Weiz Alexander
Hühnerei
Märchen
Es war sehr lange her. Auf einem Hügel zwischen der Steppe und den Birkenwäldern stand ein altes Holzhaus mit einem großen Hühnerhof. Die Hühner fühlten sich dort wohl, liefen hin und her und erkundeten alle Ecken. Der Frühling herrschte schon im Land. Der Himmel war klar und wolkenlos. Die Sonne war gerade aufgegangen. Am sich durch ihre Sonnenstrahlen rosarot verfärbten Himmel konnte man die ersten Lerchen sehen und hören. In den Wäldern und Felder duftete es nach frischem Gras und Frühlingsblumen.
Ein Huhn verließ den Hof und ging einen Pfad hinauf zu einem kleinen Hügel. Hier machte es sich ein Nest aus altem Stroh und legte dort ein frisches Ei. Vom Hügel gab es eine weite Sicht auf Felder, Wiesen und Wälder.
„Was für ein schönes Plätzchen und keiner wird mein Ei hier finden“, dachte das Huhn. Die Sonne hatte das Ei warm gemacht und es begann sich etwas nach rechts und links zu bewegen. Wahrscheinlich langweilte es sich ein bisschen dort allein zu liegen. Es kullerte aus dem Strohnest heraus und dann ging es immer weiter den Hügel herunter.
Die Hühner beobachteten das Ei aufmerksam. Einige standen hinter einem Strohhaufen, die anderen schauten aus dem Hühnerhof oder aus dem Gebüsch im Garten zu. Als die Legehenne das Ei herunterkullern sah, eilte sie hinterher: „Wo-wohin, wo-wohin, was-was für ein Hühnerunglück“. Aber das Ei kullerte immer weiter, wich geschickt den Baumstämmen und Büschen aus, manchmal schneller, manchmal langsamer. Es schien sich an dem Vogelgezwitscher und den Geräuschen der Tiere sich zu erfreuen.
Das Ei machte an einem See kurz halt, auf dem zwei schöne weiße Schwäne sich graziös bewegten. Nach einer Weile kullerte es weiter, wahrscheinlich, um die Welt besser kennenzulernen.
Das junge Gras begann zu wachsen, die Zugvögel waren schon wieder da, auch die Wachtel. Ihre lauten freudigen Rufe hörte man in der ganzen Steppe: „Podj-polodj, podj-polotj!“
Eine Wachtel begann an ihrem Nest zu basteln und trug emsig trockenes Gras und Federn in einer bequemen kleinen Mulde. Und schon bald legte sie elf bunt gesprenkelte Eier.
Das Ei vom Hühnerhof kullerte und kullerte und gelangte ausgerechnet in dieses Wachtelnest. So hatte es ein neues Zuhause gefunden. Es war so ein schöner Platz: Rund um das Wachtelnest blühten die ersten Frühlingsblumen und im ganz nah liegenden Birkenwald, hörte man das Vogelgezwitscher.
Es waren drei Wochen vergangen. Die Wachtel saß auf ihren Eiern und endlich begann die Eierschale hier und da zu platzen. Die ersten Küken kamen auf die Welt, mit noch schwachen nickenden Köpfchen, und versuchten aus dem Nest zu krabbeln. Sie bewegten sich geschickt zwischen den Grashalmen hinter ihrer Mutter her auf der Suche nach Körnern und anderen kleinen Leckerbissen.
Die Küken wühlten in der Erde, scharrten hin und her mit ihren kleinen Füßchen. Das bunteste Küken fand einen kleinen Wurm. Als die anderen es sahen, stürmten sie auf es zu und begannen den Wurm an sich zu reißen. Es war für sie wie ein Spiel. Die Wachtelküken schnappten sich kleine Mücken, Samen und Haferkörner. Jeden Morgen badeten sie im Tau. Sie hatten auch bald gelernt, im hohen Gras die Gefahren zu erkennen, welche den schutzlosen Kleinvöglein von allen Seiten drohten. Tagsüber waren es Falken und Raben und nachts die Füchse und Eulen.
Auf der Waldlichtung erschien oft ein Fuchs, der auf der Suche nach etwas Essbarem war. Auch noch nicht flügge gewordene Küken waren vor ihm nicht sicher, wenn sie es nicht schafften, sich rechtzeitig zu verstecken. Der Fuchs schnappte dann so eins sofort und stillte seinen Hunger. Auch in der Nähe vom Wachtelnest lief mal ein Fuchs vorbei. Die Wachtelküken sprangen mit großen Schritten wie Grashüpfer in das besonders dichte Gras und das Hühnerküken lief hinterher. Obwohl es nicht so hoch springen konnte, war es nicht langsamer als die anderen. Der Fuchs musste hungrig in den Wald zurückkehren.
Die Wachtelküken wuchsen langsam heran und begannen immer öfter über das Gras sich zu erheben und lernten das Fliegen. Sie bereiteten sich für den großen Zug gen Süden vor.
Das Hühnerküken konnte sie nur beobachten. Das Fliegen klappte bei ihm nicht ganz. Und plötzlich fühlte es sich als Fremder unter ihnen. Es schaute noch eine Weile zu, dann sah es in der blauen Weite einen Hügel und ging, wohin ihn die Füße trugen. Unterwegs stillte es seinen Hunger mit Würmern, Samen und Körnchen. Es waren viele sorgenvolle Tage und Nächte für das Hühnerküken. Tagsüber waren es die Raubvögel, nachts hörte es die Wölfe heulen und Eulen schreien. Es versteckte sich in Roggenfelder, im Gebüsch oder hohem Gras. Der Sommer war fast vorbei.
Das Hühnerküken war schon ziemlich groß geworden. Die Blätter verfärbten sich, die Felder standen im goldenen Glanz. Wohin es auch schaute, überall sah es Anzeichen des Herbstes. Hoch im Himmel hörte es die Abschiedsrufe der Kraniche, die in warmen Ländern der Kälte entkommen wollten.
„Wie schön sie sich hintereinander eingereiht haben und nehmen den goldenen Herbst mit sich“, dachte der junge einsame Wanderer.
Plötzlich sah das Küken einen Rauch hinter dem Wald empor steigen und beschloss, dass da sein Zuhause sein muss. So kam es mit zu Fuß bis zum Holzhaus, wo seine Verwandten auf dem Hühnerhof wohnten. Und es begann bei den Bauern zu leben, wie es die Hühner üblicherweise tun. Die sorgenvolle Zeit war vorbei, nebenan lebten genau solche jungen Hühner, die nicht fliegen konnten, aber sich immer etwas auf dem Hühnerhof einfallen ließen. Und sie hatten auch immer etwas in ihrer Hühnersprache einander zu erzählen.
Hier ist des Märchens Ende, man muss das Blatt wenden.

Titelbild: Jutta Rzadkowski
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