Ein Märchen von Alexander Weiz
Vor langer – langer Zeit lebte auf der Welt ein Edelhirsch, den das einfache Volk „ein Hirsch mit reiner Seele“ nannte. Die Reichen nannten ihn „strahlender Goldhirsch“, weil er einer Sage nach, den Weg zum Reichtum zeigen konnte.
Die Reichen wollten ihn daher unbedingt fangen und einsperren. Sie wollten, dass er alle ihre Wünsche erfüllte. Der Edelhirsch versteckte sich vor bösen und gierigen Menschen in den Tiefen der dunklen Wälder, weit weg von Menschenaugen. Nur selten konnten die Menschen sehen, wie sein Geweih in der Sonne glänzte und Lichtfunken verbreitete. Es waren die sich widerspiegelnden Sonnenstrahlen, die durch seinen Glanz noch hundertmal stärker wirkten.
Die Menschen, geblendet von diesem Glanz, konnten nicht sehen, ob er weit oder nah war und ob man ihn fangen konnte. Der Hirsch spürte aus Entfernung, ob von den Menschen Böses oder Gutes zu erwarten sei. Auf die Menschen ohne böse Absichten ging er manchmal von sich aus zu und erlaubte ihnen sogar ihn zu streicheln.
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weidete er in der Nähe von einfachen Menschen. Sie bestellten ihre Felder oder sammelten Brennmaterial im Wald und erfreuten sich seines Anblickes. Wenn es jemandem nicht gut ging, halfen sie gern.
Auf die Reichen wirkte der goldene Schein des Edelhirsches ganz anders. Sie wollten den „strahlenden Goldhirsch“ unbedingt besitzen und einfangen – koste es was es wolle.
Einmal verirrte sich ein armer Junge beim Sonnenaufgang im Wald, als die ersten Sonnenstrahlen seine Weiten streiften und Sonnenhäschen über das schöne Geweih des Hirsches hin und her sprangen. Plötzlich hörte er hinter dem dichten Gebüsch laute Geräusche von knackenden Zweigen. Es war der Edelhirsch, der auf ihn zukam. Der schöne Waldbewohner nickte mit seinem stolz erhobenen Haupt, als ob er ihn begrüßen wollte. Er kam noch näher und leckte die Hand des verzweifelt weinenden Jungen. Er umarmte den Edelhirsch und streichelte ihn. Er war sicher, dass er jetzt gerettet wird.
Doch dann hörte er Menschenstimmen und Hundegebell. Es könnte nur eine Hundemeute von sehr reichen Menschen sein. Der Hirsch zuckte und verschwand im nächsten Augenblick in der Tiefe des Waldes. Der Junge kniete nieder und begann zu beten: „Lieber Gott, hilf dem guten Hirsch. Soll er doch aussehen wie ein gewöhnlicher scheckiger Hirsch, damit die Reichen aufhören ihn zu jagen, um ihn in einen Käfig einzusperren. Soll er frei in seinem Wald leben und keine Angst vor der Gier böser Leute haben.“
Er betete so in brünstig, dass sein Gebet erhört wurde. In diesem Moment hatte der Edelhirsch weiße Flecken auf seinem Rücken bekommen und von seinem Geweih, Ohren und Körper verschwand der goldene Glanz. Die Menschen hatten bald seinen früheren Namen vergessen.
Seit jener Zeit konnte der Edelhirsch sein eigenes Hirschleben führen. Man konnte ihn oft auf einer Waldlichtung oder am Waldrand sehen. Er war ein sehr schneller Läufer und sobald er seine Feinde bemerkte, lief er in Windeseile weg. Nur seine weißen Flecken konnte man noch kurze Zeit zwischen den Bäumen erkennen. Es war auch ein Signal für andere Hirsche, dass ihnen eine Gefahr drohte. Die Menschen konnten dann den graziösen Lauf der schönen Waldbewohner beobachten. Seitdem sind im Volk viele Sagen und Märchen, Erzählungen und Gedichte entstanden und viele Bilder wurden von dem ungewöhnlichen scheckigen Edelhirsch gemalt.

Autor: Alexander Weiz
Titelbild: Jutta Rzadkowski
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