Es war einmal in einer sehr alten Siedlung am Schwarzen Meer in einem uralten Ort am Schwarzen Meer, den die Griechen gegründet hatten und Olivia nannten, was bedeutete  „die Glückliche“. Die Stadt befand sich am rechten Ufer der Bugbucht, was sehr günstig war, daher die Bezeichnung.

Sehr große Weideflächen fürs Vieh, warmes Klima und  weites flaches Land ringsum – all dies machte Olivia zu einem Paradies. Dort lebte ein Hirte Namens Ivan. Er saß oft am Ufer der Bucht, beobachtete die schöne Natur und lernte sehr gut auf der Hirtenflöte zu spielen. 

Eines Tages lockten seine Melodien ein besonderes Wesen in menschlicher Gestalt ans Ufer – eine Meerjungfrau. Sie war zum flachen Wasser geschwommen, um sich auf einem Stein auszuruhen. Als sie die Hirtenflöte hörte, vergaß sie ihre Angst vor den Menschen. Sie kam immer näher zu dem Platz am Ufer, wo Ivan saß. Er entdeckte sie auch, aber ließ es sich nicht anmerken, um sie nicht aufzuschrecken. Ivan beobachtete sie und dachte: „Wie schön sie ist. Das Haar mit einer eingesteckten weißen Lilie den Wellen ähnlich. Die grünblauen Augen sind wie das Meer“.

Die Meerjungfrau schüttete indes den Sand von ihren runden kleinen Schultern, die silbern glänzten. Er rieselte ins Wasser und in diesem Moment fiel ihr Blick auf Ivan. Sie blickte noch mal verlegen zu ihm und sprang zurück ins Wasser. Er sah nur noch kurz einen smaragdgrünen Schwanz, der rhythmisch das Wasser bewegte. Die Abendröte spiegelte sich darin rubinrot wie verschütten Edelsteine.

Am nächsten Tag kam Ivan wieder zum Ufer, spielte lange auf der Hirtenflöte, aber die Meerjungfrau zeigte sich nicht. Als er aufhörte zu spielen, hörte er plötzlich ein Plätschern. Sie stand im von den letzten Sonnenstrahlen kirschrot gefärbten Wasser und schien keine Angst mehr vor ihm zu haben. Sie beeilte sich, nicht mehr schnell wieder zu verschwinden.

Seit diesem Abend kam er immer wieder ans Meeresufer, um sie zu sehen und spielte nur noch für sie. Die Meerjungfrau hörte ihm zu, schaute sich die schönen Pflanzen und Blumen in der Umgebung an, hörte auf das Vogelgezwitscher auf den Bäumen und dachte darüber nach, wie schön es auf der Erde ist.

Dann kehrte sie in ihr Unterwasserreich zurück. Es war ein riesengroßer, mit Meerespflanzen geschmückter Palast. Die Königstochter war handwerklich sehr geschickt. Sie strickte bunte Stoffe mit goldenen Fäden, die von Mollusken fertiggestellt wurden. In wunderschönen Gewändern trat sie vor dem Meereskönig und seinen Begleitern auf, und er war stolz auf seine Tochter. Sie konnte sehr gut tanzen und singen, sie schmückte mit ihrer Anwesenheit jedes Fest und erfreute damit die Palastbewohner und ihre Gäste.

Sie tauchte oft auf der Meeresoberfläche auf und glitt über die schaumgekrönten Wellen wie über Schneehügel und ihre besten Freunde – die Delfine trieben ihre lustigen Spiele mit ihr.  Sie versteckten sich und tauchten dann wieder aus der Tiefe auf. Die Meeresjungfrau hörte ihre gurrenden Stimmen und freute sich.

Eines Tages war sie sehr traurig. Nicht mal die Delfine konnten ihre Stimmung verbessern. Auch der Meerespalast aus Kristallen, die so wunderbar das Sonnenlicht spiegelten, schien ihr nicht mehr so schön zu sein wie früher. Sie wollte lieber mehr Zeit am Ufer verbringen. Sie wusste, dass dort der junge Hirte mit seiner Zauberflöte auf sie wartete.

Manchmal sah sie am Ufer junge Männer und Frauen, beobachtete ihre lustigen Spiele und bewunderte die schönen Blumenkränze auf ihren Köpfen. Wie verführerisch lachten die Schönen, wenn ihre Kavaliere sie in die Hände nahmen und um sich drehten, wie auf einem Karussell!

„Lass mich zu den Menschen gehen, Vater! Ich will so leben und mich freuen wie sie“, flehte die Meeresjungfrau.

„Du wirst nicht so leben können wie sie. Die Liebe der Menschen ist schön wie die Blumen, aber es gibt nicht nur sie auf der Erde. Es gibt auch Tränen im Leben der  Menschen. Du hast noch nie geweint und weißt nicht, was das ist“, antwortete der Herrscher der Meere und wurde auch traurig. Er wollte nicht seine Tochter zu den Menschen gehen lassen. Er hatte aber ein Gewand, das eine Meereshexe seiner Tochter am Tag ihrer Geburt geschenkt und gesagt hatte, dass es die Meeresprinzessin im fremden Land retten würde.

„Gut, liebe Tochter, du kannst gehen!“, sagte der Meereskönig und verwandelte ihren Fischschwanz in Menschenfüße mit Schuhen voller Diamanten. „Vielleicht findest du tatsächlich dein Glück auf der Erde. Aber du musst wissen, dass du immer zu uns zurückkommen kannst,“ und reichte ihr ein Kleid, das mit Smaragden bestückt war, die Schuppen schimmerten goldig und silbern. Weiße Flossen schmückten wie Spitzen die Ärmel und den Rücken des Kleides.

Die Delfine ahnten, dass die Meeresjungfrau sie verlassen wollte.

 „Wieso willst du uns und das warme Meer verlassen. Du gehst aus diesem Palast, wo du alles hast. Die schönsten Frauen der Erde hatten nie so viele Diamanten in den Haaren und Kleider, die mit Goldgarn genäht wurde. Und die zarten Wellen werden dich nachts nicht mehr in den Schlaf wiegen“.

Alle Meeresbewohner versuchten die Meeresprinzessin zu überreden in gewohnter Umgebung zu bleiben. Was würde sie in einer Hirtenhütte finden?  Ein bescheidenes Dasein, ein Nachtlager aus stacheligem Stroh? 

Doch die schöne Meeresprinzessin wollte nichts hören und eilte zu einem wunderbaren Ort am Meeresufer – die Stadt Olivia. Als Ivan wieder zu seinem Lieblingsplatz am Meer kam, saß die Meeresjungfrau da. Er gab ihr seine Flöte und trug sie auf Armen in seine Hütte hinein, die wunderbar leuchtete vom Glitzern der Smaragde auf ihrem Kleid. Es war schön, aber nicht sehr praktisch. Ivan gab ihr ein anderes Kleid, das von seiner Mutter. Es war auch sehr schön und mit Stickereien geschmückt.

Die Meeresprinzessin zog es an und begann alle Hausarbeit zu machen. Sie war handwerklich begabt und alles ging ihr leicht von der Hand. Bald erfuhren die Menschen von ihr und versuchten so nah wie möglich an sie heranzukommen und beobachteten sie heimlich. Junge Männer waren auf Ivan neidisch. Die Neugierigen merkten, dass die Meerjungfrau manchmal das Kleid von Ivan ablegte und sich ihr Kleid mit Smaragden anzog. Als ob es ihr neue Kraft gäbe. Sie saß dann einige Zeit am Meer, schaute in die Ferne, dann kam sie zurück und zog sich wieder um. Und sie arbeitete wieder im Haus – von der Müdigkeit keine Spur. Da beschlossen die Neider Ivan zu schaden. Das Kleid mit Smaragden hielten sie für verzaubert und hatten Angst es zu berühren, aber das Kleid mit den Stickereien stahlen und verbrannten sie. Ivan hatte es nicht geschafft, seine Hütte von Fremden zu beschützen.

Die Meerjungfrau bekam Angst, dass auch ihr Meereskleid vernichtet wird. Wahrscheinlich hatte der Vater recht, als er sagte, dass sie nicht mit Menschen klarkommen würde. Sie schaute sich das fast verbrannte Kleid an und rief zum Abschied laut: „Lebe wohl, mein Lieber! Es sollte nicht sein, dass ich hier lebe.“

Ivan war in dieser Zeit auf der Jagd. Als er zurückkehrte, erzählten ihm die Menschen, was sie gesehen und gehört hatten. Mehrere Tage und Nächte suchte Ivan seine Braut. Er kam immer wieder ans Ufer des Schwarzen Meeres, stand dort lange in seine Tiefen schauend und verbrachte die Nächte am Ufer der Seemündung.

Eines Tages beschloss er, eine Meeresreise zu unternehmen. Er hoffte, wenigstens irgendetwas über seine Meerjungfrau zu erfahren. Er fand ein großes Schiff und war lange mit der Mannschaft unterwegs. Als er sich sehr müde fühlte, verließ er das Schiff auf einer unbekannten Insel, setzte sich ans Ufer und beobachtete den Sonnenuntergang. Es sah, wie die Sonne langsam ins Meer versank und die Dunkelheit umhüllte die Insel.

Da fühlte er, dass er immer tiefer zum Meeresgrund sinkt, aber verspürte dabei keine Angst. Als ob es alles im Traum geschah.

Auf der Suche nach der Meeresprinzessin durchquerte er unter dem Wasser einige Grotten und Tunnel und gelang in den Meeresgarten. Er schien tot zu sein, die Korallen zerbrachen wie Glas bei der Berührung.

Endlich sah Ivan in der Tiefe des Gartens ein leeres Haus. Er rief nach seiner Geliebten, aber es herrschte Stille ringsum. Er wanderte noch lange über den Meeresgrund, bis durch die Wassertiefe ein Sonnenstrahl durchkam.

Ivan kam wieder zu sich am Strand sitzend. War er tatsächlich im Meeresreich gewesen oder übermüdet eingeschlafen? Er konnte nicht verstehen, was geschehen war. Er schaute sich um und erblickte den höchsten Berg der Insel. Als er seinen Gipfel erreicht hatte, setzte er sich auf einen Felsvorsprung und begann das Meer zu beobachten.

Die Matrosen eines Schiffes entdeckten auf der Rückreise aus der Ferne eine Gestalt auf dem Fels. Als sie näher kamen, stellte sich heraus, dass es kein Mensch war, sondern ein steinerner Götze. Sie überlegten, ob sie weiter nach Ivan auf der Insel suchen sollten, oder sei er vielleicht aus Sehnsucht nach seiner geliebten Meeresjungfrau versteinert worden…

In unserer Zeit ist diese Geschichte fast vergessen. Nur das Meer und der Wind, der Mond und die Sonne erinnern sich daran, was vor langer Zeit hier passierte. Und der einsame steinerne Götze auf dem Fels über dem Meer lässt uns die Geschichte über die Meerjungfrau, die so gerne unter Menschen leben wollte, nicht vergessen.

Das Märchen ist zu Ende, aber der Leser und der Hörer können sich das alles noch einmal ruhig durch den Kopf gehen lassen.

Autor: Alexander Weiz

Titelbild: Jutta Rzadkowski

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