Lange-lange ist es her, als die Welt von Königen und Königinnen regiert wurde, lebte ein sehr mächtiger Zauberer namens Nenaboscho. Er konnte die Menschen in irgendwelche Wesen und Dinge verwandeln. Zur selben Zeit lebte im weit entfernten Weißrussland ein Fürst, der rings um sein Schloss sehr viele Ahornbäume angepflanzt hatte. Der Volksmund sagt, dass Ahornbäume zum Wohlstand verhelfen und vor dem Bösen beschützen.

Der Fürst und die Fürstin hatten einen Sohn, der Vasil hieß. Er war sehr stur und eigensinnig.

Es war ein warmer Herbsttag. Die Ahornbäume in den Gärten des Fürsten standen in ihrer vollen roten Pracht. Der mächtige Zauberer Nenaboscho beschloss, das Land und das Schloss des Fürsten zu besuchen, wo der eigensinnige Junge aufwuchs. Es war mittlerweile viel Zeit vergangen und Vasil war schon fast erwachsen. Er hatte gerade seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.

Der böse Zauberer war unterwegs mit seinen Zaubereien beschäftigt und suchte ein rotes Ahornblatt, das unbedingt von der Hand des Sohnes des Fürsten gepflückt werden sollte. Nur dann gab es dem Beschenkten eine sehr große Energie. Nur etwas freiwillig Geschenktes kann Wunder bewirken.

Vasil weigerte sich, für den Zauberer ein Ahornblatt zu pflücken. „Reiß es selber ab und nimm es mit in dein Land!“, sagte der eigenwillige junge Mann.

„Wie sprichst du mit mir, du ungehorsamer Fürstensohn! Du hast mir ein Ahornblatt verweigert, also wirst du selbst in ein Ahornblatt verwandelt!“ sagte der Zauberer und rief einen stürmischen Wind herbei, in dem er seinen schwarzen Mantel öffnete und begann sich um seine Achse zu drehen. Dabei wirbelte er das ganze Laub im Garten auf.

„Werde zum Ahornblatt und flieg’ in mein Land!“, rief der böse Zauberer und ergänzte mit düsterer Stimme: „Nur nachts wirst du wie ein Mensch aussehen, aber tagsüber dich immer wieder in ein Ahornblatt verwandeln und auf einem Waldweg liegen. Jeder wird dich treten können. Entzaubern kann dich nur ein liebendes Herz!“

Der Zauberer lachte laut und höhnisch, bevor er aus dem Garten verschwand: „Wer wird sich schon in ein Ahornblatt verlieben…“

Der Sturm brachte den in ein Blatt verwandelten Vasil nach Kanada. Es geschah sehr schnell. Das schöne Ahornblatt fiel bald auf eine sonnendurchflutete Waldlichtung. Dort sammelte gerade das sehr schöne und gutherzige Mädchen namens Luisa bunte Blätter für ihre Kollektion. Als sie das purpurrote Ahornblatt sah, konnte sie einfach die Augen nicht von ihm abwenden, da sie dachte, dass es nicht aus diesem Wald, sondern von sehr weit her gekommen sein musste. Sie freute sich sehr, dass sie es entdeckt hatte, hob das ungewöhnliche Blatt sehr vorsichtig auf und legte es zu den anderen.

Vasil fühlte alles, er war ja in ein Blatt verwandelter junger Mann. Nachts flog das Ahornblatt aus der Schatulle, die auf dem Nachtisch neben Luisas Bett stand. Er nahm in diesem Moment wieder eine menschliche Gestalt an. Er beugte sich leise über Luisa, beobachtete eine Weile ihr Gesicht und versuchte zu verstehen, was sie für ein Herz hatte.

„Wahrscheinlich ist sie sehr warmherzig“, dachte Vasil. Sie schlief leise und ruhig, auf ihren Wimpern glänzte silbern der Mondschein. Er küsste sie vorsichtig und ging sofort leise heraus in den Garten, um das Mädchen nicht zu wecken. Seitdem stieg er jedes Mal aus der Schatulle und küsste die wunderbare Luisa.

 Einmal träumte sie nachts, dass sie vergessen hatte, das Fenster zu schließen und ein Sturm hätte ihr schönstes Ahornblatt erfasst und weit weg getragen. Sie wurde wach, schaute nach und das rote Blatt fehlte tatsächlich. Sie begann zu weinen: „Wo ist wohl mein schönes Blatt?“  Und Vasil antwortete ihr: „Ich stehe hier, hinter der Tür. Hab nur keine Angst, Luisa!“ Das Mädchen sah den schönen, schlanken Jüngling und fragte nach seinem Namen.

„Ich bin dein Ahornblatt und heiße Vasil. Mich hat der böse Zauberer Nenaboscho verzaubert, weil ich ihm kein Ahornblatt aus meinem Garten geben wollte. Aber wenn sich jemand in mich verliebt, dann werde ich wieder ein Mensch“.

Luisa sah ihn an, hörte zu und wunderte sich, wie schön und leidenschaftlich er sprach. Sie dachte, dass es kein Zufall sein konnte, dass er in ein rotes Ahornblatt verwandelt wurde, das sofort ihre Aufmerksamkeit weckte. Ja, in demselben Augenblick hatte sie sich auch in es – in ihn – verliebt. Sie ging auf ihn zu und sagte: „Ich kann dich nicht bei mir lassen und in die Schatulle legen. Du musst selbst entscheiden, ob du bleiben willst oder nicht. Ich würde mich am liebsten nie von dir trennen. Wahrscheinlich liebe ich dich.“

So viel Wärme verströmte ihre Stimme, dass Vasili zu ihr schritt und sie umarmte. Hinter dem Fenster wurde es immer heller und in den Sonnenstrahlen begann das goldene Herbstlaub zu leuchten. Und… es passierte nichts. Es passierte nichts Schlechtes. Der Zauberbann verflüchtigte sich wie der Tau auf den Blättern.

Vasil verwandelte sich nicht mehr in ein Ahornblatt. Er blieb bei der lieben Luisa in ihrem Land. Und damit sie die roten Blätter nicht vermisste, befahl der junge Fürst aus seinem Land nach Kanada Ahornsetzlinge zu bringen. Und so verbreiteten sich Ahornbäume in ganz Kanada.

Den Kanadiern gefielen diese Bäume mit den schönen – wie ausgeschnittenen – Blättern sehr. So wurde ein Ahornblatt zum Symbol ihres Landes und schmückte sogar ihre Fahne.

Das Märchen ist zu Ende, aber der Leser und der Hörer können sich das alles noch einmal ruhig durch den Kopf gehen lassen.

Autor: Alexander Weiz

Titelbild: Jutta Rzadkowski

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