Handelsplatz, Zollstation, Gouvernementshauptstadt

G. Braun, F. Hogenberg, Grodno 1575, public domain

Historie

  • 1128 Ersterwähnung als Burganlage unter dem Namen Goroden („befestigte Siedlung“) im Fürstentum Polozk im Verband der Rus.
  • 1391 Stadtrecht auf Grundlage Magdeburger Rechts – innerhalb der Stadt wurde den Bürgern durch das Stadtrecht die persönliche Freiheit, das Eigentumsrecht, die Unversehrtheit von Leib und Leben und die geregelte wirtschaftliche Tätigkeit garantiert durch den litauischen Fürsten Vytautas.
  • 1793 fand in der Stadt der letzte Sejm (Parlamentstagung Polen-Litauens) statt, auf dem die zweite Teilung Polens (1793–1795 ratifiziert wurde. Anmerkung: Der Sejm verabschiedete am 3. Mai 1791 die erste moderne Verfassung Europas: Polen wurde zu einer konstitutionellen Monarchie mit Gewaltenteilung und Volkssouveränität. Katharina II. und andere Herrscher aufgeklärt-absolutistischer Staaten bewerteten die sogenannte Mai-Verfassung als umstürzlerisch. Letztlich führte das zu einer weiteren Teilung Polens. Von 1795 bis 1918 existierte kein eigenständiger polnischer Staat und damit keine staatsbildende Nation.
  • 1795 kam die Stadt Grodno unter russische Herrschaft.
  • 1802 Sitz des russischen Gouverneurs für das Gouvernement Grodno, hier befand sich auch das Zollamt am Njemen (Memel).
  • Ende Juni 1812 Schlacht von Grodno, von napoleonischen Truppen besetzt, im Dezember wieder unter russische Kontrolle.
  • Im Frühling 1919 wurde Grodno dem wiedererrichteten Polen angeschlossen (Zweite Polnische Republik gegründet 11.11.1918).
  • 16.8.1945 neue Grenzziehung, Grodno wird sowjetisch.
  • 1991 Unabhängigkeit Weißrusslands, Grodno offiziell nun zu Belarus.

Station auf dem Kolonistenzug

Grodno war 1803 der erste Sammelplatz der Ansiedler auf russischem Boden. Hier war die Zollstelle, welche Steuern für ein- und ausgeführte Waren erhob. Die Zolleinnahmen beliefen sich 1802 auf 163.881 Rbl. 49 Kop. Im Jahre 1803, durch den Strom der Kolonisten, stiegen die Einnahmen auf 222.072 Rbl. 2 ¾ Kop.1

Zudem befand sich hier die Zahlstelle an die Kolonisten für Verpflegungsgelder und Futtergeld für ihre Pferde. Der russische Staat organisierte geführte Transporte aus Grodno nach Taurien in Gruppen, alle Einwanderer wurden in Listen2 erfasst.

Die Erreichbarkeit Grodnos war außerordentlich gut durch die alten Handelsstraßen, welche Europa seit dem Mittelalter als Verkehrsadern durchzogen.

Anachronistisch rekonstruierter Verlauf der Via Regia und Via Imperii in Europa, Ersteller: Maximilian Dörrbecker (Chumwa), 5.11.2013, CC BY-SA 2.5
  • 1252 Ersterwähnung der Via Regia in einer Urkunde des Markgrafen Heinrich von Meißen als Königsstraße (strata regia)3.
  • Im Mittelalter wichtige West-Ost-Route, Handels- und Militärstraße im Heiligen Römischen Reich, Pilgerweg.
  • Handelswege standen unter dem Schutz der königlichen Zentralgewalt und besonderem Friedensschutz. Der Begriff Via Regia bezeichnete im allgemeinen Sinn ursprünglich nicht eine bestimmte Straße, sondern eine Straßenart.
  • Teilabschnitte des Straßennetzes wurden später auch von den Kolonisten genutzt, um besonders schnell voranzukommen.
  • Via Imperii war eine von mehreren Reichsstraßen des heiligen oder römischen Reiches, verlief in Nord-Süd-Richtung von Stettin nach Rom.
    Im Mittelalter bereits durch Straßenzwang privilegiert – Handelswaren mussten auf vorgeschriebenen Straßen befördert werden, gut ausgebaut und mit Zöllen belegt. Auch Pilgerweg und unter demselben Schutz wie die Via Regia stehend.

Simon Moritz von Bethmann (1768–1826), Bankier, Diplomat, Abgeordneter.4


Das Haus Bethmann war und wurde neben dem Haus Rothschild zum wichtigsten Finanzier der deutschen und europäischen Fürstenhäuser.

Simon Moritz von Bethmann war 1800 Kaiserlich-Russischer Konsul,
Zar Alexander I. ernannte ihn 1807 zum russischen Generalkonsul beim Rheinbund, 1810 Kaiserlich-Russischer Staatsrat, 1808 erhob Kaiser Franz I. Bethmann in den erblichen Adelsstand.

Ab 1803 begann eine große Welle der Auswanderung nach Taurien, nachdem die Allgemeine Reglements, die Aufnahme fremder Kolonisten in Neurußland betreffend! von Kaiser Alexander I. (1777–1825) erlassen wurden – für die Deutschen der „Engel des Vaterlandes, Friedensengel Europas“

„Einquartieren, durchmarschieren, rekrutieren, exkutieren, einkassieren, illuminieren disponieren, füssiilieren waren die schönen, hochklingenden Worte“, die dem Volk nur Lasten aufbürdeten. Die französische Freiheit für das Volk eine Befreiung von Hab und Gut, Leib und Leben.
„Durch solche traurigen Folgen der uns vorgespiegelten Freiheit wurden viele Tausende in der Blüthe der Jahre dahingerafft, das stille, häusliche Glück der meisten Familien gestört oder auf immer zerstört.“. 5

Durch Bethmann wurden zahlreiche Reisepässe über die Zollstation Grodno ausgestellt, und die Auswanderer dankten es „dem guten Herrn Bethmann“, der Tag und Nacht die Pässe ausstellen ließ.

Dieser Ukas legte unter anderem Folgendes fest:6

  • Keine Lockmittel, um die Leute zur Auswanderung zu bewegen.
  • Auswanderungswillige sollte sich bei den Ministern, Residenten, Geschäftsträgern oder Konsulen Seiner Majestät melden
  • Jeder musste ein gerichtliches Zeugnis aufweisen, dass er ein guter Landwirt sei und seine Schulden bereinigt habe.
  • Jede Person sollte wenigstens 300 Tl. in barem Gelde oder in Waren bei der Auswanderung besitzen.
  • Jede ledige Person musste sich an eine Familie anschließen.
  • Jeder Kolonist mit seiner Familie durfte außer der zollfreien Einfuhr seiner Effekten noch Waren im Wert von 300 Rbl zum Wiederverkauf frei einbringen.
  • Rückkehrer musste außer den Geldern, die sie der Krone oder sonst jemandem schuldeten, eine dreijährige Abgabe ihrem Stande gemäß entrichten und ihr Land an jemanden verkaufen oder abtreten, der im Lande blieb.
  • Wegen Ungehorsams und sonstiger Vergehen sollten die Kolonisten nach Entrichtung ihrer Kronschulden über die Grenze zurückgebracht werden.

Badenern war der Abzug bis zum Erlaß vom 13.12.1803 untersagt, dann nur den „Übelhausern und faulen Arbeitern“ gestattet. Ab 4. Juni 1808 konnten Manumissionsanträge offiziell von allen Auswanderungswilligen gestellt werden (unter manumissio versteht man den juristischen Akt, durch den ein Sklave aus dem Zustand der Sklaverei entlassen wird – hier Leibeigenschaft, Untertanenschaft).

Beispiele von Kolonisten in den Grodno Listen

Nasseide, Grodno 26.3.1809, Blick auf die Via Regia7 und Kartenausschnitt Danzig8

Kam als Handwerker aus Danzig: Nasseide Gottfried 50J., mit Frau Elisabeth 34J.
Gottfried 17J., Wilhelm 14J., Carl 12J., [wird in Neumontal ansässig] Anna 15J.
Moscha ? 6J. Wilhelmina 4J. Rosa 1/2J. Schwiegermutter Anna Krieger/Krüger 58J. Schwester Gottfrieda 40 J. Schwester Florentina 22 J.

Grodno 26.3.1809, Johannes Huft9 aus Wössingen, Passtellen Radom, Lublin10, Reiseweg11

17 Johannes Huf(t) von Wössingen/Karlsruhe-Ba, 40 J. alt reist mit seiner Frau Christina, mit seinen fünf Kindern: Johann, Elisabeth, Willhelm, Christina und Salomea, über Berlin nach Bergdorf/Od. Markt-Steir(e), 19. 3. 1809. Sichtvermerke: Grodno, 26. 3. 1809. – Radom, 28. 3. 1809. – Lublin, 31. 3. 1809. – Wodawa, 3. 4. 1809. 12 Reiseroute über 2700 km.

Radom war 1795 mit Westgalizien an das Königreich Galizien und Lodomerien des habsburgischen Kaiserreichs angeschlossen. 1809 kam es ins Herzogtum Warschau und 1815 ins neu entstandene, russisch beherrschte, Kongresspolen.

Lublin gehörte 1795 zu Österreich, ab 14.10.1809 zum Herzogtum Warschau, ab1815 zu Kongresspolen (Russisch-Polen)

Grodno 29.9.1809, Ehe Walther aus Mössingen13, Lebenserinnerungen von Sohn Ernst Walter

15 Walther, Jacob 24, aus Steinfurt/Sinsheim-Ba, seine Frau Magdalena 20, sein Sohn Ernst 4. Wi: 15 Rd., 35 Schf., 1 Sprd.14

Sohn Ernst erzählte aus Erinnerungen der Eltern, die in Kostheim siedelten und aus Grötzingen stammten:

Wer kein Fuhrwerk hatte, lud seine Habe auf einen Schubkarren; die Mutter band ihren Säugling oben darauf und spannte sich selbst mit einer Zugleine vor den Karren, während ein kleiner 7- bis 8jähriger Knabe, sich am Rocke der Mutter haltend, nebenher trabte und dieselbe mit den Worten tröstete: „Mutter, muscht nit heule, kommer bald zum Russema, der hat viel Brot und Salz. Gelt Mutter, dort finde uns d´ Franzose nit, der Russema stot vor Thüre na und lasst se nit rei, derno dersemer unser eins selber esse.“15

Grodno 12.8.1809 Carl Lupp und Johann Conrad Hansen aus Hersfeld, Karte Molotschna16

Carl Lupp 30J., aus Hersfeld Hessen mit Frau Elisabeth geb. Hansen 26J., Kinder: Friedrich 5J., Carl 1,5J. Plischmachergeselle (verarbeitete Seide zu Sammet)
Johann Conrad Hansen 50 J. in Grodno registriert am 29.09.1809, Frau Fr: Elisabeth 26 (48!); Kinder: Rosina 20, Gottfried 12, Wilhelm 8; Knecht Hofmann 20.17

Als die Siedler des Jahres 1809 im Herbst in Jekaterinoslaw eintrafen, wo das Vormundschaftskomtoir für ausländische Ansiedler seinen Sitz hatte, mussten sie vor dem Winter untergebracht werden.

Einquartierung erfolgte in den bereits bestehenden deutschen Kolonien Josefsthal, Rybalsk, Großweida, im Chortitzer und Molotschnaer Mennonitenbezirk und in den ersten Ansiedlungen der Molotschnaer Kolonisten, gegründet von etwa 250 aus Preußisch Polen und Pommern eingewanderte Familien, welche bereits im Jahre 1805 acht Kolonien anlegten: Monthal, Neudorf, Rosenthal, Molotschna, Hoffenthal, Nassau, Weinau und Wasserau.

Ihre zukünftige Heimat, die Steppe, war gänzlich unbewohnt und wurde nur von herumziehenden tatarischen Hirten (Nomaden) jährlich einige Male besucht.

Zur Ansiedlung wurde im Frühjahr 1810 geschritten. Jeder Familie wurden 60 Dessjatinen (rund 66 ha) Land zugeteilt und ein Vorschuß von 200 Rubel gezahlt zur Anschaffung zweier Pferde, eines Wagens, einer Kuh, und für Saatfrucht. Dazu Bauholz zu einem 8 Faden langen und 4 Faden breiten Wohngebäude (ca. 17 x 8,5 m) im Wert von etwa 105 Rbl.


  1. Zolleinnahmen: Darstellung der Russischen Monarchie nach ihren wichtigsten statistisch-politischen Beziehungen zum Gebrauche akademischer Vorlesungen, Burchard Heinrich von Wichmann · 1813, p.176 ↩︎
  2. Fond 383 op.29 delo 317 ab Herbst 1803 bis Frühjahr 1809, Abschrift Taurien e.V. ↩︎
  3. wikipedia ↩︎
  4. Simon Moritz von Bethmann, 1812. Porträt von Johann Jacob de Lose (1755–1813), gemeinfrei ↩︎
  5. Ernst Walter, geb. 1804 in Grötzingen, Auswanderer, Lebenserinnerungen ↩︎
  6. Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1849 Nr. 6, auf Mikrofilm, CMBS ↩︎
  7. Via Regia, Malula, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44031 ↩︎
  8. Ausschnitt Danzig: Karte von Ost-Preussen nebst Preussisch Litthauen und West-Preussen nebst dem Netzdistrict aufgenommen unter Leitung des Konigl. Preuss. Staats Ministers Frey Herrn von Schroetteer in den Jahren von 1796 bis 1802. Jack Scripsit et Sculpsit. Haas, Meno 1803, publiziert 1810 Schropp & Co. ↩︎
  9. KB Unterwössingen, Mischbuch 1772-1788 ↩︎
  10. ) Carte von West-Gallizien : welche auf seiner allerhochsteri Befehl Kaiserlich Oesterreichischen. und Konigliche Apostolischen Majestat in den Jahren 1801 bis 1804 von unter der Direction des dermahhgen General Majors und General Quartiermeisters und Anton Mayer von Heldensfeld des militarischen Marien Theresien Ordens Ritter durch den Kaiserl. Konigl. Generalquartiermeisterstaab militarisch aufgenommen Worden. Mit allerhochster Bewilligung herausgegeben und seiner des Generalissimus Erzherzog Carl_ Kaiserlichen Hoheit unterthanigst gewidmet as Generalquartiermeisterstaab gezeichnet, gestochen von und Hieronimus Benedicti. 1808 ↩︎
  11. selbst erstellte Karte mit mymaps, Googlemaps ↩︎
  12. Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland 1763-1862; Stumpp Dr., Karl ↩︎
  13. KB Grötzingen, Mischbuch Mai 1776–1799/1811/1800 ↩︎
  14. Stumpp ebenda ↩︎
  15. Ernst Walter, ebenda ↩︎
  16. Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897. ↩︎
  17. Stumpp ebenda ↩︎