 Jugendliche.
Etwa 35.000 Mennoniten gelang es, nach der Kapitulation in Stalingrad am 2. Februar 1943 mit auf den deutschen Tuppen in Richtung Westen zu ziehen, da die deutsche Armee aufgefordert wurde, die restliche deutsche Bevölkerung mitzunehmen, etwa 350.000 Deutsche, die in der Sowjetunion lebten.
Der geordnete Abzug betraf zunächst die Mennonitenkolonie Molotschna am 12. September 1943, danach folgte die Mennoniten-Siedlung Chortitza und Ende Oktober die Mennoniten-Siedlung Zagradovka. Anfänglich mit Zügen in den Warthegau unterwegs, setzte man nun auf Pferdewagenkolonnen, um die Steppe zu verlassen.Im März 1944 trafen die Evakuierten ein und blieben ebenso, wie die Bessarabier, die nach der Umsiedlung zur Ansiedlung auf dortige Bauernhöfe verteilt wurden. Auch die Mennoniten durchliefen den Einbürgerungsprozess der Einwanderungszentrale (EWZ), um die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Der Aufenthalt im Wartheland sollte nicht einmal ein Jahr dauern, da erreichte die Front am 17. und 18. Januar 1945 Polen und Ostpreußen. Auf der Flucht in Richtung Westen schlossen sich auch polnischen und Danziger Mennoniten an, einige versuchten über die Ostsee nach Norden zu fliehen.Am 2. Februar 1945 erreichte ein Teil von ihnen den kleinen Ort Plattkow (Błotko), ein Dorf rund 40 km westlich der Oder im Spreewald, heute Ortsteil der Gemeinde Märkische Heide im Landkreis Dahme-Spreewald (Brandenburg). Sie blieben, wie aus den Melderegistern1 ersichtlich, bis zum 24. Februar, dann hatte die Front sie erneut eingeholt.
Es folgten erbitterte Kämpfe beiderseits der Oder auf dem Vormarsch nach Berlin. Vielen Flüchtlingen war nicht bewußt, das sie auf der westlichen Seite der Oder nicht in Sicherheit waren. Die Elbe war die Trennungslinie zwischen Ost und West, die in Jalta vereinbart wurde, so wurden viele von ihnen gefangen genommen und in die Sowjetunion deportiert. Doch auch in der westlichen Zone wurden viele gefangen und gewaltsam zurück geschickt (repatriiert).
Nach Schätzungen sind von den ~ 35.000 mennonitischen Flüchtlingen, etwa 23.000 auf diese Weise zurück geschafft worden und überwiegend nach Sibirien in Lager gekommen. Die verbliebenen 12.000 wanderten nach Aufenthalten in deutschen Flüchtlingslagern zur Hälfte nach Kanada und zur Hälfte nach Südamerika aus (Paraguay , Uruguay, Argentinien). Dort trafen viele von ihnen auf Angehörige der Auswanderungswellen nach den Erlassen von 1871, die sich inzwischen in ihren Kolonien ein neues Leben geschaffen hatten.
Gründungsjahr
Name
ukrainischer Name
russischer Name
1789
Chortitza
Chortyzja/ Хортиця (ehemaliger Stadtteil von Saporischschja)
Chortitza/ Хортица
1789
Insel Chortitza
zerstört 1917, heute Ostriw Chortyzja/ Острів Хортиця (im Stadtgebiet von Saporischschja)
Ostrow Chortitza/ Остров Хортица
1789
Alt-Kronsweide
auch Bethania, Welykyj Luh/ Великий Луг (Stadtteil von Saporischschja)
Weliki Lug/ Великий Луг
1789
Einlage
Kitschkas/ Кічкас (im Norden von Saporischschja, Rajon Lenin)
Kitschkas/ Кичкас
1789
Neuenburg
Malyschiwka/ Малишівка
Malyschewka/ Малышевка
1789
Neuendorf
Schyroke/ Широке
Schirokoje/ Широкое
1789
Rosental
Kanzeriwka/ Канцерівка (teilweise im Stadtgebiet von Saporischschja)
Kanzerowka/ Канцеровка
1789
Schönhorst
Rutschajiwka/ Ручаївка
Rutschajewka/ Ручаевка
1797
Schönwiese
(südlicher Stadtteil von Saporischschja)
Schenwise
1803
Burwalde
Baburka/ Бабурка
Baburka/ Бабурка
1809
Kronsthal
Kronstal/ Кронсталь, Dolynsk/Долинск
Dolinsk/ Долинск
1812
Osterwick
Pawliwka/ Павлівка (Teil von Dolynske)
Pawlowka/ Павловка
1816
Schöneberg
Smoljane/ Смоляне
Smoljanoje/ Смоляное
1823
Alt Rosengart
Nowoslobidka/ Новослобідка
Nowoslobodka/ Новослободка
1824
Blumengart
Kapustjane/ Капустяне (auch Kapustjanka/ Капустянка; existiert nicht mehr als Ort)
Kapustjanka/ Капустянка
1824
Neuhorst
Selenyj Haj/ Зелений Гай (früher Ternuwate/ Тернувате)
Selenyj Gaj/ Зеленый Гай (Ternuwatoje/ Тернуватое)
1833
Neu-Kronsweide
Wolodymyriwske/ Володимирівське
Wladimirowkskoje/ Владимировское
1860
Gerhardstal
nach Überfall 1919 flöhen die Bewohner, existiert nicht mehr als Ort, nahe Tscherwonyj Jar
Tschernoglasowka/ Черноглазовка
1867
Petersdorf
nach Überfall zerstört
1869
Adelsheim
Tochterkolonie von Chortiza
1869
Eichenfeld
Tochterkolonie von Chortiza, nach Überfall 1919 zerstört
1869
Franzfeld
Tochterkolonie von Chortiza
1869
Hochfeld
Tochterkolonie von Chortiza
1869
Nikolaifeld
Tochterkolonie von Chortiza
1878/1880
Neu Rosengart
Schmeryne/ Жмерине
Schmerino/ Жмерино
1880
Kronsfeld
Udilenske/ Уділенське
Udelenskoje/ Уделенское (auch Chutor Udelnenskij)
1889
Paulheim
1919 nach Überfall zerstört
1889
Reinfeld
1919 nach Überfall flohen alle Bewohner
Mariental
Landgut, auch Lutschinowo/ Strahlendorf, nach 1918 untergegangen
Quellen:
Dr. Karl Stumpp: Zusammenfassender Bericht über die 19 deutschen Siedlungen des Chortitza Gebietes auf der Westseite des Dnjepr, Gen. Bez. Dnjepropetrowsk, vom 5. November 1942
Verschwundene deutsche Dörfer im Rayon Chortitza, Kreisgebiet Sapososhje, Generalbezirk Dnjepropetrowsk; Der Reichsminister für die besetzten Ostengebiete. Kommando Dr. Stumpp. Kreisbeauftragter Gerhard Fast; Chrortitza den 5. Oktober 1942
Dialektologie. 2. Halbband; herausgegeben von Werner Besch,Ulrich Knoop,Wolfgang Putschke,Herbert E. Wiegand; Walter de Gruyter, 2008
Huebert, Helmut T. and Susan Huebert. „Great Trek, 1943-1945.“ Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online
Das äußre sowie innere Bild der deutschen Kolonien in Süd-Rußland hat sich ab 1929/3o total verändert. Bis dahin waren alle im Besitz von 16 Dessj. Land, Haus, Hof und Garten. Die Kinder konnten endlich alle in guten Schulen in deutscher Sprache lernen, russisch wurde nur von der 5. Klasse als Sprache gelernt. Durch den NOP. waren endlich wieder Waren in die Dörfer gekommen, die Leute konnten sich ankleidern, nachdem man durch den Welt- und Bürgerkrieg ganz abgerissen und verkommen war. 1929 wurde aber die Kollektivisierung “freiwillig” durchgeführt, d.h. alle die sich widersetzten wurden arretiert, die wohlhabenden Bauern sogen. Kulaken verschickt nach Archangelsk, Wologda und Komi ACCP, wo viele noch bis zum heutigen Tage leben. Die übrigen unterschrieben dann schon den “freiwilligen” Eintritt in den Kolchos.
Die ersten Jahre bis 1934 ging die Wirtschaft sehr zurück, die Leute arbeiteten schlecht, die Felder wurden nicht gehackt, das Inventar nicht geschont. Unerbittlich mußte die angesetzten Norm abgeliefert werden, einerlei, ob für Menschen und Vieh noch etwas übrig blieb oder nicht. In jenen Jahren sind viele verhungert aber hauptsächlich unter den Russen. Die Deutschen bekamen ja die Hitler-Pakete noch zur rechten Zeit, die manchen vor dem Hungerstod geretten haben. In den Torginen war überall angeschlagen : Schreibt euren Verwandten, sie sollen euch Anweisungen schicken“. Wenn man es tat, so kam man in die Zeitung, kam vom Dienst, wurde verhaftet, verschickt. Viele mußten sich zum Besten der Kinderbewahranstalten entsagen, obgleich gar keine andere Möglichkeit bestand auch nur 1 Kilo Mehl oder Fett zu bekommen. 1934 war das Land schon besser bearbeitet, es kamen neue Maschinen, Traktoren, vor allem die Schulen lieferten schon Agronomen, Techniker, Traktoristen, Kombainer, Lehrer, Ärzte und Arztgehilfen.
Das Leben fing wieder an sich allmählich zu regeln, es wurde die Losung herausgegeben: Das Leben wird besser und fröhlicher.
Da fingen im Jahr 1937 schon von September die Massenverhaftungen an. Die meisten wurden 15. Dezember verhaftet, und zwar alle deutsche Intellegenz wurde aufgeräumt, in erster Linie alle Pastore (Pastor Willi Heine in Feodosia, Pastor Meier, Eigenfeld, Pastor Luft, Prischib, Pastor Altmann, Hochstadt, Pastor Bird, Charkow)3, von Ärzten Dr. Belz, Charkow (starb beim Verhör, Dr. Hottmann, Chortitza starb im Gefängnis, Dr. Eisenbraun, Dr. Wilms, Dr. Bauer, Halbstadt, Dr. Dick, Berdjansk, 2 Brüder Dr. Dircks, Orloff, waren schon 33 verschickt auf 1o Jahre4. Alle deutschen Lehrer mit Hochschulbildung, Fr. Heckel, Bd. Ruff, O. Baitinger, Dir. des dt . Pädtechnikuims, 4 Brüder Lutz aus Neumontal, 4 Brüder Oberländer aus Eigenfeld, Dir. Fischer in Feodosia und viele andere5. Auch viele Frauen: Helene Fürst in Nakejewka. Hatten die bis 37 Verhafteten noch Korrespondenzfreiheit, durften Pakete erhalten, die Anverwandten sehen, so war das diesen 37/38 Repressierten vollständig untersagt.
Die Beschuldigung war standart: von Deutschland bekauft Brücken zu sprengen, Elektrizitätswerke zu zerstören, gew. Leute zu vergiften. Die Verhöre wurden sehr geheim gehalten. Es gelang uns aber doch einiges zu erfahren, ich erfuhr manches durch Erni Aman, der jetzt am 2o. März 1941 aus dem Konzentrationslager in Sucho-Beswodnaja bei Gorki freikam. Nach dem Bündnis mit Deutschland hörten die Repressierungen auf, man konnte wieder aufatmen, aber die NKWD hatte gut aufgeräumt.
Unsere ganze deutsche Intellegenz war eben weg und wenige von ihnen werden wohl noch am Leben sein, denn Hunger, Kälte, schwere körperliche Arbeit, Schläge und besonders die moralischen Qualen waren unerträglich. Man ließ sie bis 7 Tage lang ohne Essen und Wasser stehen, von großen Hunden bewacht, Tag und Nacht auf demselben Platz, ließ sie systematisch nicht schlafen u. dergl. Erni Aman hatte nur noch 5 % Sehkraft, hört schwer, geschw. Füsse, infolge der Schläge auf den Kopf plötzliches Verlieren des Bewußtseins und doch kam er leichter davon als andere, er kam nach 3 Jahren frei. Es war eine furchtbare Zeit, man konnte keinen Verkehr haben, jeder lebte nur für sich selbst aus Angst, durch einen anderen auch hereingezogen zu werden.
Die deutschen Schulen wurden „freiwillig“ russisch. Da kam im September 1939 das Bündnis. Was hatten wir da für Hoffnungen für unsere Lieben! Leider waren sie umsonst. Die Verhaftungen hörten auf, man durfte nicht mehr „Faschist“ geschimpft werden, darauf stand Strafe, doch wagen wir noch nicht aufzuatmen. Wir trauten dem Frieden nicht nach den gemachten Erfahrungen. Die Frauen der Repressierten durften wieder angestellt werden, die Kinder lernen, man mußte aber immer Fragebogen ausfüllen, angeben, ob man Verwandte in Deutschland hat, wer in der Familie repressiert ist, ob man Briefe bekommt und von wem.
Schon im Mai 1941 war eine Veränderung zu spüren. In öffentlichen Vorträgen über die internationale Lage wurde betont, daß Deutschland und England jetzt durch den Krieg geschwächt seien, Rußland allein steht in niegesehener Kraft da und habe noch ein Gelöbnis an Lenins Grab zu erfüllen, den Bolschewismus auf der ganzen Welt einzuführen. Da wußten wir, was es geschlagen hatten und warteten stündlich auf eine Kriegserklärung. Ich war damals in Feodosia, als es am 22. VI. auf einmal hieß, der Krieg hat angefangen. Einige Deutsche wurden arretiert (die Frau von Fr. Wilms und ihre Schwester, die Frau des Ing. Schulz der aus Berlin geschrieben hatte und ihre Schwägerin, Fr. Föll und andere, die Briefe aus Deutschland bekommen hatten), die übrigen ließ man in Ruhe bis zum 17. August (Einnahme von Dnjepropetrowsk).
Da bekamen wir den Befehl, in 3 Stunden in Sarigol auf dem Bahnhof zu sein. Wir durften Kleider und Betten mitnehmen. In dunkler Nacht wurden wir da verladen zu 5o Mann durchschnittlich in den Waggon, der Zug hatte 7o Waggons. Da kam jetzt alles herein. Frauen und Kinder, ein paar Männer, Parteileute u.a., sogar Dr. Zeichner (Jude), da seine Frau eine Deutsche war. In diesen Zug kam Feodosja – Zürichtal – Stary Krim. Vor uns war schon Kertsch und Simf.-Kurmann durchgegangen, nach uns Frauen noch Scidlar Itschki, Djankoj-Eupatoria, im ganzen glaub ich 9 Züge aus der Krim. In Melitopol merkten wir, daß wir auf der Frotn [sic!] waren, wohin es ging, wußten wir nicht, man sprach von Kasakistan. Wunderbarer Weise bog der Zug nach Osten bei Feodorowka und hielt in Halbstadt, da durften wir zum ersten Mal heraus.
Ich riskierte es und blieb ohne Erlaubnis, ohne Sachen zurück und ging zu meiner Tochter nach Halbstadt, wo ich dieselbe Sache einen Monat später wieder durchmachen mußte. In Halbstadt gelang es aber der HBD nicht den Zug fortzubringen. 6 Tage lang lagen wir neben der Station, streng bewacht von der HKBD. Hier entdeckten uns die deutschen Flieger und am 5. Oktober wurden wir befreit. Die letzte Nacht war die schwerste, man sah sie die Brücke, die große Mühle in Pirischib gesprengt wurden, es hieß, in 15 min. wird die Station neben uns und die Fabrik auf der anderen Seite gesprengt. Unheimliche Stille ringsherum, überall war Stroh verteilt worden “damit wir es bequemer haben”, am Tor standen Feuerspritzen mit Petroleum gefüllt. Das große Haus nebenbei unterminiert.
Auf einmal fing es erst leise an zu singen, was uns über 2o Jahre verboten war, ließ sich nicht mehr halten. Es waren etwa 5000 Menschen, die den Gesang anschweIlen ließen: Näher mein Gott zu Dir, harre meine Seele, So nimm denn meine Hände. Sie singen schon Hitler-Lieder, so sagten die HKB.-disten. Am Morgen war die HKB. verschwunden und wir schafften uns schnell auseinander. Gesprengt wurde in Halbstadt nichts. Wie wir ins Dorf kamen, trafen wir die ersten deutschen Soldaten. Das wer eine Freude, dieses Gefühl, endich zu Haus. – Dank dem Führer, Dank den tapferen deutschen Soldaten, der sein Leben für uns einsetzt!
Die Dörfer Prischib, Hoffental, Nassau, Weinnau, Halbstadt, Mantan, Tiegenhagen, Schönau, die Hälfte des Gnadenfelder Gebietes sind geblieben. Leider sind aber die oberen Dörfer an der Molotschna von Reichenfeld ab, das ganze Hochstädter Kirchspiel, Heidelberger und Kostheimer fortgebracht. Die Krimer sind in den Nordkaukasus gekommen, sollen von dort schon fortgebracht sein. Die Männer aus der Molotschna von 16 – 7o Jahren sind zwischen dem 5. – 26 September verschleppt, sollen teils im Ural, teils in Caukasien sein, wo sie Bahnen und Fabriken bauen müssen. Die Männer aus der Krim wurden am 29. September aus dem Kaukasus nach Kiew und Poltawa geschickt Schaznen [sic!] graben, sind schon in Gefangenschaft bei den Deutschen. Wo aber die Frauen und Kinder geblieben sind, haben wir auch nicht erfahren.
So sind alle Familien auseinandergerissen und uns hält jetzt nur der feste Glaube an den Führer und seine deutsche Wehrmacht aufrecht, die uns vielleicht doch noch jemand unserer Lieben zurückholt.
Wir sind weit im fremden Lande weit von Weib und Kind getrennt, Ach, voll Jammer, Leid und Heimweh schmerzvoll unser Herze brennt.
Ach, wir haben viel gelitten Auf dem schweren, langen Weg. Niemand hat für uns gestritten, Keine Hilfe uns gewährt.
Als wir wurden transportieret wie Verbrecher allzumal, Keiner konnte protestieren das vermehrte unsre Qual.
Im Gefängnis hinter Gittern, saßen wir so manches mal, Brot und Wasser war uns bitter doch wir hatten keine Wahl.
Vierzig Werst zu Fuß ohn Essen gingen wir von Astrachon Brot und Wasser war vergessen, mancher kam halbtot hier an.
180 Mann zusammen waren wir auf dieser Reis. Bis nach Krasnojarsk wir kamen Todesmatt durch Schnee und Eis.
Hier sind wir jetzt einquartieret Heimlich überall bewacht, überall wird nachgespüret, überall hat man Verdacht.
Ach wie sind wir verloren, hier in diesem fremden Ort. Traurig gehn wir durch die Straßen, hören manches bittre Wort.
Schreiben wir an unsre Lieben, die Zensur den Brief erbricht. Ist ein Wort zuviel geschrieben, geht er in die Heimat nicht.
Unsre Sprache ist verboten Unser Leben in Gefahr, Mancher wird von wilden Rotten oft geschlagen blutig gar.
Jedermann kann mit uns machen alles was ihm nur beliebt. Kann uns spotten, kann uns schlagen Niemand Schutz und Recht uns gibt.
Und so leben wir in Sorgen Und in Ängsten alle Tag. Müssen alles duldend tragen, wer weiß, was noch kommen mag.
Durch das Elend, Sorg und Jammer Und die Krankheit aller Art, Wird so mancher deutsche Dulder Auf dem Kirchhof hier verscharrt.
Mancher fern von seinen Lieben, ruht hier in der Erde weit, wenn er wär zu Haus geblieben, lebt wer wohl noch lange Zeit.
Wer ist schuld an diesen Plagen? Der mit Deutschland ist verwandt Welche deutsche Namen tragen Werden hier verfolgt, verbannt.
Drum wir alle hier mit Sehnen warten auf die schöne Zeit, wenn von allem Leid und Elend endlich werden wir befreit.
Unsre Frauen, Kinder weinen, Goßer Gott, erhöhr ihr Schrein! Und laß bald den Tag erscheinen, wo wir endlich ziehen heim!
O, welch große Freud und Wonne wird bei der Begrüßung sein, wenn einst sie, die Gottessonne uns mit Freuden bringet heim!
Da wird unser Herze springen Weib und Kind wird mit uns singen Dem, der unser Leid gewandt!
Beata Kludt
1Foto der Hochzeitstafel S. 111 in: Heimatkalender der Russlanddeutschen 1959
Der Planet und ich Lebenserinnerungen und Zukunftsgedanken Heinrich Lhotzky, Selbstverlag 1925:
Ein kleines Erlebnis darf ich wohl anführen, weil es unsere Krimmer Bauern kennzeichnet. Ich hatte kurz vor meinem Weggang einmal an einer Hochzeitstafel eine etwas freiere Bemerkung gemacht, als sie sonst im heiligen Rußland üblich war. Da stand der reichste Bauer auf und sagte: Wäre ich der Kaiser von Rußland, so würde ich bestimmen, daß Sie auf der Stelle Rußland zu verlassen hätten. Ich antwortete, das werde auch ohne das geschehen, und die Sache schien erledigt zu sein. Zehn Jahre nach diesem Worte stand der Bauer in meinem Hause am Bodensee. Er sei in Karlsbad gewesen zur Kur und habe die Gelegenheit benützen wollen, seinen alten Pfarrer wieder zu sehen. Er war also mein sehr willkommener Gast. Da sagte er: Eigentlich führt mich etwas anderes her. Sie erinnern sich vielleicht meiner Aeußerung bei unserem letzten Beisammensein. Ich mußte herkommen, Sie deshalb um Verzeihung zu bitten, daß wir ganz einig sind, ehe ich sterbe. Er wird wohl den schweren Krieg nicht überlebt haben. Gott segne ihn und alle unsere armen Volksgenossen in der Ferne.
2Abschrift aus: Deutsches Ausland-Institut, Stuttgart ; Teil I und Teil II (GS Buchnummer 943 B4na Nr. 16 und Nr. 21). Mikrofilm Nr. 007953035 Rolle 606 Frame 5396804, datiert 1.5.1942
3Anmerkung: Pastor „Willi“ Wilhelm Heine, (13.11.1866-2.1.1938), verhaftet 1930 in Georgien, verbannt nach Sibirien 1930-1934. Lebte 1934-1937 in Feodosia, verhaftet am 4.07.1937, erschossen am 2.01.1938. Pastor Albert Maier (16.4.1892 – nach 1937), Verhaftung 1936, Verbannung 1937 nach Birobidschan. Pastor Eduard Luft (1890-1938), führende Persönlichkeit der separatistischen, sogenannten „Freien bzw. lebendigen Kirche“ in der Ukraine, war am 12. März 1926 aus disziplinarischen Gründen vom Moskauer Oberkirchenrat suspendiert, alle Amtshandlungen, die nach dem 12. März 1926 vollzogen wurden, verloren ihre Gültigkeit. Luft wurde zum ersten Mal 1934 verhaftet. Die zweite Verhaftung erfolgte am 9. Juni 1938 wegen angeblicher nationalistischer konterrevolutionärer Propaganda. Am 28 Oktober 1938 erschossen. Pastor Gustav Birth, (2.3.1887-3.12.1937), lutherischer Pfarrer und Propst, verhaftet am 15. Januar 1934 in Charkow, zu 10 Jahren Haft verurteilt und in ein Arbeitslager in Karelien verbannt. Dort wurde er am 18. November 1937 verhaftet, am 20. November erschossen.
Quellen: Dr. Viktor Krieger Verzeichnis der deutschen Siedler-Kolonisten, die an der Universität Dorpat 1802-1918 studiert haben
Wilhelm Kahle, Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sovetunion 1917-1938; E.J.Brill, Leiden, Netherlands, 1974
4Prof. Dr. med. Adam Adamowitsch Belz (1871-12.5.1946), Chirurg, Professor an der Universität Charkow. Verhaftet am 05.03.1938 in Charkow. Angeklagt nach § 54-1а des Strafgesetzes der Ukrainischen SSR. Verurteilt am 28.10.1938 von einem Militärtribunal des NKWD des Kiewer Wehrkreises zu 8 Jahren Besserungs-/Arbeitslager und 5 Jahren Entzug der politischen Rechte. Traf am 21.12.1939 aus dem Wladimirsker Gefängnis um KrasLag, Ingaschsker Lagerabteilung, ein. Ab dem 28.12.1939 in der Kansker Lagerabteilung, wo er am 12.05.1946 verstarb. Dr. med. Hottmann, Theodor (Fedor Jwanowitsch) (2.12.1871-11.9.1938), Gynäkologe, seit 1902 Chefarzt des Chortiza-Krankenhauses. Verhaftung 1937. Offizielle Version: Selbstmord im Gefängnis in Saporoschje, nach Familieninformation Erschießung. Sein Leichnam wurde 1942 von Saporozhje nach Chortiza überführt. Dr. med. Emil Wilhelmowitsch Eisenbraun (11.4.1897-28.9.1968), Chefarzt des Krankenhauses in Molotschansk, 1933 verhaftet, 1934 zu drei Jahren Ausweisung in die Komi ASSR verurteilt, nach drei Monaten entlassen..
Quellen: Karl Lindeman: Von den deutschen Kolonisten in Russland: Ergebnisse einer Studienreise 1919-1921.Ausland und Heimat Verlags-Aktiengesellschaft, 1924
5Nikolai Lutz (3.3.1908-1937?), Mathematik- und Physiklehrer, Leiter eines Bau Technikums in Feodosia/Krim, Ehemann von Else Kludt, der jüngsten Tochter von Beata. 1937 wurde er mit 30 Lehrern und Studenten festgenommen und verurteilt.
Alexander Eggers (Hrsg.); Deutsche Monatsschrift für Russland, der baltischen Monatsschrift; 56. Jahrgang, Heft 7; Reval 1914, Verlag G. Löffler Riga; p.516ff
49 Familien aus der Schweiz, 1810 kamen 25 überwiegend katholische Familien aus der Molotschna dazu
Die deutschen Siedlungen in der Sowjetunion, ausgearbeitet und herausgegeben von der Sammlung Georg Leibbrandt, Teil 3: Ukraine mit Krim (SSR Ukraine und ASSR Krim); Berlin 1941 mit einer Karte
Geographischer Atlas des Russischen Reiches, des Königreichs Polen und des Großfürstentums Finnland, geordnet nach Provinzen in zwei Sprachen mit der Bedeutung dieser Städte, Dörfer, Weiler und aller bemerkenswertesten Orte, Post- und Hauptstraßen, Stationen und die Entfernung zwischen ihnen und anderen Dörfern in Werst und Meilen auf 70 Blättern mit einer Übersichtskarte und einer Tabelle der Werstentfernung entlang der Poststraßen zwischen den berühmtesten Städten, zusammengestellt nach den neuesten und zuverlässigsten Informationen von Studenten der russischen Geographie und für die Zusammenstellung von Straßenkarten für Reisende, Mitarbeiter der Abteilung für militärische topografische Angelegenheiten, Seine Kaiserliche Majestät in der Quartiermeisterabteilung, Oberstleutnant Pyadyshev Russisch: Pjadyschew Wassili Petrowitsch, wikipedia, gemeinfrei ↩︎
1. Örtliche Lage, Entstehung und Entwicklung der Kolonie
Prischib liegt im Melitopoler Kreise, Taurischen Gouvernements, ist 45 Werst von der Kreisstadt Melitopol u. 18 Werst von der Eisenbahnstation Prischib (früher Michailowka) entfernt. Nähert man sich P. von der genannten Eisenbahstation aus auf dem roten Telegrafen-Postwagen, so kommt man durch das im vergangenen Jahre beschriebene Kirchdorf Hochstädt (1. Kalender 1901 S. 106), berührt die Kolonie Neu-Nassau mit der Eisengießerei Kolb u. Schatz, welche landw. Maschinen aller Art liefert, u. fährt dann eine Strecke von ca. 10 Werst auf einsamer Steppe dahin.
Zunächst fällt dem sich P. nähernden das isoliert auf einem Bergrücken erbaute Kirchlein in die Augen, bevor er etwas vom Dorfe selbst bemerkt. Das Dorf liegt nämlich am Fuße einer Hügelkette, welche sich von Nordosten kommend in vielen Krümmungen unmerklich ins Asowsche Meer hinabsenkt.
Vom Gipfel der Hügelkette aus hat man eine reizenden Aussicht in ein weites lachendes Thal, in dem Dörfer, weit in die Luft ragende Fabrikenschlote, Obstgärten, Wälder und Wiesen abwechseln. Bald weiter, bald näher an dem Fluß der Hügelkette herantretend, schlängelt sich wie ein silberner Faden das früher so wasserreiche, jetzt wasserarme Flüßchen Molotschna, zugleich die Grenze zwischen dem Melitopoler u. Berjansker Kreise bildend, in südwestlicher Richtung dem Molotschna-san zu, welcher nur durch eine schmale Landzunge vom Asowschen Meere getrennt ist. Es nimmt seinen Anfang unmittelbar am nordöstlichen Ende des Dorfes, allswo die Flüßchen Tokmatschka u. Tschingul sich vereinigen u. in ihren weiteren vereinigten Laufe Molotschna (Milchfluß) genannt werden. Nach diesem Flusse hieß anfänglich auch das Dorf Molotschna u. das ganze Gebiet das Molotschnaer Gebiet u. hat sich diese letztere Bennennung bis auf den heutigen Tag erhalten.
Man glaubt, das das Dorf Molotschna später den Namen Prischib erhalten habe, um damit die Vereinigung der genannten Flüßchen auszudrücken (vom russ. Wort „прищенка“ hergeleitet), jedoch kann man dieses mit Sicherheit nicht behaupten. Die Hauptstraße des Dorfes bildet eine Zickzacklinie, welche durch die gerade hier ein gewaltiges Knie aufweisende Hügelkette bedingt wurde. Mit der Zeit entstanden auch mehrere Nebenstraßen. Das ganze Dorf zeigt eine unregelmäßige Anlage. Um dasselbe übersehen zu können, ist der Beschauer genötigt den Turm des Kirchleins zu besteigen. Es soll hiermit nicht gesagt sein, daß das Dorf von riesigen Dimensionen sei, daß es vom Hügelrücken aus nicht zu übersehen wäre. O nein! Wie schon oben angedeutet, macht die Hygelkette [sic!] hier ein Knie, um welches herum das Dorf angelegt wurde, so daß von dem Rücken der Hügelkette aus das ganze Dorf auf einmal nicht übersehen werden kann. Gleich anfangs wurde dieses Dorf Hauptort für alle auf dem rechten Ufer des Molotschnaflüßchens angesiedelten Dörfer. Hier wurde das Gebietsamt erbaut, von hier aus wurden alle luthrischen Ansiedler in den Kolonien in religiöser Hinsicht bedient, hier wurden in der später errichteten Zentralschule Centralschule [sic!] die für die Ansiedler nötigen Dorflehrer herangebildet, hier war auch der erste Kolonialarzt angestellt u. die erste Apotheke eröffnet.
Am 24 Juni 1805 gelangten die ersten Ansiedler unter Leitung des verstorbenen Staatsrates Continius an der Molotschna an. Es war schon spät im Jahre u. konnten die Felder nicht mehr bestellt werden. Die Regierung gab den Kolonisten 7 Kopeken Nahrungsgeld pro Seele bis zur ersten eigenen Ernte im Jahre 1806. Jedem Wirte wurden 60 Dessj. Land überwiesen u. 125 Rubel banko als Vorschuß zur Anschaffung der nötigen Zugviehes u. des Wirtschaftsgutes gegeben. Zur Erbauung des Hauses erhielt jeder Kolonist 40 Stück dreifädiges Kreuzholz 28 Sparren 60 Latten 28 Schwarten 4 Bretter für Fenster u. Türen u. 2 Rundklötze. Der erste Inspektor Baron Uexkühl musste seine erste Wohnung in einer Bretterbude im nahegelegenen Dorfe Alt-Nassau nehmen, bis er im Jahre 1806 das Haus des Edelmanns Tobinsky in Prischib bezog. Hier sei bemerkt, daß das Gut an Edelmann Tobinsky mitten in dem Landeskomplex lag, der von der Regierung zur Ansiedlung bestimmt war. Um ein einheitliches Ganzes zu erhalten, gab die Regierung dem genannten Edelmann gleich hinter dem Kronsdorf Kisliar (heute Vorort der Kreisstadt Melitopol) anderes Land u. kaufte ihm seine Gebäude, welche gerade da wo Prischib angesiedelt wurde, aufgeführt waren, ab.
Im ersten Jahr der Ansiedlung (1805) erbaute sich jeder Ansiedler eine Erdhütte (землянка). Diese Hütten waren aber eng u. äusserst unbequem, so daß manchem Wirte bei der in diesem Jahr besonders nassen Witterung seine wenigen Habseligkeiten verfaulten. Der Anfang war armselig, dürftig u. sehr schwer. Im Jahr 1807 wurde das erste Bethaus von den auf 10 Jahre geschenkten Einkünften der Brandweinpacht errichtet. 1809 kam der zweite Zug der deutschen Ansiedler hier an, sie erhielten von der Regierung dieselbe Quantität des Landes, Bauholz-Geld wie die ersten u. blieben teils in Pr. selbst teils siedelten sie neue Dörfer auf der Steppe an. Nach und nach wurden die Erdhütten mit bequemeren Häusern aus Lehmwerk od. rohen Erdziegeln u. Strohdächer vertauscht. Das Ganze trug nun das Gepräge eines heutigen Russendorfes. Da der jungfräuliche Boden reiche Enten trug so brachten es die Ansiedler bald zu Wohlstand, vermehrten den Viehstand u. sorgten nach Kräften für verbesserte Wirtschaftsgeräte.
Mit dem wachsenden des Wohlstandes wichen die aus Lehmwerk erbauten Häuser solchen aus gebrannten Ziegeln mit Ziegel-Blech- od. Schindeldächern, so daß das heutige Pr. einen vornehmen Eindruck macht.
Da die Gegend gänzlich waldlos war, so drang das Fürsorgekomitee darauf, daß künstliche Wälder u. Obstgärten angelegt wurden, welche in unseren Tagen zu Frühlings- u. Sommerszeiten die Ansiedlungen so lieblich u. angenehm machen, u. dem Wanderer kühlenden Schatten spenden.
Viel Mühe hatte das Fürsorgekomitee damals, um die Ansiedler zur zur [sic!] Anpflanzung von Wäldern u. Gärten zu bewegen und mußten manchmal Strafen verhängt werden über die Saumseligen. Heute ist das natürlich anders. Man hat vor einigen Jahren zurück auch mit dem Weinbau an den Bergabhängen begonnen u. schon gute Ernten erzielt. Schade, daß nicht auch die Bewohner anderer Ortschaften, wie Hoffental, Alt-Nassau, Weinau, Durlach, Alt-Monthal, Waldorf, Tiefenbrunn dem Beispiel Pr.´s folgen u. die Bergabhänge mit Wein bepflanzen. Welchen Nutzen würde ein solches Vorgehen haben! Der aus Sand u. Lehm bestehende Boden der Berabhänge [sic!] eignet sich vornehmlich zum Weinbau u. liefert, wenn man sich die Trauben gehörig ausreifen läßt u. richtig behandelt einen ziemlich starken u. guten Wein.
Das der Kolonie Pr. zugeteilte Land besteht aus 3591 Dessj.: Es zerfällt in brauchbares d.h. für den Akerbau [sic!] geeignetes Land u. in Unland. Unter Letzterem sind die Schluchten, Rinnen, u. Wiesen, die der Überschwemmung ausgesetzt sind, zu verstehen. Brauchbares Land besitzt die Kolonie 3122 Dessj. Unland 469 D. Der Boden besteht größten Teils aus einer tiefen Schicht Schwarzerde mit lehmigen Untergrund. Auf den Feldern wird Sommer- u. Winterweizen, Roggen, Gerste, Hafer, Lein, Welschkorn u. Kartoffeln gebaut. Auf den Wiesen gedeihen alle Gemüsearten besonders Kohl, dessen Anpflanzung aber in letzter Zeit, als nicht mehr lohnend, bei Seiten geschoben wurde. Die Obstgärten liefern oft gute Ernten, besonders Steinobst, obschon von rationellem Obstbau nicht die Rede sein kann, weil die Bäume zu stiefmütterlich behandelt wurden.
II. Frühere Zugehörigkeit der Ansiedler sowie kurze Notizen über die Geschichte der Einwanderung
Der größte Teil der Ansiedler stammt aus dem Königreich Würtemberg [sic!] und dem Großherzogthum [sic!] Baden, die kleineren aus anderen Staaten des Deutschen Reiches, wie aus folgender Zusammenstellung zu sehen ist.
Aus Würtemberg stammten die Familie Prieb, Gall, Kammerer, Palmtag, Glöckler, Fricker, Spielvogel, Lehr, Marx, Wirt, Schweitzer, Schaad, Heinrich, – Aus Baden: Grell, Ullmann, Kugele, Seifert, Dinkel, Ockert, Fritz, Noll, Brühler, Essert, Schäfer, Gauch, Allgaier, Hud, Köhler, Alles, Weckerle, Zahn, Eva. – Aus Sachsen: Heine, Burwald, Ritter, Ballreich, Schameÿ. – Aus Baÿern: Gleich, Wagner, Dillmann, Stark. Aus der Pfalz (Rheinbaÿern): Vogel, Hoffmann, Preutel, Stubert. – Aus Hessen: Sellentin, Schröder, Vogel, Doll, Matthus. – Aus Elsaß=Lothringen: Lüttich (Littig). Wannerius. Aus Ostpreußen: Mensch. – Aus Westpreußen (Schlesien): Herrmann, Eiternik, Heidebrecht, Dinno, Schilling, Mönke. – Aus der Mark Brandenburg: Kloninger, Bredt. – Aus Pollen [sic!]: Stammler. – Von Petersburg und anderen Distrikten Rußlands siedelten in späten Jahren hier an die Familien: Ruff, Sperlich, Silbernagel, Voll, Wilhelm, Maier, Supper, Fein, Rumbold, Krautner, Göpfert, Regel, Halblaub, Gerweck, Rapp, Winkler, Willke, Gallauner, Renke, Dreher. – Über die Abstammung dieser letzteren Ansiedlerfamilien finden sich leider keine Notizen im Personalbuche.
Ursprünglich bestand die Kolonie demnach aus 61 Familien mit 176 Seelen beiderlei Geschlechts. Viele dieser Familien sind ausgestorben -, wie die Familie Spielvogel, andere sind in den 80er und den letzen Jahren überhaupt weiter in die inneren Gouvernements verzogen, wo sie teils auf Pachtland, teils auf eigenem Lande leben und nur ein verschwindend kleinerer Teil hat das Landleben mit dem Aufenthalt in den Städten vertauscht. Der Bescheftigung [sic!] nach war das Chontingent [sic!] der der [sic!] Ansiedler folgendermaßen zusammengesetzt: 17 – waren Landwirte, 8- Tuchmacher, 10 – Tuchweber, 3 – Leineweber, 5 – Schuhmacher, 2 – Schneider, 5 -Tischler, 1 – Zimmermann, 1 – Maurer, 1 – Schmidt, 1 – Töpfer, 1 – Arzt, 2 – Böttcher, 5 – Tagelöhner. Heute nach fast 100 Jahren der Ansiedlung besteht die Bevölkerung, Prischib`s aus 427 männlichen und 508 weiblichen: im Ganzen aus 1035 Seelen die nach auswärts verzogenen nicht miteingerechnet.
Dem Glaubensbekenntnise nach gehört 11/12 der Bevölkerung der lutherischen und 1/12 der katholischen Kirche an.
Die Reise von Deutschland hierher war wegen der oft grundlosen Wege höchst beschwerlich und ging nur langsam vor sich. Da die Meisten gänzlich mittellos waren, so machten sie die Reise zu Fuß. Die Einwanderung geschah über Polen von wo aus sich manche der Einwanderung nach Norden, andere nach Osten und wieder andere (unsere Vorfahren) nach Süden wandten. Bei Jekaterinoslaw überwinterten letztere, wo sie bei den Russen gastfreundschaftliche Aufnahme fanden. Durch spetere [sic!] Nachzüge aus Deutschland u. zw. Zuzüge aus den Inneren Rußlands (Petersburg, Woronesch, Polen) vermehrte sich die Zahl der Ansiedler auch hier an der Molotschna. So entstanden die 27 Dörfer, welche zusammen das Prischiber oder Molotschnaer Gebiet bilden. In 19 Kolonien gehört die Bevölkerung der lutherischen, in 8 – der katholischen Chonfession [sic!] an. Da der größte Teil der Ansiedler den Handwerksstande angehörte und auch die wenigen Bauern mit den Bodenverhältnissen ihres neuen Vaterlandes unbekannt waren, so darf man sich nicht wundern, wenn man hört, daß anfänglich die Maßnahmen der Ansiedler zur Bewirtschaftung ihrer Landareale durchaus verkehrt waren und der Boden einem nicht gab, was er hätte geben können. Lange Zeit wurden nur Halmfrüchte angebaut, an das Brachen der Felder aber nicht gedacht. So wurde der Boden ausgemergelt und Mißernten waren unvermeidlich.
III. Wichtige Ereignisse im Leben der Ansiedler.
Nachdem die deutschen Einwanderer das Jahr 1804 in russischen Dörfern bei Jekaterinoslaw zugebracht hatten, brachen die selben unter der Führung des Statsrats [sic!] Chontenius [sic!] im Frilinge [sic!] des Jahres 1805 auf und kamen am 24:ten Juni desselben Jahres an ihren Bestimmungsorte, an der Molotschna, an, wo sie, wie schon oben gesagt, bis zur eigenen Ernte im Jahre 1806 von der Regierung Versorgungsgelder erhielten. Nachdem diesen ersten Einwanderern ihr Land (60 Dessj. pro Wirt) zugeteilt, wurden zu gleicher Zeit mehrere Dprfer angelegt, um die zu bebauenden Felder näher zu haben. So entstanden die Kolonien Prischib, Hoffenthal, Alt-Nassau, Weinau, Neudorf und Alt-Montahl. Neudorf, bestehend aus 20 Wirtschaften, wurden aber 1832 abgebrochen. Acht Wirte siedelten sich bei Rosentahl und 12 Wirte bei Kronsfeld an. Unweit des Dorfes Alt-Nassau wurden an der Molotschna ca. 30 Dessj. eingegraben zu einer allgemeinen Plantage, um veredelte Obstbäume zu erziehen, welche sodann an die Wirte zur Verteilung behufts Anpflanzung gelangten. Sie befand sich bald in einem blühenden Zustande und gewährte den Kolonisten großen Nutzen. In der Jetztzeit ist der Zustand derselbe auch als blühend zu bezeichnen, da aber bis dato über Einnahmen und Ausgaben des angestellten Gärtners eine Chontrolle oder doch nur eine sehr oberflächliche geführt wurde, so mußten in letzter Zeit sogar noch Zuschüsse zum Unterhalt dieser Plantage gemacht werden. Folglich bringt dieselbe heutigen Tages Verluste, wo sie Nutzen bringen sollte. Gleich anfangs wurden keine Schulen angelegt, daher der Unterricht der Kinder gänzlich vernachlässigt. Schullehrer waren nicht zu bekommen und wären auch solche da gewesen, so fehlten die Mittel, um die Existenz der Lehrer zu sichern, weil eben alles flüssige Geld zu Baulichkeiten und Wirtschaftsgeräten &. verwendet werden mußten. Erst vom Jahre 1811 an wurden nach und nach – dank den Bemühungen der damaligen Pastoren Sederholm Zehlingk – Schulhäuser errichtet und Lehrer angestellt. Die Belohnung der Lehrer war eine sehr geringe. Sie erhielten jährlich 30 Rubl., freie Wohnung, Brennmaterial, 2 Maß Getreide pro Wirt, Heuschlag und freie Weiden für ihr Vieh.
Im Jahre 1811 wurde der Grundstein des heute noch auf dem Hügelrücken stehenden Kirchleins gelegt und das Pastorat gebaut, der Kirchbau aber wieder eingestellt wegen des 1812 erfolgten Einfalls der Franzosen. Zur Erbauung der Kirche gab die Regierung aus dem Reichsschatze 25.000 Rbl.
1819 kamen an 100 Familien aus dem Königreich Würtemberg hier an, welche nach Grusien ziehen wollten. Sie glaubten, das 1000-jährige Reich nehme jetzt seinen Anfang und nach Stilling´s und Bengel´s Schriften, hielten sie Grusien für den Sammlungsplatz der wahren Gläubigen. Auf Befehl des Obercurators der Kolonien Inhoff, General-Leutnant von der Infantin, mußten sie sich an dem Flüßchen Berda ansiedeln. Sie lagen längere Zeit hier im Quartier und ihr Fanatismus erzeugte manche schädlige Frucht, viele Wirte ließen sich durch sie verleiten ihre Felder nur kärglich zu besäen. 1820 wurde der Kirchbau widerum [sic!] begonnen und die Regierung gab noch weitere 35.000 Rbl. zur Vollendung desselben. 1823 wurde der Bau endlich fertiggestellt und die Kirche am 25:ten September d. J. eingeweiht. Die beiden Glocken wurden aber erst 1832 für 1386 R. 39K. angekauft und 1833 auf den Turm gebracht. 1846 wurde die erste Orgel für 4000 R. angeschafft, welche im Jahre 1899 einer neuen weichen mußte. In dem Jahre 1846 genoß Prischib auch den hohen Besuch des Großfürsten Konstantin Nikolaijewitsch. Der Krieg Rußlands mit der Türkei (1854) zog auch die Kolonie Molotschna in Mitleidenschaft, obwohl nur indirekt. Die Ansiedler mußten Fuhren zur Fortschaffung der Bagage, Fourage u.s.w. stellen und 1500 Verwundete verpflegen, weshalb sie in Prischib drei Lazarethe [sic!] errichteten. Ende Oktober desselben Jahres war ein Orkan, wie noch nie erlebt wurde; Dächer wurden abgedeckt; Mühlen umgeworfen und der Kirchturm stark beschädigt -. Am 18. September 1858 fand zum ersten Male ein Missionsfest statt.
1879 wurde die Centralschule eröffnet mit einem Lehrer deutsch und russisch. Derselbe bekam ein Gehalt von nur 200 Rbl. – Im September desselben Jahres ward der Kolonie der hohe Besuch des damaligen Thronfolgers Nikolai Alexandrowitsch zu teil. 1866 wurde der russische Sprachunterricht in den Dorfschulen eingeführt. Erstes russisches Lesebuch war der „Golotusow“ mit jedem Lesestück. Das Jahr 1871 steht durch die schrecklichen Brände in der Kolonie selbst, wie im ganzen Gebiete, einzig da. Bandschaden [sic!] war über eine halbe Million zu verzeichnen.
In diesem Jahre kamen die ersten Mähmaschinen zur Anwendung und man glaubte, daß die Bände [sic!] von den Arbeitern aus Rachsucht angelegt worden seien wegen Anschaffung dieser Maschinen: sie sahen dadurch ihre Existenz bedroht. 1873 am 25. September wurde das 50=jährige Jubiläum der Kirche gefeiert und 1898 das 75jährige. Erwähnt sei noch, daß 1860 der fast mit der Gründung der Kolonie ins Amt gekommene Kirchenälteste Brühler starb, ein Mann, der unermüdet alle Anforderungen seines bis an´s Lebensende geführten Amtes nachkam, sowie daß 1874 demselben sein Sohn Johann Brühler im Amte folgte und dasselbe bis dato zur größten Zufriedenheit des Ortspastors und der Gemeindeglieder inne hat. 1875 wurden die schöne dreiklassige Dorfschule gebaut, welche das Gebäude der Centralschule weit übertraf. Mit der Anstelung [sic!] des Oberlehrers Gustav Heinrichs, eines sehr treuen und umsichtigen Petagogen [sic!] (gest. Rostow, a.d. 18..) ging´s auch mit der Centralschule rasch in die Höhe; sie wurde dreiklassig und bald darauf 1880 die vierte pädagogische Klasse eröffnet, welche leider nach dem Weggang Heinrichs wieder einging und bis heute noch nicht wieder eröffnet wurde zum großen Schaden der Molotschnaer Gemeinden. Regen Anteil am Emporblühen der Centralschule nahm besonders der damalige Vorsitzende des Schulrats und heutigem Curator der Schule Friedrich Heine senior. 1899 wurde die neue Centralschule im Rohbau fertiggestellt und 1900 vollendet. Das Gebäude – allein auf einer Anhöhe stehend – nimt [sic!] sich gut aus. Der ganze Bau kam auf ungefähr 30.000 R. zu stehen. Gegenwärtig sind 7 Lehrer für drei Klassen und die Vorbereitungsklasse angestellt, ohne die Religionslehrer evangelischer und katholischer Chonfession. Zuletzt seien noch Ereignisse auf dem ökonomischen Gebiet sowie Naturereignisse mitgeteilt. Im Jahre 1809 brach die Rinderpest zum ersten Male ein und raffte viel Vieh weg. Im Frühlinge desselben Jahres trat auch die Molotschna weit aus ihren Ufern und überschwemmte die Wiesen. 1813-1814 lieferten ausgezeichnete Ernten wie auch das Jahr 1818. 1819 brachte eine zweite Rinderpest und ebenso die Jahre 1839, 1845, 1852, 1871 und 1872. Besonders verheerend trat diese Krankheit im Jahre 1845 auf und war die Quelle vielfacher Verarmung. Im Jahre 1822 ließen sich die Heuschrecken zum ersten Male sehen, richteten aber wenig Schaden an, desto schrecklicher aber waren ihre Verwüstungen in den darauf folgenden Jahren bis 1827, in welchem Jahre die Witterung sie gänzlich zerstörte. In diesen Jahren büßten die Ansiedler naturgemäß viel Vieh ein aus Futtermangel. Nachdem fast alle Dächer abgedeckt und verfüttert waren wurde im Frühlinge 1825 das Vieh auf die Weide getrieben. Am 17. März d. J. kam ein schreckliches Schneegestöber mit Regen, das Vieh konnte vor Schwäche nicht nach Hause gebracht werden und so kam das mit so großer Mühe durchwinterte Vie [sic!] um. 1833 war ein totales Mißjahr: 1844 aber brachte ein ungewöhnlich reiche Ernte und 1847 war ein beispiellos reiches Jahr. In diesem Jahr trat auch die Cholera auf, forderte aber nur wenig Opfer auf, dagegen aber mehr im folgenden Jahre und im Jahre 1866; in ihrem Gefolge waren Krankheiten manichfacher [sic!] Art, besonders Typhus. 1852 traten die Blattern auf. 1855 war große Teurung. Hafer wertete 80 R. pro Pud. Kolossale Heuschreckenschwärme vernichteten die Felder. 1859 war gut; 1860 ausgezeichnet. 1866 steht als Mißjahr da. Das siebende [sic!] und achte Decenium brachte keine besonderen Ereignisse; die Ernten waren abwechselnd gut und mittelmäßig. 1898 und 1900 waren schwache Ernten. 1901 wäre als ein gutes Jahr zu bezeichnen gewesen, wenn nicht der am 23. Juni erfolgte wolkenbruchähnliche Orkan solch enormen Schaden angerichtet hätte. Durch diesen und seinen Begleiter dem Hagel bekam in einer Viertelstunde die ganze Landschaft ein winterliches Ansehen. Riesenbäume entwurzelte das entfesselte Element und der Hagel schlug Blätter und Früchte von den Bäumen
Im Nu stieg die Molotschna aus ihren Ufern und überschwämmte [sic!] die nahn [sic!] Gemüsegärten und Wiesen, ein grausiges Bild der Zerstörung hinter sich lassend.
IV. Heutiger Stand der Verhältnisse und des Lebens der Ansiedler.
In materieller Hinsicht ist Prischib mit den zu ihm gehörigen Dörfern weit günstiger gestellt als viele andere Ansiedlungen, z.B. an der Wolga. In den ersten Jahren der Ansiedlung ist nordwestlich von Prischib ein Oval von 6583 Dessj. zu einer Schäferei abgetrennt worden. Nachdem die einkünfte [sic!] davon zum Ankauf von Ländereien für die Landlose Generation bestimt [sic!], damit die Wirtschaften nicht zerstückelt oder höchstens doch nur halbiert würden, was bis heute auch konsequent durchgeführ [sic!] worden ist. 1/4 Wirtschaften wie in Glückstahl, gibt es – so viel mir bekannt – nirgens im Prischiber Gebiet. Bis jetzt wurden vier Landkäufe abgeschlossen und teils mit Landlosen, teils mit „Freikäufern“ angesiedelt. Auf dem angekauften Ländereien entstanden 30 Kolonien und zwar unweit Nikogel im Iekaterinoslawischen Gouvernement 3 Kolonien mit 5460 Dessj. – im Jahre 1862 angesiedelt -, im Cherson´schen Gouvernement 12 Kolonien mit ca. 18000 Dessj. – im Jahre 1869- im Alexandrow´schen Keise [sic!] des Iekaterinoslaw´schen Gouvernement 11 Kolonie mit ca. 17191 Dessj. – im Jahre 1882 – und im Poltaw´schen Gouvernement 4 Kolonien mit 6033 Dessj. 713 Fd. – im Jahre 1889 angekauft. Die im Jahre 1862 Angesiedelten erhielten 60 Dessj. pro Familie, die späteren nur 30, um mehr landlose Familien unterzubringen. Das Leben in Prischib ähnelt schon mehr dem Stadtleben. Die bäuerliche Tracht ist fast ganz veschwunden [sic!]. Mann sieht wohl feine Toiletten aus der Straße, aber sehr selten eine Bauerntochter auf dem Erntewagen. Mann [sic!] schämt sich der Arbeit, daher hier auch nicht alles Gold ist, was glänzt. 1/3 der Wirtschaften wird in Pacht abgegeben. – Handel und Gewerbe sind vür [sic!] Dorfverhältnisse stark vertreten. – Das religiöse Leben weißt Fortschritte gegen früher auf. Ein großer Segen für viele sind die Bibelstunden unseres lieben Pastors. Sittlichkeit und Moralität lassen viel zu wünschen übrig. Daß es nicht auch rühmliche Ausnahmen giebt [sic!], ist unbestreitbar. Hauptursache an der zunehmenden Zuchtlosigkeit ist wohl das aus anderen Orten zuströmende Handwerkspersonal, sowie demoralisierende Einwirkungen der Einwohnenden Fabrikarbeiter und Dienstleute. Eine Durchsicht des alten Personalbuches zeigt bei dem Namen des lesekundigen Ansiedlers jedesmal den Vermerk „kann lesen“. Daraus ist zu sehen, Das [sic!] damals die Kenntnisse in Lesen und Schreiben durchaus schwache waren. Beim heutigen Stand der Schulverhältnisse ist der umgekehrte Fall eingetreten: nur eine verschwindend kleine Zahl gänzlich mittelloser Leute ist des Lesens und Schreibens unkundig. 2/3 der Unterrichtsstunden sind gegenwärtig der russischen und 1/3 der deutschen Sprache und Religion gewidmet. An der Dorfschule existieren drei Lehrer: einer für deutsche Sprache und Religion mit einer Jahresgage von 600 Rbl., einer vür [sic!] Russische Sprache mit 500 Rbl. und einer für Rechnen mit 250 Rbl. Im Schulwesen ist also zwischen Einst und Ietzt ein gewaltiger Fortschritt zu konstatieren. – Dank den Bemühungen des Ortspastors ist Dank den Bemühungen des Ortspastors ist in den letzten Jahren auch eine Taubstummenanstalt gegründet worden, welche durch freiwillige Beiträge unterhalten wird. Bei derselben fungieren ein Lehrer und ein Hilfslehrer. – Zur Unterhaltung und Förderung der Musik und des Gesangs sowie des Sports tragen ein Gesang= und Velozipedistenverein bei. Für Journale, Bücher sorgt die mit der Kolonie groß gewordene Buchhandlung G. Schaad u. zwei Bierbrauereien spenden der durstenden Kühle [sic!] ihr Naß.
Wir lesen den Namen Schaad – aber wer war eigentlich diese Familie?
Ursprünglich aus Strümpfelbach stammend, wanderte der Buchbinder Johann Gottlieb Schaad (1824-1882) nach Russland aus.
Sein Vater Johann Jakob Schaad, Schultheiß von Strümpfelbach, starb 1858. Die Mutter, Katharina Barbara Layer war schon 1841 verstorben, ebenso die zweite Frau, Catharina Körner, nur zwei Monate vor ihrem Mann. Eine Tochter war nach Nehren verheiratet, die anderen Geschwister entschieden daher, ihr Glück 1858 im Amerika zu versuchen.
Warum Johann Gottlieb sich entschied nach Russland und nicht, wie die Geschwistern, nach Amerika zu gehen, man weiß es nicht, vielleicht wurde ihm die Reise verwehrt, vielleicht war er abenteuerlustiger als die anderen.
Johann Gottlieb ließ sich in der Stadt Molochans’k nieder und heiratete 1848 Barbara Wied aus der Kolonie Weinau. Dem jungen Glück wurde nur eine kurze Zeit beschieden, Barbara überlebte die Geburt ihres 5 Kindes 1856 nicht, von ihren vier Kindern überlebte nur eine Tochter das Kindesalter. Der Witwer heiratete 1857 erneut und hatte mit Maria Caroline Heinrich (1837-1893) weitere 10 bekannte Kinder. Eines davon war Gottlieb Schaad (1859-1936), der Buchhändler und Verleger aus Prischib.
Ihm verdanken wir nicht nur den Illustrierten Molotschnaer Volks-Kalender für die deutschen Ansiedler in Süd-Rußland, sondern auch viele andere Druckwerke, wie „Die christliche Wahrheit, dargelegt in Predigten für alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres.“ Pingoud, Guido; Verlag Prischib Gottlieb Schaad, Leipzig, Hinrichs, 1908, sondern auch das „Deutsche Lesebuch für Volksschulen in Russland“ 1919, Ernst Linde, editiert von J. Jedig, J. Hoffmann. Verlag Gottlieb Schaad Prischib.
Gottlieb war seit 1896 verehelicht mit Emilie Elisabeth Heinrich (1868-1932) und bewohnte mit ihr ein großes Haus in Prischib, welches ihre 7 Kinder beherbergte.
Es ist sogar ein Foto der Familie in ihren Wagen erhalten gebleiben.
Die Familie verließ Russland und ließ sich in Stuttgart nieder, vermutlich auf Grund der Ereignisse des ersten Weltkrieges und der Oktoberrevolution in Russland, so ist ihre Anwesenheit in Stuttgart 1925 gesichert. Emilie Elisabeth starb 1932, Gottlieb 1936, ihre Nachkommen finden sich heute in Deutschland, Canada und Namibia.
Als ihre Zeit erfüllt war 150 Jahre Bewährung in Russland, Quiring, Dr. Walter; Bartel, Helen, Published by Modern Press, Saskatoon, Saskatchewan, Canada, 1963, p74
Nach der Anerkennung der Einbürgerungen der Administrativumsiedler 1943/1944 vom 22. Februar 1955 durch die Bundesrepublik Deutschland wurde ein Besuch von Bundeskanzler Adenauer in Moskau (9.-13. September1955) möglich. Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion wird mit einem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets das Regime der Sondersiedlungen am 13. Dezember 1955 aufgehoben.
Die Bewohner der Sondersiedlungen durften ab Januar 1956 die Orte ihres Gewahrsams verlassen, allerdings mussten sie schriftlich auf die Rückkehr in ihre früheren Wohnorte und auf ihr vor der Deportation beschlagnahmtes Vermögen verzichten. Anders bei den Tschetschenen, Kalmücken, Balkaren, Karatschaen und Inguschen. Im November 1956 entschied die Parteispitze, die territorialen Autonomien dieser Völker wiederherzustellen. Sie erhielten im Rahmen staatlicher Rücksiedlungsprogramme Mittel zur Wiedererrichtung kultureller und bildungsrelevanter Institutionen, es wurden Investitionen im Bereich des Wohnungsbaus, der sozialen und Verkehrsinfrastruktur getätigt und so lebten zu Beginn der 1960er Jahre die meisten Angehörigen der betroffenen Ethnien wieder in ihren nationalen Territorien.1
Nach diesen Maßnahmen stellten über 80.000 Erwachsene zwischen 1956/1957 einen Antrag auf die Übersiedlung in die Bundesrepublik, aber bis Ende der sechziger Jahre konnten nur wenige das Land verlassen.
Ein Erlass des Obersten Sowjets über die Teilrehabilitierung der Russlanddeutschen folgt am 29. August 1964.„Das Leben hat erwiesen, dass diese pauschal erhobenen Anschuldigungen haltlos und Ausdruck der angesichts des Personenkults um Stalin herrschenden Willkür waren.“Der Erlass aus dem Jahr 1941 wurde somit nicht aufgehoben, sondern nur dahingehend abgeändert, dass die deutsche Minderheit nur von dem Vorwurf einer aktiven Zusammenarbeit mit dem Feind freigesprochen wurde.
Der Versuch, eine vollständige Rehabilitation der Volksgruppen zu erzielen, scheiterte 1965. Erst mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 3. November 1972 wurde es möglich, an die ursprünglichen Wohnorte zurückzukehren.
Die Einstellung vieler Deutscher wandelte sich, immer mehr forderten die Emigrationsmöglichkeit, um außenpolitisch das Gesicht zu wahren, wurde eine geeignete Lösung der „deutschen Frage“ gesucht. Der damit beauftragte KGB-Chef Juri Andropow machte im August 1978 den Vorschlag, eine territoriale Autonomie zu gründen, um die „ungesunden Emigrations- und nationalistischen Stimmungen zu bekämpfen.“ Nach seiner Ansicht waren beinahe die Hälfte der Deutschen inzwischen auf dem Territorium Kasachstans „fest verwurzelt“, als Beweis führte er an, das es in der Unionsrepublik mehr als 230 dörfliche Ortschaften gab, in denen die Deutschen die Bevölkerungsmehrheit stellten.
Daher schlug der Ausschuss vor, eine Deutsche Autonomie aus fünf Rayons der angrenzenden Gebiete Karaganda, Koktschetaw, Pawlodar und Zelinograd mit einer Fläche von 46.000 km² und Jermentau als Zentrum zu bilden. Dort lebten bereits 202.000 Menschen, davon etwa 30.000 Deutsche. Daraufhin brachen im Juni 1979 in Zelinograd und anderen Städten Unruhen aus, die ohne Konsequenzen blieben, ein Zeichen, das sich die Regierung nie ernsthaft um eine tatsächliche Gleichstellung der Deutschen bemühte.
Ab 1986, in der Perestroika, konnten die Russlanddeutschen erstmals ihre Angehörigen in der Bundesrepublik regelmäßig besuchen. Die Hoffnung auf die „Kommission für Probleme der Sowjetdeutschen“ vom 12. Juni 1989 erfüllten sich nicht. Die Zahl der Ausreiseanträge schnellte daher ab 1990 sprunghaft hoch. Unter Jelzin erfolgte im Juli 1991 die Gründung des Rayons „Halbstadt“ in der Region Altaj und im Februar 1992 „Asowo” bei Omsk. Diese ländlichen Territorien erhielten Hunderte von Millionen DM in den Jahren 1992–1999 für die Errichtung von Infrastrukturen, um den Verbleib der Deutschen in Russland zu unterstützen, bis Ende 1998 wanderte jedoch allein aus dem Rayon „Halbstadt” 80 % der deutschstämmigen Bevölkerung nach Deutschland aus.
Seit 1960 durften nach sowjetischen Angaben 16.411 zumeist deutsche Personen in die DDR übersiedeln, bis 1986 durften 95.107 Deutsche aus der UdSSR in die Bundesrepublik ausreisen, die von nun an deutlich zunehmenden Aussiedlerzahlen sorgten dafür, das in der Bundesrepublik Deutschland am 1. Juli 1990 das Aussiedleraufnahmegesetz (AAG) in Kraft trat, wonach eine Antragstellung nur aus dem betreffenden Land möglich ist, trotzdem stieg die Zahl der Aufnahmeanträge 1992 auf über 195.000 an2. Durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG), das am 1. Januar 1993 die Rechtsgrundlage zur Aufnahme von Personen deutscher Herkunft aus den Ländern der GUS und anderer osteuropäischer Staaten vorlegte, wurde der Kreis potentiell Berechtigter stark eingeschränkt. „Spätaussiedler“ sind im Sinne dieses Gesetzes diejenigen deutschen Volkszugehörigen, die nach dem 1. Januar 1993 in osteuropäischen Ländern einen Antrag auf Aussiedlung in die Bundesrepublik gestellt haben. Sie sind jedoch keine „Vertriebenen“, aber „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ und werden als „Abkömmlinge“ bezeichnet. Im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) vom 19. Mai 1953, zuletzt geändert am 6. September 2013 wurde festgelegt, das russische „Spätaussiedler“, die vor dem 1. Januar 1946 geboren sind, keine Entschädigung gemäß Häftlingshilfegesetz für erlittenen Gewahrsam, für Zwangsarbeit und Leben unter Sonderkommandanturen erhalten, sondern Eingliederungspauschalen.
Weitere gesetzliche Hürden und Einschränkungen kamen im Laufe des Jahres 1996 hinzu, um die Anerkennung als Spätaussiedler zu erhalten, wurden „familiär vermittelte Kenntnisse der deutschen Sprache“ gefordert, die „natürlich wirkend“, vom Elternhaus vermittelt wurden und kein „künstliches, erlerntes“ Hochdeutsch sein durften. Mir persönlich ist bekannt, dass auch Fragen nach den familiären Essgewohnheiten gestellt wurden und die Mütter „typisch deutsche“ Rezepte herunterbeten mussten, um einen Beleg für ihr „Deutschtum“ zu liefern. Für hunderttausende Russlanddeutsche stellte diese Regelung ein schwer zu überwindendes Hindernis dar, da die absichtliche Zerstreuung auf den riesigen Territorien Sibiriens und Kasachstans und das Leben unter russischer Amtssprache vor allem für die jüngere Generation zum Verlust der deutschen Muttersprache führte. Das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz verschärfte die Aufnahmekriterien ein weiteres Mal, da sich nun auch die nicht deutschen Familienmitglieder des Antragsstellers einem deutschen Sprachtest zu unterziehen hatten.
Neben diesen und weiteren Problemen der Gesetzgebung kämpften hoch qualifizierte Fachleute mit der Nichtanerkennung ihrer Berufe. So mussten wir in unserer eigenen Familie sehen, wie langjährige Pädagogen und Ingenieure keine Anerkennung ihrer Hochschul- und Berufsabschlüsse erhielten. Das verschenkte Potential zeigte sich später in einer Umschulungsmaßnahme, als der nicht anerkannte Pädagoge vor den Umschülern den Part des Lehrers übernehmen musste, da es dem eigentlichen Lehrer schlicht an Wissen in der zu schulenden Materie mangelte – hier im Fach Chemie! Erst das Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen vom 6. Dezember 2011 sollte für Abhilfe sorgen, es kam im vorbenannten Fall allerdings ein Jahrzehnt zu spät, inzwischen greift für einen Teil der Familie das Fremdrentengesetz vom 25. Februar 1960, zuletzt geändert am 19. Oktober 2013.
eine subjektive Betrachtung ausgewählter Bevölkerungsgruppen unter Beachtung historischer Fakten und der Einbindung von Geschehnissen, wie sie mir Zeitzeugen schilderten
Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion. Um eine Begründung für die Misserfolge der Roten Armee bei dem Zurückschlagen der deutschen Truppen zu haben, wurde für die Öffentlichkeit ein Feindbild aufgebaut, dass Maßnahmen ermöglichte, um eine vermeintliche Kollaboration der unterdrückten ethnischen Minderheiten, die tatsächlich eine Zeit lang mit den Deutschen sympathisierten, aber vor allem der Russlanddeutschen mit Nazi-Deutschland zu verhindern.
Aufgrund des Befehls des Kriegsrates der Südfront und der Anweisung des Rates für Evakuierungsangelegenheiten Nr. 75s begann schon ab dem 15. August 1941, die als Evakuierungsmaßnahme getarnte Aussiedlung der etwa 53.000 Krimdeutschen, vorerst in den nordkaukasischen Raum. Der unmittelbaren Anstoß zur Auflösung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen und zur Einleitung der totalen Deportation der deutschen Minderheit war vermutlich ein Schreiben der Politbüromitglieder Shdanow, Molotow und Malenkow an Stalin vom 24. August 1941, in dem sie ihn über den vereinbarten Beschluss informierten, die Aussiedlung von 88.700 Finnen und 6.700 Deutschen aus dem Gebiet Leningrad unverzüglich einzuleiten. Zugleich wurde eine „Instruktion zur Durchführung der Umsiedlung der Deutschen, die in der ASSR der Wolgadeutschen, in den Gebieten Saratow und Stalingrad ansässig sind“ herausgegeben. Der Durchführungszeitraum wurde auf den 2. September bis 20. September 1941 festgelegt. Mit der Angelegenheit betraut wurde der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Lawrentij Berija.1
Die Klarheit des Beschlusses zeigt sich in der Wortwahl: „Überzusiedeln sind alle Einwohner deutscher Nationalität, die in den Städten und ländlichen Siedlungen der ASSR der Wolgadeutschen, der Gebiete Saratow und Stalingrad leben. Mitglieder der WKP(b) und des kommunistischen Jugendverbands Komsomol sind gleichzeitig mit den anderen umzusiedeln.“1
Den Familienmitgliedern von Militärangehörigen der Roten Armee versprach man „in den Ansiedlungsorten eine Vorzugsbehandlung, vor allem bei der wirtschaftlichen Einrichtung und der Unterbringung“. Einzig Frauen, deren Ehemänner nicht Deutsche waren, blieben von der Verbannung – vorwiegend nach Sibirien, Kasachstan und an den Ural – verschont.
Mit dem Beschluss des ZK der WKP(b) vom 31. August 1941 „Über die Deutschen, die auf dem Territorium der Ukrainischen SSR leben“ wurde die Mobilisierung der Männer im Einberufungsalter befohlen. Sie wurden 13 Bautrupps zugeteilt mit insgesamt 18.600 Männern und in vier GULAG-Objekte der NKVD verschickt: Iwdel’lag, Solikambumstroj, Kimpersajlag und Bogoslowstroj.
„Ich kam in das Lager Iwdel-Lag im Ural. Die letzten hundert Kilometer wurden wir mit Hunden zu Fuß durch den Wald getrieben. Dort war tiefer, tiefer Schnee und sonst nichts. Das Lager war leer, als wir ankamen. Außerdem waren dort Zäune und Wach türme. Die Baracken waren alt. Zum Teil fehlten die Fenster, wir waren 40-50 Mann in einer Baracke. Wir haben im Wald Bäume gefällt. Wenn wir von der Arbeit gekommen sind, war die ganze Kleidung nass und gefroren. Es gab eine Kammer, in der die Sachen trocknen sollten. Aber manches Mal hat das nicht geklappt. Und man hat es nass wieder angezogen und raus in die Kälte. Anfangs hatte man noch ein bisschen Kraft von zu Hause. Dann sind die Leute immer schwächer und schwäch er geworden, bis sie kaum noch laufen konnten“.2
Gemäß der Direktive vom 8. September 1941 wurden die etwa 100.000 russlanddeutschen Angehörigen der Roten Armee aus den regulären Einheiten zunächst in Bautrupps versetzt, vielfach jedoch erschossen. Für die Deutschen im Gulag wurde auf Anraten des NKWD Anfang des Jahres 1942 eine eigene Kategorie gefunden: trudmobilisowanny nemez, dies wurde zur offiziellen Bezeichnung für die Deutschen in der Arbeitsarmee. Zum 1. Januar 1942 befanden sich insgesamt 20.800 Deutsche in der Trudarmee. Im Oktober 1942 übertrug man die für die Deutschen geltenden Bestimmungen auf andere Minderheiten: wehrpflichtige Männer aus den Ethnien der in Russland ansässigen Finno-Ugrier, Ungarn, Rumänen und Italiener wurden ebenfalls bis zur ihrer Auflösung 1946 zur Arbeitsarmee eingezogen.
Auf Grundlage einer Verordnung des Staatliche Verteidigungskomitees vom 8. Oktober 1941 „Über die Aussiedlung der Deutschen, die das Gebiet der Georgischen, Armenischen und Aserbaidschanischen Sowjetrepubliken bewohnen“ wurden mehr als 45.000 Kaukasiendeutsche zwischen dem 15. Oktober und 12. November 1941 deportiert.
Unter ihnen 4193 namentlich bekannte Katharinenfelder.4 , deren Wagons an der Verladestation Sandar standen, um sie nach Sibirien zu schaffen.
Die Verbannung der anderen Gruppen der deutschen Bevölkerung, die keinen Autonomiestatus besaßen, so u. a. aus der Ukraine, dem Trans- bzw. Nordkaukasus, sowie aus Großstädten, erfolgte in den darauf folgenden Wochen und Monaten mittels geheimer Beschlüsse des Politbüros der WKP(b), des Staatlichen Verteidigungskomitees GKO, des NKWD und der Kriegsräte einzelner Armeefronten. Gleichzeitig wurden ihnen ihre staatsbürgerlichen Rechte aberkannt und ihr Eigentum bis auf ein geringes Handgepäck eingezogen.
Betroffen waren auch Deutschen aus den Gebietszentren und Industriezonen Kasachstans. So beschloss das ZK der Kommunistischen Partei Kasachstans am 16. Oktober 1941 die Aussiedlung, bereits Ende des Monats begannen die Erfassung, das Zusammentreiben und schließlich die Verbannung in die ländlichen Siedlungen der Gebiete Molotow/Perm, Tscheljabinsk, Swerdlowsk und Tschkalow/Orenburg im Ural.1
Kasachstan hatte bereits zwischen 1929 und 1933 erhebliche Bevölkerungsverluste hingenommen. Die Zwangskollektivierungsmaßnahmen nahmen den nomadisch lebenden Hirten ihre bisherige Lebensweise, die Herden starben mangels Nahrung in der Steppe und entzogen so der Bevölkerung die Lebensgrundlage. Rund 2 Millionen Menschen verhungerten und etwa 1 Million Menschen verließen das Land. Sibirien sollte daher für viele Deutsche nicht die Endstation sein, die Menschen wurden mit Viehwaggons weiter transportiert und irgendwo in den leeren Steppen Kasachstans zur„Ansiedlung“ abgesetzt. 5
Hier mussten die Ankömmlinge nicht nur für sich selbst sorgen, sondern wurden für schwerste und unqualifizierte Arbeiten beim Bau von Eisenbahnlinien, Industriebetrieben, in der Öl- oder Kohleförderung oder beim Holzfällen eingesetzt.
Da die Versorgung mit Lebensmittelmarken nur für die arbeitende Stadtbevölkerung galt, die Landbevölkerung überwiegend von eigenen Nutzgärten und vom privat gehaltenen Vieh lebte, waren vor allem Hunger und Krankheiten Ursache für ein massenhaftes Sterben der Deportierten. Die Propaganda gegen die Deutschen sorgte für weitere Repressalien und sie hörten nur zu oft: „Ernährt euch, wovon ihr könnt, ihr seid keine sowjetischen Menschen“, „Alle Deutschen mögen vor Hunger verrecken“
Nur die Hilfe der einheimischen kasachischen Bevölkerung, die zuvor unter der Zwangskollektivierung bereits gelitten hatte, rettete Zehntausenden das Leben.5
Mit dem Kriegsende 1945 wurden etwa 200.000 Russlanddeutsche aus dem Warthegau als so genannte Repatriierte nach Sibirien und Mittelasien deportiert.
Unter ihnen viele der etwa 340.000 Schwarzmeerdeutschen, die in den 1943/1944 beim Rückzug der Wehrmacht in den Warthegau umgesiedelt wurden und als Administrativumsiedler die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten.
Bis 1946 kamen weitere rund 200.000 repatriierte Deutsche aus dem westlichen Teil der UdSSR und aus allen Besatzungszonen Deutschlands, fast die Hälfte waren Minderjährige.6
Grundlage für diese Zwangsrückführung war die am 11. Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta von den westlichen Regierungen mit der Sowjetunion unterzeichnete Vereinbarung, in der festgelegt wurde, welcher Personenkreis zwangsweise zu repatriieren war.
Ein Kriterium von fünf möglichen musste erfüllt sein:
Wohnsitz auf sowjetischem Territorium am 1. September 1939
nach der Konferenz von Jalta in westalliierte Hand geraten
am 22. Juni 1941 oder später dienstpflichtig in der Roten Armee
Gefangennahme in einer deutschen Uniform
Nachweis für Kollaboration
Die ersten beiden Kriterien sollten verhindern, dass Angehörige der nach 1917 emigrierten Sowjetbürger von der Zwangsrepatriierung bedroht waren. Auch polnische Ukrainer und Esten, Letten und Litauer, die aus Gebieten stammten, die erst im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs sowjetisch geworden waren, fielen nicht unter diesen Personenkreis.
Die Amerikaner und die Engländer vereinbarten, dass jede Besatzungsmacht „ihre“ Bürger ins eigene Land zurückbringen darf. Für jeden ehemaligen Sowjetbürger deutscher Nationalität, der aus Deutschland deportiert wurde, wurden 200 US-Dollar Kopfgeld als Kriegsschuld für Deutschland angerechnet.7
Auch in unserer Familie waren Angehörige, die von der Roten Armee 1945 auf der Flucht überrollt und deportiert worden. Sie teilten ihr Schicksal mit dem tausender anderer und starben fast alle an den unmenschlichen Bedingungen in der Trudarmee. Die Repatriierten wurden entsprechend der Direktive des NKVD Nr. 181 vom 11. Oktober 1945 allen anderen Sondersiedlern gleich gestellt.8
Die Verhältnisse, unter denen die Zwangsarbeiter arbeiten mussten, waren wie in einem Gefangenenlager. Sie lebten unter strenger Bewachung, mit Schwerstarbeit und psychischem Druck von Seiten der Vorgesetzten. Die Arbeitsnorm war unerträglich hoch und nicht alle konnten sie erfüllen. Wer die Norm schaffte, bekam 600-800 g Brot und die andere nur 300 g. An Unterernährung, Unterkühlung und Krankheit starben mehr als ein Drittel der mobilisierten Deutschen. 2.900 ihrer auf diese Weise verwaisten Kinder waren daher von der NKVD zwischen März 1944 und Oktober 1945 in Waisenhäuser einquartiert worden.6
Laut einer Regierungsverordnung vom 8. Januar 1945 wurden zur besseren Erfassung und Kontrolle der deportierten Völker in den Aussiedlungsgebieten Sonderkommandanturen geschaffen. Jeder Deutschen musste sich jetzt registrieren lassen und binnen drei Tagen alle Änderungen der Zahl seiner Familienangehörigen melden. Ohne Genehmigung des Kommandanten durften niemand seinen Wohnort verlassen.
Zudem wurden auch die bereits vor dem Krieg in Sibirien und Kasachstan ansässigen Deutschen der Aufsicht der Sonderkommandantur des NKVD unterstellt. Ab 1947 wurden die Strafen für kleinste Vergehen verschärft. Das unerlaubte Verlassen des Aufenthaltsortes wurde nun erst mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft, ab dem 21. Februar 1948 wurde das Strafmaß auf bis zu zehn Jahre Haft erhöht, und jedes Familienoberhaut musste monatlich persönlich zur Registrierung beim Kommandanten des NKVD erscheinen. Eine weitere Verschärfung der Bedingungen für Deutsche und andere Sondersiedler erfolgte am 26.11.1948 durch ein Dekret, das die Verbannung der Deutschen, aber auch der Tschetschenen, Kalmücken und Krimtataren “auf ewig” festschrieb und für das unerlaubtes Verlassen des Aufenthaltsortes 20 Jahre Zwangsarbeit vorsah, eine Strafe, die tatsächlich verhängt wurde.9
Mit Stalins Tod am 5. März 1953 setzte eine vorsichtige Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft ein, beginnend mit der Rehabilitierung der Opfer politischer Justiz, und der schrittweisen Verbesserung der Lage der Deportierten. Der Regierungsbeschluss „Über die Aufhebung einiger Einschränkungen in der Rechtsstellung der Sondersiedler“ brachte jedoch nicht die Rechte eines normalen Sowjetbürgers, sondern den Status eines Sondersiedlers. Die deutschen Zwangsarbeiter wurden in die Stammbelegschaften von Betrieben und Bauorganisationen überführt. Nur mit Einverständnis der Betriebsleitung und des zuständigen Kommandanten konnten ehemalige Mobilisierte an den Ort ihrer Pflichtansiedlung zurückkehren oder ihre Familien zu sich holen. Die Zusammenführung der über das Land verstreuten Familien dauerte bis in die Mitte der fünfziger Jahre, in ihre vor 1941 bewohnten Heimatorte durfte niemand zurückkehren. Die Zusammenführung der über das Land verstreuten Familien dauerte bis in die Mitte der fünfziger Jahre, in ihre vor 1941 bewohnten Heimatorte durfte niemand.
Auf eine Anerkennung dieser Zwangsarbeit musste jedoch lange gewartet werden. Über sechzig Jahre nach der Aufhebung der Gesetze über die Sondersiedler hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die sogenannte Richtlinie über eine Anerkennungsleistung ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter („ADZ-Anerkennungsrichtlinie“)10 zur Zwangsarbeiterentschädigung gebilligt. Mit dem Inkrafttreten am 1. August 2016 können ehemalige deutsche Zwangsarbeiter, die als Zivilpersonen aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit kriegs- oder kriegsfolgenbedingt zur Zwangsarbeit herangezogen wurden und am 27. November 2015 noch lebten, einen einmaligen Anerkennungsbetrag in Höhe von 2.500 Euro erhalten. Wer nach diesem Termin verstarb, gab diesen Anspruch an seine Erben weiter, jedoch war das Zeitfenster zur Antragstellung begrenzt, endete am 31. Dezember 2017.
1) Viktor Krieger: Deportationen der Russlanddeutschen 1941-1945 und die Folgen
2) Zeitzeuge Adam Rusch, Spätaussiedler aus Berlin in Andrea Gotzes „Das haben wir alles überlebt“ Russlanddeutsche Erinnerungen 1930-1990, Suttonverlag
3) Foto: northural.ru/image/1228344687 [Строительство железной дороги до Соликамска силами заключенных ГУЛАГа]
4) Emil Biedlingmeier: Das Ahnenbuch von Katharinenfeld in Georgien, Kaukasus: Chronik der Familien. Eigenverlag (2005), Daten zusammengestellt von Harry Hörz S. 865
5) Dagmar Schreiber: Kasachstan: Auf Nomadenwegen zwischen Kaspischen Meer und Altaj (Trescher Verlag 2008)
6) Nemcy SSSR v trudovoj armii (1941-1945) / A. A. German, A. N. Kuročkin – Moskva: Gotika, 1998
7) Freiheitsglocke Berlin, April 2013 63. Jahrgang, Nr. 726 VOS – Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. Gemeinschaft von Verfolgten und Gegnern des Kommunismus
8) Istorija stalinskogo GULAGa, S. 473
9) V. Herdt: Die Neuordnung des Sondersiedlungsregimes und das Dekret vom 26. November 1948. In: Von der Autonomiegründung zur Verbannung und Entrechtung. Die Jahre 1918 und 1941 bis 1948 in der Geschichte der Deutschen aus Russland. Hrsg.: Alfred Eisfeld. Stuttgart 2008, S. 204-211.