Vor langer – langer Zeit, als es auf der Welt noch Zauberer und Zauberinnen gab, lebten in einem Königreich ein König und eine Königin. Und sie hatten eine Tochter Marianna. Sie war sehr schön und stolz.

Eines Tages kam in dieses Königsreich die Zauberin Amalteja zu Besuch. Sie wanderte durch die ganze Welt und jeder bekam von ihr, was er verdient hatte: Für gute Taten wurde man belohnt, für böse – bestraft. Sie machte es gewöhnlich so: Sie kam in einen Ort als alte buckelige Frau und Bettlerin. Jeder, der ihr bereit war zu helfen, der wurde reich belohnt, mit etwas, was man nicht für Geld kaufen konnte. Eheleute, die sich sehr lange ein Kind gewünscht hatten, bekamen es plötzlich, Behinderte, Taube oder Stumme wurden wieder gesund. 

Wer aber geizig und gierig war, wurde von Amalteja sofort in etwas verwandelt, was ihr als Erstes vor die Augen kam.

So geschah es auch dieses Mal, als sie das Königreich besuchte, wo die schöne Prinzessin Marianne lebte. Die Schöne spazierte gerade durch den Garten, als die Zauberin als alte Bettlerin verkleidet auf sie zukam und bat ihr Wasser zu geben, um ihren Durst zu stillen. Die Prinzessin schaute sie herablassend an und wollte sich einfach abwenden und weiter gehen, aber die Alte wiederholte ihre Bitte: „Gib mir wenigstens einen kleinen Becher mit Wasser. Ich habe solchen Durst!“ Die stolze Prinzessin antwortete: „Wasche und kämme dich erst, du alte Bettlerin, und dann bekommst du Wasser von mir!“

Amalthea war sehr wütend, aber ließ es sich nicht anmerken. Nur ihre Augen wurden etwas dunkler.

Die Prinzessin merkte es nicht, weil sie überhaupt den Gefühlen anderer Menschen wenig Aufmerksamkeit schenkte. Die

Zauberin sah sich um, fand erst nichts, aber dann fiel ihr Blick auf eine Taube mit einem Strohhalm im Schnabel, die gerade vorbeiflog.

„Verwandele dich in eine weiße Taube“, rief die Alte laut und fuhr fort mit ihrer Verwünschung: „Du sollst jeden Tag immer dasselbe machen, nämlich frische Strohhalme in dein Nest bringen. Es soll so lange dauern, bis eines Tages in dein Nest das Glück kommt. Wenn es nicht passiert, bleibst du für immer eine weiße Taube!“

Mit ihrem letzten Wort verwandelte sich die Prinzessin in eine Taube und die Zauberin in eine wunderschöne junge Frau. Sie sah ruhig der weg fliegenden Taube hinterher, die einige Kreise über den Garten und das Königreich flog und in der blauen Ferne verschwand.

Hat der Wind sie so weit gebracht oder hatte sie selbst etwas gesucht, aber sie landete in einem kleinen Dorf auf dem Dach eines kleinen Hauses am Ende der Dorfstraße. Nebenan war ein weites Weizenfeld mit schon reifem Korn.

Die Taube sah sich um, fand ein schönes Plätzchen unter dem Dach des gemütlichen Hauses und begann Strohhalme für das Nest zusammenzutragen. Jeden Tag brachte sie ins Nest frische Strohhalme in der Hoffnung irgendwann ihr Glück zu finden.

So verging ein Jahr. Die Zauberin Amalteja war wieder unterwegs. Diesmal beschloss sie das Königreich der Sieben Seen zu besuchen. Es befand sich in der Nachbarschaft zum Königreich, aus dem die Prinzessin Marianne stammte.

Die Arme war als weiße Taube ins Nachbarland geflogen und ihre Eltern waren sehr traurig und unglücklich. Sie konnten nicht verstehen, wohin und warum die Prinzessin plötzlich verschwunden war. Auch im Nachbarland gab es Trauer, weil der dortige Prinz Marcel sich in Marianne verliebt hatte. Der Königssohn dachte oft daran, wie er sie das erste Mal im Garten zwischen blühenden Sträuchern und Obstbäumen gesehen hatte und ihr entgegeneilte. Als er näher kam, sah er nur eine alte Bettlerin in schwarzen Lumpen. Seine Augen wurden dunkel vor Enttäuschung und Wut. Die alte Zauberin streckte ihm seine Hand entgegen und bat ihr ein Stückchen Brot zu geben.

„Wer hat dich hier hereingelassen?!“, rief der Prinz empört. „Weg mit dir, du alte Bettlerin, sonst werde ich die bösen Königshunde auf dich loslassen!“

In den Augen der Alten blitzen rote Funken auf, sie schaute sich um und sah nur einen verwelkten gelben Strohhalm auf dem Gartenweg liegen. Sie rief laut: „Du sollst dich in einen elenden Strohhalm verwandeln und so lange hier herumliegen, bis die Prinzessin Weiße Taube dich findet. Nur sie kann dich retten!“

Mit diesen Worten verließ die alte Zauberin das Königreich der Sieben Seen und keiner hatte sie dort je mehr gesehen.

Der Prinz lag lange als Strohhalm auf dem Gartenweg, dann wurde er vom Wind immer weiter getrieben. Als der Wind stärker wurde, hob er ihn in die Luft und wirbelte ihn hoch in die Berge. Dort landete er im Nest eines Adlers. Nur blieb er nicht lange dort haften. Der Wind schleuderte ihn herunter auf ein großes Feld mit frisch gemähtem Gras. Es duftete angenehm, bis es nicht ganz vertrocknet und gelb wurde wie der in einen Strohhalm verwandelte Prinz.

Bald kamen Bauern aufs Feld, die das Stroh zusammen mit dem Strohprinzen auf einen Wagen luden und ins Dorf brachten. Mit den Strohgarben deckten sie das Dach. So kam der Prinz aufs Dach.

Unter dem Dach saß die weiße Taube und weinte bitter. Sie sah in den Himmel und bat um Verzeihung, dass sie einmal die arme alte Frau beleidigt hatte, die nur nach Wasser gefragt hatte. Die in eine Taube verwandelte Prinzessin dachte, dass vielleicht der Wind ihr das Glück ins Nest hereinwehen konnte, wusste aber nicht, wie es sein würde. Sie weinte so lange, bis ihr Nest ganz feucht wurde. Dann beruhigte sie sich und flog wieder aufs Feld, um Strohhalme zu sammeln. Langsam verwandelte der Tag sich in die Nacht. Es war schon fast dunkel, als die Prinzessin Weiße Taube mit ihrem Schnabel den letzten Strohhalm schnappte und zu ihrem Nest flog. Sie fand für ihn ein Plätzchen unten in der Mitte und machte sich im Nest bequem. Wie immer begann sie dieselben Worte wie ein Gebet vor dem Schlaf zu wiederholen: „Wenn ich irgendwann wieder eine Prinzessin oder Königin werden sollte, wird mein Schloss von früh bis spät für alle Armen und Unglücklichen offen sein.“

Plötzlich hörte sie, dass jemand ihre Worte ganz leise wiederholte. Sie hörte aufmerksam zu und begriff, dass sie von einem Strohhalm kamen. Sie nahm ihn ganz vorsichtig und zart in den Schnabel und plötzlich passierte ein Wunder:  Der Zauber war gebrochen und eine unsichtbare Kraft brachte sie beide nach Hause – jeden in sein Königreich.

Als der Prinz in seinem Garen landete, ging er sofort zu Fuß ins Nachbarland, wo die Prinzessin lebte. Er fand sie auf derselben Stelle, wo sie damals der alten Zauberin Amalthea begegnet war.

So kam endlich wieder das lang ersehnte Glück ins Haus. Die Prinzessin und der Prinz heirateten und lebten lange und glücklich. Ihr Schloss war offen und gastfreundlich für alle Hilfsbedürftigen. Weit über ihr Reich verbreitete sich die Kunde über die Güte des jungen Königspaars. Ihrem Beispiel folgend, baute man Heime für Waisenkinder und alte, einsame Menschen.

Natürlich sind die Prinzessin Taube und der Prinz Strohhalm lange nicht mehr auf dieser Welt, aber sie sind nicht vergessen worden. Weil Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft die wunderbarsten Eigenschaften des Menschen sind.

Das Märchen ist zu Ende, aber der Leser und der Hörer können sich das alles noch einmal ruhig durch den Kopf gehen lassen.

Autor: Alexander Weiz

Titelbild: Jutta Rzadkowski

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