Örtliche Lage und äußere Anlage der Kolonie.1

260 Werst von der Gouvernementsstadt Cherson in westlicher Richtung, 45 Werst nördlich von der Kreisstadt Tiraspol und 10 Werst nördlich von dem am Dnjestr gelegenen Provinialstädtchen Grigoriopol, liegt die Kolonie Glücksthal. Da dieselbe in einer Thalmulde liegt und zwar in einem Seitenthälchen des von Bergdorf nach Grigoriopol in südwestlicher Richtung sich hinziehenden Thales Tschornenko, so kann sie nur von einer auf der Südseite liegenden Anhöhe aus übersehen werden. Von hier aus betrachtet, hat Glücksthal eine romantische Lage.
Hier lag einst vor der Ansiedlung der Deutschen das Moldowanerdorf Glinnoi, wie die deutsche Kolonie heute noch von den Russen benannt wird.
Schon von 1804 an begann die Einwanderung der Deutschen in dem zur ersten Ansiedlung angewiesenen armenischen Städtchen Grigoriopol, dicht am Dniestr gelegen. 3 württembergische Familien bildeten den Anfang. Zu denselben gesellten sich im Jahre 1805 von den in Ovidiopol angekommenen Württembergern noch 67 Familien. Anno 1806 kamen aus Warschau 9 Auswandererfamilien dazu, im Jahre 1807 aus Ungarn 24 Familien und in den folgenden Jahren 1808 und 1809 noch mehrere Familien direkt aus dem Ausland. So befanden sich im Jahre der Ansiedlung der Kolonie 1809 im Ganzen 106 deutsche Familien, 2727 männliche, 253 weibliche, zusammen 525 Seelen in Grigoriopol, welche von hier aus zunächst in das Moldowanerdorf Glinnoi umgesiedelt wurden.
Der ursprüngliche Plan der Regierung war der, daß diese Ansiedler in Grigoriopol bleiben und sich mit den Armeniern verschmelzen sollten. Aeußerlich hätten die deutschen Kolonisten in mancher Hinsicht dabei gewonnen. Aber es entstanden bald Streitigkeiten zwischen den Armeniern und den Deutschen und da sie sich nicht untereinander vertragen konnten, so fand der damalige Stadtgouverneur von Odessa, der Herzog von Richelieu, dem die Sache vorgestellt wurde, es für besser, die Deutschen von den Armeniern zu trennen und sie mehr auf der Mitte des ihnen zugemessenen Kronslandes, in dem Dorfe Glinnoi, 10 Werst von Grigoriopol anzusiedeln. Die Moldowaner dagegen wurden aus Glinnoi nach Grigoriopol in die dortigen Wohnungen der Deutschen versetzt.
Der damalige Fürsorger der Deutschen, der nachmalige Staatsrath Herr von Rosenkampf, soll zu den Deutschen nach der Umsiedlung gesagt haben: „Das ist euer Glück, daß ihr hierher verpflanzt worden seid !“ Daraus nahm er Veranlassung, die Kolonie „Glücksthal“ zu benennen, welcher Name auch von der hohen Regierung bestätigt wurde.
Ursprünglich bestand die Kolonie aus 125 Familien, worunter 67 aus Württemberg, 27 aus Ungarn, 10 aus Elsaß, 9 aus Baden, 3 aus der Pfalz, 3 aus Sachsen, 2 aus Preußen, 2 aus Hessen, 1 aus öster. Galizien und 1 aus Italien war. Weil die meisten der Ansiedler Schwaben waren, darum hat sich wohl auch der schwäbische Dialekt bei den Nachkommen vorherrschend erhalten. Der Confession nach waren die meisten evangelisch-lutherisch und nur ein kleiner Theil evangelisch-reformirt.
Glücksthal war, weil früher Moldowanerdorf, unregelmäßig angelegt. Die Hütten oder Semljanken enge und unbequem! Darum ging man ungesäumt an eine planmäßige Anlage der Haus- und Hofpläge. Sobald es den Ansiedlern möglich war, wurden neue Häuser mit je 2 Zimmern und 1 Küche erbaut, meist aus getrockneten Erdziegeln. Diese mußten in späterer Zeit wieder größeren Häusern von gutem Bruchstein weichen. Die ganze Ansiedlung bestand anfänglich aus 122 Wirthschaften mit 125 Familien, bestehend aus 618 Seelen, aus denen heute nach über 90 Jahren 2243 Seelen geworden sind, abgerechnet die Vielen, welchen im Laufe der Zeit von hier wieder fortzogen teils in andere Gegenden Rußlands, theils nach Nordamerika. Das der Colonie Glücksthal zugeteilte Kronsland bestand aus 7034 Dess. 2147 Faden, zumeist unebenes Land, von Höhen und Niederungen durchzogen. Es besteht größtentheils aus einer ca. 2 Fuß tiefen Schicht guter Schwarzerde mit einer Unterlage von Lehm, Sand und Steingrund. An den im Tschornenker Thale hinziehenden steilen Abhängen liefert eine Reihe von Steinbrüchen jetzt eine Masse von Bausteinen für die Colonien Glücksthal, Neudorf und Bergdorf.
Das winzige Flüßchen im Tschornenker Thale fließt aus Quellen und Regenwasser zusammen und kann zuweilen bei starken Regengüssen wild und reißend werden, ist aber in der heißen Sommerszeit zumeist ohne Wasser. Was nun den Anbau der hiesigen Steppen betrifft, so gedeiht auf denselben am besten der Sommer- und Winterweizen, auch Roggen, Gerste, Hafer, Kartoffeln und namentlich der Mais, der zuzeiten das halbe Brod der Kolonisten ist.
Die Abhänge an den hiesigen Seitenthälern eignen sich sehr gut für den Weinbau und sind deßhalb auch von den ersten Ansiedlern schon mit Weinreben bepflanzt worden. Schon im Jahre 1848 waren 192 Dessiatinen mit 465,440 Rebstöcken bepflanzt. Der hiesige Boden liefert, wenn man anders die Weintrauben gehörig ausreifen läßt, einen guten und haltbaren Wein von ziemlicher Stärke.
Nördlich von der Kolonie, einige Werst entfernt, sind ca. 60 Dessiatinen mit Wald bestanden, in welchem zumeist Eichbäume wachsen, die aber kaum 20 Fuß Höhe und 1 Fuß Dicke im Durchmesser erreichen, und höchstens zu Brennholz benügt werden können. Leider sind die hiesigen kleinen Waldungen in einem so vernachlässigten Zustande, daß man wohl jene Zeichnung eines Schülers von einigen verkümmerten Baumgruppen, worunter er schrieb: „Das soll Wald sein!“ darauf anwenden könnte.
Ganz ähnlich sieht es heutzutage mit den Obstgärten in der Kolonie aus. Da finden sich nur noch kümmerliche Ueberreste von den früheren schönen Baumanlagen. Ums Jahr 1848 sollen im Ganzen 30,479 edle Obstbäume rings um die Kolonie gestanden haben. Da aber die Bäume im Allgemeinen wegen der zu großen Trockenheit des Bodens kein hohes Alter erreichen und die Baumfrüchte sehr viel zu leiden haben von allerlei Räubern, geflügelten und ungeflügelten, kriechenden und gehenden, zweibeinigen und vierbeinigen, so ist die Obstzucht heutzutage beinahe eingegangen und die Leute kaufen ihr Obst lieber um billiges Geld oder gegen Tauschhandel von den Moldawanern, welche dasselbe massenweise aus den Gärten des Dniestrthales in die Kolonie zum Verkauf bringen.

In dem sogenannten Tschornenker Thale sind ursprünglich schon von dem Fürsorgekomite 500 Dessiatinen Weideland zu einer Schäferei für die Glücksthaler Wolost abgemessen worden: Hier entspringen ein paar schöne Quellen, welche den Schafen und dem Rindvieh gutes und reichliches Wasser bieten, und die deßhalb schon 1846 in eine künstliche Wasserleitung zusammengefaßt wurden. Diese laufenden Rohrbrunnen im Tschornenker Thale gehören zu dem Schönsten und Angenehmsten in der heißen Sommerzeit für Menschen und Vieh.
Dieses Schäfereiland hat durch jährliche Verpachtung schon ein solches Kapital eingebracht, daß vor etlichen Jahren für die Landlosen der Glücksthaler Wolost ein gutes Stück Ackerland ca. 800 Dessiatinen von der Wolostverwaltung angekauft und bezahlt werden konnte. Dieses Land, 14 W. nördlich von Glücksthal, neben dem Reimarowker Gutslande gelegen, ist bereits von 30 Familien armer Landloser aus dem Glücksthaler Gebiete besiedelt und diese junge Ansiedlung soll Kleinglücksthal benannt werden.
II.
Bemerkenswerthe Ereignisse im sozialen und religiösen Leben der Ansiedler.
Aller Anfang ist schwer“! Die Wahrheit dieses bekannten Sprichworts erfuhren auch die hiesigen Ansiedler. Nicht nur diejenigen, welche als Handwerker ins Land gekommen und des Landbaues ganz und gar unkundig waren, sondern auch die Kleinbauern aus Deutschland mußten nach der Ansiedlung, weil der hiesigen Landbauverhältnisse nicht kundig, Jahre lang theures Lehrgeld bezahlen. Der hiesige Ackerboden erforderte einen ganz anderen Betrieb als der Boden in Deutschland. Dort giebt es regelmäßige, oft nur zu häufige Niederschläge wegen der viel stärkeren Bewaldung des Landes. Hier in Südrußland fehlt es im Allgemeinen sehr an Niederschlägen wegen der Entwaldung der hiesigen Gegenden. Darum erfordert der hiesige Landbau auch andere Maßnahmen als die Ansiedler von ihrer früheren Heimat aus gewohnt waren. Zwar ursprünglich trug der jungfräuliche gute Boden im Allgemeinen reiche Ernten auch bei schwachen Niederschlägen. Aber es kam anders. Die Kraft des Bodens wurde allmählich erschöpft durch fortwährenden Anbau von Halmfrüchten. Deßhalb mußte man endlich an eine Abwechselung in der Saat und an das Brachen denken. Teils durch den Anbau von Hackfrüchten und teils durch das Brachen abgebauter Felder kann dem Boden seine Kraft einigermaßen wieder zurückgegeben werden. Das müssen die hiesigen Ansiedler allmählich lernen. Auch durch bessere Pflüge neueren Systems, durch Säemaschinen, Mähmaschinen, Dreschmaschinen und dgl., wie solche auch hier schon häufig in Anwendung gebracht werden, gewinnt der hiesige Ansiedler mehr Zeit und mehr Einsicht in eine rationellere Bewirthschaftung des Bodens. So ist denn auch das theure Lehrgeld, welches die Väter Anfangs bezahlen mußten, an den Kindern und Nachkommen nicht ganz verloren gegangen.
Freilich durch die starke Vermehrung der Kolonisten sind die Landanteile immer kleiner und kleiner geworden. Es gibt heutzutage wenig ganze Wirthschaften mehr mit 60 Dess. Land, meist nur halbe, ja zum Theil 1/4 und 1/8 Wirtschaften gibt es genug und mehr als genug. Wenn bei solchen kleinen Landparzellen der Bauer nicht rationell zu wirthschaften versteht, so nährt ihn sein Land nicht mehr. Er muß entweder Industrie treiben, Handwerke lernen um sich davon zu nähren oder aber auswandern und sich in fremden Ländern oder Weltteilen eine neue Eristenz gründen. Beides ist von hier aus schon geschehen. In Glücksthal ist namentlich die Wagenbauerei früher schon als Gewerbe sehr stark betrieben worden. Mancher hat sich dadurch ein schönes Stück Geld und Brot verdienen können. So finden sich heute noch viele Schmieden und Stellmachereien im Dorf. Aber seit so viele Russen und Moldawaner dasselbe Gewerbe treiben und billiger, wenn auch nicht besser, arbeiten, wird hier mit diesem Geschäft wenig mehr verdient. Von andern Gewerben wollen die hiesigen Deutschen wenig oder nichts wissen. Auch scheint das Handwerk hier nicht den goldenen Boden zu haben, von dem das Sprüchwort sagt, weil die Kunden zu wenig an baare Bezahlung gewöhnt sind und die Handwerker deßhalb oft genötigt sind, das erforderliche Material zum Betriebe ihres Geschäfts als Holz, Eisen, Kohle, Leder etc. auf Kredit zu kaufen. So gerathen sie in Schulden und das Handwerk muß ihnen auf diese Weise entleidet werden.
Wer hier sein Brot nicht mehr findet durch Landbau oder Gewerbe, der zieht es vor, wenn er irgend das Vermögen dazu hat, nach Amerika oder auch neuerdings nach Sibirien auszuwandern, wo man entweder noch unentgeltlich oder um geringen Preis sich Land erwerben kann. So sind von Glücksthal und den nachbarlichen Kolonien schon so viele weggezogen, daß man von den Ausgewanderten sicher je 2 solcher Dörfer bilden könnte wie Glücksthal, Neudorf oder Bergdorf.
In Bezug auf Kirche und Schule und auf das religiöse Leben in der Gemeinde sind Fortschritte gegen früher unverkennbar, wenn gleich andrerseits über sittlichen und moralischen Verfall namentlich des jüngeren Geschlechts sehr geklagt werden muß. Glücksthal ist ja gleich Anfangs zu einem eigenen Kirchspiel creirt worden. Von den zwanziger Jahren an waren hier ohne allzu lange Vacanzen stets Prediger gewesen, welche sich das religiöse und geistliche Wohl und Heil der Gemeinden am Herzen gelegen sein ließen und Gottes Wort lauter unb rein verkündigt haben. Unter ihnen ist namentlich Pastor Fr. Pensel, der von 1830 bis 1848 im Segen hier gewirkt hat, bis heute unvergessen.
Leider hat in den fünfziger Jahren der Streit zwischen Lutheranern und Reformirten das Glücksthaler Kirchspiel ziemlich aufgeregt und damals bis zu einer Trennung beider Confessionen in ein evangelisch-lutherisches Kirchspiel Glücksthal und ein evangelisch-reformirtes Kirchspiel Neudorf-Cassel geführt. Diese Trennung verursachte viele Kosten, da beide Gemeinden in dem Filial-Neudorf besondere Bauten aufführen und von da an besondere Küsterlehrer und Prediger besolden mußten. Heutzutage ist wieder mehr Friede und Einigkeit zwischen diesen beiden Gemeinden eingetreten und sie können sich im Frieden nebeneinander erbauen, da jede Gemeinde ihre gesonderte Kirchen- und Schulverwaltung hat.
Im Schulwesen hat Glücksthal gegen früher recht ansehnliche Fortschritte gemacht. Wo noch in den vierziger Jahren nur ein kleines Schulhäuschen mit 1 Schulsaal und einer Lehrerwohnung war, da erhebt sich jetzt neben der Kirche fast dicht neben der Hauptstraße des Dorfes ein neues steinernes Schulgebäude mit 4 Unterrichtssälen nach den neueren hygienischen und Schulregeln erbaut und eingerichtet. Daneben steht im Schulhof eine Küsterwohnung und nicht weit entfernt hat die Gemeinde noch 2 Wohnungen für 2 russische Lehrer. So wird die Schule gegenwärtig in 4 Abteilungen von 1 Küster, 1 Küstergehilfen und 2 russischen Lehrern regelmäßig bedient. Es könnten also bei solch guter Einrichtung ganz günstige Resultate während einer 7-8 jährigen Schulzeit erzielt werden, wenn nicht immerfort über zu mangelhaften Schulbesuch und zu lange Vacanzen geklagt werden müßte. Vielleicht wird die höhere Schulbehörde in diesem Stück noch Rath und Hilfe zu schaffen wissen.
Endlich muß noch auf einen erfreulichen Fortschritt im bürgerlichen Leben der Gemeinde, namentlich hinsichtlich der Wolostverwaltung hingewiesen werden, der dadurch erzielt wurde, daß an Stelle des alten unbrauchbar gewordenen Wolostgebäudes ein neues, schönes und praktisch eingerichtetes Wolostgebäude vor 4 Jahren errichtet und eingeweiht wurde.
So zieren nun 4 Hauptgebäude: Kirche, Pastorat, Schule und Wolostgebäude, welche im Centrum des Dorfes liegen und mit Blech gedeckt sind, die Kolonie. Sie weisen darauf hin, daß Kirche, Schule und bürgerliche Verwaltung hier gleicherweise ihren Siz haben und, Gott sei Dank! auch in Eintracht und Liebe zusammenzuwirken zum geistlichen und leiblichen Wohl der Gemeinde Glücksthal. Dazu helfe Gott in Gnaden!

- Artikel im Original entnommen dem: Hausfreund, Kalender für Neu-Rußland. Begründet 1892 von Kanonikus Rudolf Reichert. Herausgeber und Verleger: Edmund Schmidt; Druck von A. Schultze, Odessa. 1901 p. 101-106 ↩︎