Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) lebten in Pirmasens 59 Familien mit rund 235 Einwohnern. Als im Jahre 1622 Spanier und kroatische Reiter der kaiserlichen Truppen durch die Pfalz zogen, litt die Bevölkerung unter den Lasten der erzwungenen Einquartierungen. Die Truppen nahmen alles mit, was in irgendeiner Weise brauchbar war, von den wenigen Nahrungsmitteln in den Vorratskammern, über Vieh, Pferde, Wagen. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, die Männer malträtiert, und wenn es nichts mehr zu holen gab, folgten Brandschatzung.
Daher setzten sich die Pirmasenser Bürger Hanß Seegmüller, Johannes Krämer, Hans Krämer und Jacob Jost gegen die einfallenden Soldaten zur Wehr und töten vier von ihnen, weshalb das Dorf aus Rache von den Soldaten in Brand gesetzt wurde.
Die vier wurden gefangen genommen und nach Buchsweiler geschafft, um sie der Gerichtsbarkeit zu überstellen. Üblicherweise war eine öffentliche Hinrichtung ein Volksspektakel, häufig in Verbindung mit Jahrmärkten, um eine hohe Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen.
Grausamkeiten sorgten bei Hinrichtungen für ein Exempel und waren an der Tagesordnung, so wurden die vier Delinquenten nach Verhör und Geständnis zum Rad und Verbrennen verurteilt.
Dieser Tod war wenig ehrenvoll, mit gebrochenen Gliedern auf dem Rad den Flammen übergeben zu werden. Daher baten die vier Pirmasenser um Gnade und Ehre für ihre Familien, das Schwert galt als ehrenvoll, würde ihren Namen nicht beschmutzen, weshalb die Art ihres Todes äußerst wichtig war. Dieser Bitte wurde nachgegeben und so traten sie am 8. Oktober 1622 den Weg zum östlichen Gipfel des Bastberges, dem Galgenberg, an.
Man brachte die Gefangen meist mit dem Wagen von Buchsweiler in das Dorf Imbsheim, dort wurden sie mit Ketten gebunden und vor dem Rathaus an den Pranger gestellt. Anschließen führte man sie zur Richtstätte. Der Weg auf den Galgenberg hieß der Urteilsweg. Nach der Hinrichtung versammelten sich die Richter in einem Hause nahe bei der Ratsstube und nahmen einen Imbiss ein. Daher soll nach alter Überlieferung der Name Imbsheim kommen.1
Der Scharfrichter waltete seines Amtes und beförderte die Männer vom Leben zum Tode. Der Pfarrer, welcher offensichtlich ein Verständnis für die Tat hatte, beerdigte alle auf dem Kirchfriedhof in Buchsweiler, nicht, wie es zumeist geschah, außerhalb der Friedhofsmauern, oder, was häufiger geschah, auf dem Galgenberg.
freitags d 4. 8tbris, Wurd alhir vff d kirchoff begrab, Hanß Segmüller, Johann Krämer, Krämer Hanß, Vnd Jacobs Jost, alle 4. Burger Zu Pirmensensß, Lemburger Ampts, so mit dee Schwerd gricht Word, weil sie in Ihrem Dorff, 4. Keyserliche Soltat erschoß Vnd Vmbgebracht.
Freitags d. 4. 8tbris, 1622. Wurd nachfolgende Vier Perßonas, Hanß Seegmüller, Johannes Krämer, Krämer Hanß, Vnd Jacobs Jost, alle Bürger von Pirmensenß, Lemburger Ampts, weil sie in Ihre Dorff, 4. kayserliche Soldat wehrlos gemacht, erschoß vnd erschlagen. Vnd nachgehends darauf, ds Dorff, Von der kayserlichen Armada teils in Brandt gestecket word, mit Vrtheil Vnd recht, Zum rad Vnd feuer erkandt, nachgehends aber, vff Ihr Demütige Bitt mit dem Schwerdt gericht, Vnd vff d Kirchoff alhir begrab, sind alle Christlich Vnd standhaft gestorb. Gott Verleihe Ihnen ein fröhliche Aufferstehung. Amen.
Der Krieg unterdessen brachte weiteren Plünderungen und Brandschatzungen, so lebten 1657 noch 40 Einwohner in Pirmasens.
Hanß Seegmüller starb, jedoch wissen wir von drei Kindern, Arbogast (um 1603-9.3.1683), Georg (* um 1608) und Eva (* um 1610).
Auf der linken Seite ist die Nachkommenschaft des Arbogast, diese geht in die Littig über und zur Baroness von Gottesheim. Auf der rechten Seite die Nachkommenschaft von Eva, welche in der Linie der Käfer mündet. Beide Familien werden wir als Einwanderer in Taurien wiederfinden.
Schwester Eva war verehelicht mit Nicolaus Claß (um 1601-19.12.1666), beide lebten ebenfalls noch in Pirmasens, hier war er 15 Jahre der Glöckner der Kirche.
Die Nachkommen verteilten sich bereits in die umliegenden Dörfer, hier hell markiert:
Die Zeiten werden nicht leichter, als sich am 23. Juni 1783 ein acht Monate anhaltender Ausbruch von Vulkanen auf Island mit extremen Frostperioden in Europa ereignete. Infolgedessen trafen extreme Schneeschmelzen, massive Hochwasser und Zerstörungen im Februar 1784 ganz Europa.
Kälte und wechselhaftes Wetter hielten an und gipfelten, bedingt durch Missernten 1788, in einer extremen Teuerungskrise und Hungersnot, in deren Folge die Französische Revolution (1789–1799) ausbrach und sich ausbreitete, auch alle linksrheinischen Gebiete erreichte.
Für die leidgeprüfte Bevölkerung gab es erhebliche Umwälzungen. Aufgrund der Einführung des französischen Kalenders entfielen die Sonn- und Feiertage, ebenso alle kirchlichen Feste. Jede Art von Gottesdienst außerhalb der Kirchen wurde bei einer Geldstrafe von 500 Lire und einer Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren verboten. Kein Geistlicher durfte bei Beerdigungen im Talar oder priesterlichen Gewand erscheinen, sondern musste bürgerliche Kleidung tragen. Die Toten mussten ohne Glockengeläut und ohne Segen der Erde übergeben werden.2 Die Bevölkerung, komplett ausgeplündert von Steuern, musste den verpflichtend eingeführten Militärdienst leisten, Französische wurde Amtssprache.
Wenngleich die bisherige Leibeigenschaft aufgehoben wurde, freier wurden die Menschen unter der französischen Regierung nicht, weshalb sich viele zur Auswanderung entschieden, in der Hoffnung, im Ausland ein besseres Leben zu finden.
Die Namen Rink (auch Rinck) und Wagner sind mit der Historie Odessas eng verbunden. Daher möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Überblick zur Familie geben.
Das „Englische Geschäft“ ist ein bis heute prägendes Gebäude der Stadt.
Wagner Geschäftshaus, 1899, Ecke Deribasovskaya- und Ekaterininskaya-Straße, alte Ansicht von Odessa1
Der württembergische Untertan Friedrich Wilhelm Wagner (12. September 1802, Dornhan – 10. Oktober 1882, Odessa) wanderte mit seinem Vater Joseph Wilhelm (*18. August 1782) nach Odessa aus und machte zunächst eine Ausbildung bei dem Kaufmann James Cortazzi (*1798, Smyrna/Türkei).2
James Cortazzi war der Sohn des venezianischen Konsuls in Smyrna, Luc Tricon Cortazzi (*1766 Smyrna) und der Elizabeth Hayes (1768, Izmir/Türkei–1847, Odessa), Tochter des britischen Konsuls.3 Er leitete das englische Handelsgeschäft der Familie Cortazzi in Odessa und war von 1848 bis 1857 Bürgermeister der Stadt.
Cortazzi war bei seinen europäischen Geschäftspartnern vor allem im Weizenhandel ein hochumstrittener Handelspartner, der jedoch bestens vernetzt war und in Odessa über viel Einfluss und entsprechende Kontakte verfügte.4
Warum dieses Geschäft in den Besitz von Wagner kam, ist unklar, sicher ist, Gründungsdatum des Handelshauses Wagner war der 1. März 1833. Wilhelm Wagner handelte unter anderem mit Maschinen, Galanterie- und Manufakturwaren.
Anzeige in: Neuer Haus- und Landwirtschaftskalender für deutsche Ansiedler im südlichen Russland auf das Schaltjahr 1884, L. Nitzsche Odessa. p. 102, digitalisiert Taurien e.V.
Von 1863 bis 1873 war er Mitglied der Stadtduma von Odessa aus der Kaufmannsklasse, Kaufmann der 1. Gilde und vererbte das Geschäft an seinen Schwiegersohn Karl Jakovlevic Rink-Wagner. Dieser nahm mit der Eheschließung den Nachnamen Rink-Wagner an. Helene Wagner, die am 14. April 1906 in Berlin-Schöneberg starb, war die Tochter des Wilhelm Wagner und der Katharina geborene Stigler (1821–1901).
Helene Rink-Wagner, Sterberegister Standesamt Berlin-Schöneberg 1906
Karl Rink-Wagner besaß im Laufe der Jahre neben dem Handelshaus mehreren Häusern in Odessa und eine große „Datscha“ in der Wagnerovsky-Gasse.5 Dieser Besitz wurde unter seinen Erben aufgeteilt, nachdem er im Alter von 66 Jahren am 27. Mai 1895 gestorben war.
Zu diesen Erben gehörten Karl Wilhelm (30. Juli 1868, Odessa – 26. Dezember 1954, Freiburg im Breisgau), ebenfalls Gallanteriewarenhändler. Er war seit Anfang 1893 mit Gertrud Clay (*1868), Tochter des Baumwollhändlers Thomas Campbell Clay aus Wavertree, Lancashire/England verheiratet, in zweiter Ehe mit Amalie Henriette Else Zumpft (1884–1954), Tochter des Kaufmannes Robert Zumpft;
Eduard Wilhelm Wagner (*20. Dezember 1873), der mit seinem Bruder Karl Wilhelm K. Rink-Wagner u. Eduard Wilhelm Rink-Wagner u. Co. Galanteriewaren führte;
Emilie Caroline Magdalena Wagner (15. September 1877, Odessa), verheiratet mit Karl Förster (*1867);
Richard Wilhelm Carl Wagner (26. Dezember 1880, Odessa);
und Helene Katharina Henriette Rink-Wagner (21. Juni 1871, Odessa – 28. Oktober 1961, Odessa), Frau des Professors Dr. med. Nikolaus Käfer (24.1.1864, Neumontal – 28.12.1944, Odessa). Beide heirateten am 25. Juli 1897 in Odessa.
Nach der Befreiung Odessas am 10. April 1944 wurden Professor Dr. med. Käfer und seine Frau verhafteten und in das örtliche Gefängnis überstellt. Unter den extremen Haftbedingungen verschlechterte sich seine Gesundheit rapide und man entließ ihn zum Sterben († 28. Dezember 1944), Helene musste im Gefängnis bleiben und wurde erst nach seinem Tod am 3. Februar 1945 unter Auflagen entlassen. Sie verstarb am 28. Oktober 1961 in Odessa, beide wurden auf dem 2. christlichen Friedhofs von Odessa, Abteilung 22, beigesetzt.
Ihre Kinder waren Prof. Ing. Woldemar (14. April 1898 – 22. August 1981), außerordentlicher Professor des Kältetechnikinstituts von Odessa.
Tochter Vera (12. November 1907 – 11. Mai 1991), verheiratet mit Boris Zozulewitsch (6. Januar 1910, Lodz – 8. März 1998, Moskau).
Sie studierte zunächst am chemisch-pharmazeutischen Institut in Odessa, arbeitete dann am Institut für Ernährung, wurde Assistentin der Abteilung für anorganische Chemie des medizinischen Instituts in Odessa und später war sie im klinischen Diagnoselabor des Instituts für Augenkrankheiten in Odessa tätig.6
Ihr ebenfalls in Odessa lebender Sohn Georgy Borisowitsch Zozulewitsch (29. Oktober 1941 – 19. Januar 2024) schrieb die Familiengeschichte Professor Käfers auf, sodass 2007 eine Veröffentlichung7 erfolgen konnte.
Der zweite Sohn Dr.-Ing. Boris Kaefer (*4. Juli 1902, Odessa), blieb bereits in den 1920ern in Deutschland und studierte an der Technischen Hochschule München.
Boris Kaefer : Beitrag zur Ermittlung der Eigenschwingungszahlen ebener und räumlicher Stabwerke. (Mit 22 Textabb.) Stuttgart 1935: A. Bonz‘ Erben (51 S.) 8° München (Techn. Hochschule), Dr. – Ing. – Diss.8
Im Jahre 1936 war er dann als Bauingenieur bei der Nord-Süd-Bau Bayern G.m.b.H für Siedlungs-, Hoch-, Tief und Eisenbetonbau (Rosenheim)9 tätig, ehe er in späteren Jahren eigene Bauunternehmung Dr.-Ing. Boris Kaefer KG gründete.
Sein Name ist aber auch eng mit dem Eishockeysport verbunden.
Seine Söhne Alexander „Sascha“ (1937–2019) und Jochen Nikolai (1939–2024) spielten in früher Jugend beim SC Riessersee. Nach ihrem Umzug nach Grafing bei München gründete die Familie Kaefer 1957 den EHC Klostersee, dem sie im Vorstand und bei der Vereinsarbeit treu blieben bis ins hohe Alter. Auch heute ist ein Kaefer aktiver Spieler.
Funfzig Jahre in beiden Hemisphären: Reminiscenzen aus d. Leben eines ehemaligen Kaufmannes, Band 2, von Vincent Nolte, Hamburg, Perthes-Besser & Mauke 1853, p. 311ff ↩︎
STAHL UND EISEN ZEITSCHRIFT FÜR DAS DEUTSCHE EISENHÜTTENWESEN Herausgegeben vom Verein deutscher Eisenhüttenleute Geleitet von Dr.-Ing. Dr. mont. E.h. O. Petersen unter verantwortlicher Mitarbeit von Dr. J.W. Reichert und Dr. W. Steinberg für den wirtschaftlichen Teil HEFT 49 5. DEZEMBER 1935 55. JAHRGANG, p.189 ↩︎
Tonindustrie-Zeitung: und Fachblatt der Zement-, Beton-, Gips-, Kalk- und Kunststeinindustrie, Band 60, Chemisches Laboratorium für Tonindustrie, 1936, p.859 ↩︎
Von zuverlässiger Seite wird uns hierzu geschrieben: „Die Hungersnot, die in diesem Jahre mehrere Gouvernements Rußlands betroffen hat, wütet am rasendsten im deutschen Gebiete an der Wolga. Im Herbst 1920 und im Frühjahr 1921 wurde ganz wenig ausgesät, wegen Mangel an Samen. Dazu gesellte sich in diesem Jahre noch die Dürre. Bis zum 15. Juni d. J. hat die Außerordentliche Kommission für Bekämpfung des Hungers festgestellt, daß 70 % der Aussaat verloren ist. Der andere Theil hätte bei günstiger Witterung noch 349 860 Pud geben können, was – auf eine 450 000 köpfige Bevölkerung verteilt 31 Pfund pro Seele im Jahr ausgemacht haben würde. Jedoch günstige Witterung ist nicht eingetreten, sodaß auch dieses Quantum nicht geerntet wurde. Bis zum 15.6. waren im deutschen Gebiete 30 000 (299 000) Hungernde, die Mehrzahl der Hungernden sind Bauern. Man lebt jetzt direkt vom Gemüse, wo solches vorhanden ist; die Mehrzahl nährt sich von Zieselmäusen, Pfiffern u.s.w. Hungernde Kinder laufen auf den Straßen umher und suchen verschiedene Abfälle auf, womit sie ihren Hunger stillen. In manchen Dörfern kommen täglich bis 20 Todesfälle durch Hunger vor, Zu diesem Uebel haben sich noch Cholera und Typhus eingestellt, die täglich reiche Ernte halten. Man verkauft alles, was sich verkaufen läßt, für Spottpreise, sogar ganze Gebäude mit Hof und allem möglichen werden für 15 Pud Korn verkauft, auch das alles, um nur irgendwie sein Leben zu fristen.
Verfallener Friedhof, am einsamen Ort, Nun geht der Pflug bald über dich fort. Noch hüllen mit traulichem Dämmerschein Die alten Linden dich friedlich ein. Verwitterte Steine nur ragen auf, Wo die Hügel versanken im Zeitenlauf. Und alles umwuchert Gras und Strauch, Und drüber weht des Vergessens Hauch. Ein einziges Grab ist an diesem Ort, Drauf blühen die Veilchen und Rosen noch fort. Wenn Lenzluft weht um dieses Grab, Wankt her ein Mütterlein am Stab. Sie trauert noch dem Einen nach, Der einst das junge Herz ihr brach.
Paul Barsch (1860 – 1931), schlesischer Mundartdichter
Kostiantyn Antonets beschäftigt sich schon länger mit der Entdeckung der Geschichte der ehemaligen deutschen Dörfer und stellte mir daher freundlicherweise seine Fotos zur Verfügung. Der Fund dieser alten Grabsteine erzählt uns die Geschichte des Missionars Wilhelm Heine (1833–1897), seines Sohnes Pastor Wilhelm Heine (1866–1938) und aller mit ihnen verbundenen Familien. Der Friedhof befindet sich auf dem ehemaligen Familienbesitz Federowka (Wesselyj Haj, Novomykolayivka, Zaporiz’ka, UKR).
Missionar Wilhelm Heine
Foto aus: Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909
Mitunter sind die Lebenswege eines Menschen ungewöhnlich, so auch im Falle des Carl Wilhelm Heine. Geboren am 12. Februar 1833 als Sohn des Schuhmachers Wilhelm Hein(e) (†1849) und seiner Frau Maria Schmidt (um 1805–1865) stammte er aus recht einfachen Verhältnissen. Seine väterlichen Vorfahren sollen aus Sachsen ausgewandert sein, vermutlich aus der Meißen, wie uns die Angabe im Sterbeeintrag des Schneiders Ludwig Hein(e) verrät, der als Pate wohl Bruder des Vaters war. Der Sterbeeintrag der Mutter Maria vermutete Bayern als ihre Herkunftsregion.
Geburt und Taufe im Kirchenbuch Molotschna 1833
Unter dem Einfluss des Pfarrers Eduard Wüst (1818–1859), der als Prediger der pietistischen Brüdergemeinde in Berdjansk wirkte, fühlte auch Wilhelm Heine eine religiöse Erweckung.
Pfarrer Eduard Wüst10
Wüst und seine Anhänger, darunter auch viele Mennoniten, verfolgten das Ziel, die Disziplin in den Kirchengemeinden und ihre eigene Frömmigkeit zu stärken, Wüst bekämpfte zudem sehr aktiv den weit verbreiteten Alkoholismus und Hexenglauben unter seinen Gemeindemitgliedern. Als Prediger der Ideen der pietistischen Erweckungsbewegung nahm er Kontakt zum Begründer der Bewegung der Jerusalemsfreunde, Christoph Hoffmann, auf.
Die strenge Bibelauslegung der Pietisten hatte allerdings zur Folge, dass aus der pietistischen Brüdergemeinde heraus durch unterschiedliche Auffassungen nicht nur die neue Separatistengemeinde, sondern auch die Hüpfer- und Springersekte („die Munteren“) entstand. 1857 musste Wüst sich auf Betreiben des Evangelisch‑Lutherischen Generalkonsistoriums verpflichten, nicht mehr außerhalb seiner Gemeinde zu predigen und keine geistlichen Handlungen an Lutheranern zu vollziehen.
Zu den Gleichgesinnten, bei denen die Gemeindeversammlungen unter Wüst stattfanden, gehörten die Familien Schaad, Heinrich, Blank, Brühler, Dillmann, Schwarz und viele andere, mit denen sich Heine auch in späteren Jahren noch stark verbunden fühlte.
Der Missionsgedanke war ein fester Bestandteil der pietistischen Gesellschaft, Pfarrer Wüst bemerkte die Gelehrsamkeit und tiefe Religiosität Heines alsbald und überzeugte ihn, in die Ausbildung der Inneren Mission zu gehen. Von dieser Idee erfüllt, führte ihn sein Weg zunächst, gemeinsam mit Jakob Knauer (Neuhoffnungstal), Hermann Sudermann (Berdjansk), Heinrich Bartel (Gnadenfeld) und Johann Klassen (Liebenau) nach Reval zur Bauer’schen Rettungsanstalt. In diese wurden arme Kinder und Jugendliche aufgenommen, um sie vor der Verwahrlosung zu bewahren.
Die Reise erfolgte mit einem Dreispänner 1854 über Liebenau (20. September), Orechow, Charkow (28. September), Kursk, Fatesch (4. Oktober), Moskau (12. Oktober). Von dort nach einwöchigem Aufenthalt mit dem Zug am 19. Oktober nach Sankt Petersburg, diese Fahrt dauerte 48 Stunden. Am 6. November, sieben Wochen nach ihrer Abreise, trafen sie in Reval ein, um ein Jahr zu bleiben.
Unter dem Eindruck der Predigten und Berichte des Missionars Carl Hugo Hahn (1818–1895), welcher über viele Jahre in Afrika tätig war, entwickelte sich bei Heine und Knauer das Bedürfnis, ebenfalls in die Äußere Mission der Rheinische Missionsgesellschaft (RMG) zu wechseln. Dazu war eine drei- bis vierjährige Ausbildung in Barmen notwendig.
Am 2. Januar 1856 war es so weit, mit neuen Pässen und einem Pferdeschlitten sollte die Reise von Reval über Pernau, Riga, Königsberg, durch die Niederung bei Marienburg, Berlin und Hamburg nach Barmen gehen. Mit einem Zwischenaufenthalt von 3 Tagen in Berlin, trafen sie am 15. Februar ein. Jakob Knauer wurde für seine Missionarstätigkeit in Afrika ausgebildet, Wilhelm Heine für Sumatra.
Während Heine an Pocken erkrankte Anfang 1858, war es für Jakob Knauer so weit, er reiste nach Afrika ab. Heines Abschied kam am 29. Oktober 1860. Seine Ordination galt nur für das Missionieren, er unterlag der absoluten Gehorsamsverpflichtung gegenüber der Rheinischen Missionsgesellschaft, musste in allen wichtigen Missionsfragen eine Erlaubnis einholen und durfte fünf Jahre nicht heiraten.
Am 12. November 1860 machte er sich auf den Weg zur Einschiffung in Holland. Die Seereise sollte 3 Monate dauern und um das Kap der Guten Hoffnung nach Sumatra führen. Nach schlimmen Stürmen, die das Schiff fast sinken ließen, erreichten sie Batavia auf der Insel Java, reisten weiter nach Padang/Sumatra. Nach neun Wochen Aufenthalt ging es am 7. August 1861 nach Siboga, wo er am 17. August ankam. Am 20. August reiste er weiter, Djagodjago, Batangtoru (23. August), Paggerutan, dann Sipirok. Es ging zu Fuß und auf dem Pferderücken durch Kampferbaumwälder, Flüsse ohne Brücken, über Berghänge, durch Kaffeeplantagen. Am 20. Oktober erreichte Heine den Ort seiner Mission, Sigompulan. Hier musste alles erst geschaffen werden, am 1. Januar 1862 war Einzug und Einweihung der neuen Missionsstation.
Bild aus: Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909
Die Missionarstätigkeit, die nun vor Wilhelm Heine lag, ist heute unter dem Begriff Batak-Mission bekannt und war im christlichen Sinne sehr erfolgreich.
Grund für diese Mission war der antikolonialen Aufstand in Borneo 1859, bei dem neun Missionsangehörige ums Leben kamen, die niederländischen Kolonialregierung daher die Missionsarbeit in dem Gebiet untersagte. So wandte man sich dem Inneren von Sumatra zu, hier lebte das indigene Volk der Batak, welches aus mehreren Volksgruppen bestand, welche auch eigene Stammessprachen besaßen. Die Batak waren keineswegs unzivilisiert im heutigen Sinne, sondern besaßen eine hochkomplexe Zivilgesellschaft, die sich von den Küstenbewohnern abschottete.
Karte aus „Mission, Kolonialismus und Missionierte; Über die deutsche Batakmission in Sumatra“ 2
Schon Marco Polo brachte 1292 Gerüchten über menschenfressende Bergvölker, die er „Batta“ nannte, mit nach Europa, weshalb bis etwa 1824 kaum Kontakt mit Europäern bestand, da diese die Bergvölker mieden. Heine befragte dazu einen Radja, der ihm erklärte, Verbrechen wie Ehebruch, Landesverrat usw., wurden mit Gefressenwerden bestraft. Auch Kriegsgefangene und Spione wurden verzehrt, an diesen Bestrafungsmahlzeiten nahmen nur Männer teil.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die islamischen padri-Krieger aus Westsumatra Silindung mit Krieg überzogen und waren sogar bis an den Tobasee vorgedrungen, wo sie den Priesterkönig Singamangaraja X. töteten. Seit den 1840ern war die niederländische Regierung in kriegerischen Auseinandersetzungen mit den padri verwickelt, einer militanten, über Mekkapilger wahhabitisch beeinflussten islamischen Bewegung aus Westsumatra. So sollte das Gebiet der Batak zur Befriedung und Stabilität in der Region beitragen, die Christianisierung Verbündete schaffen.
Die Missionare brachten nicht nur die Bibel und öffentliches Bildungswesen mit, sie hatten die Sprache der Einheimischen erlernt und beachteten ihre Traditionen, sodass die Batak ihre kulturellen Eigenheiten bewahren und mit christlicher Tradition verbinden konnten. Die so entstandene Huria Kristen Batak Protestan ist heute die größte evangelische Kirche Indonesiens.
Zunächst galt es, das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen, was nicht so einfach war, da man Heine unterstellte, ein Spion der holländischen Regierung zu sein, der die Battas dazu bringen solle, für das Gouvernement Kaffee anzubauen und Wege anzulegen. Dann hieß es, er würde die Kinder behexen, mit seinem Fernrohr die edlen Metalle im Innern der Erde erspähen, in seiner Uhr einen Geist bei sich führen u.a.m.
Weil die RMG die Idee hatte, auch Fotografien anzufertigen zu lassen, waren die Missionare mit Apparaten und Fotochemikalien ausgestattet. Nachdem Heine ein Landschaftsfoto entwickelte, hieß es: „Seht, der fremde Mann bringt mit Hilfe der Geister, die in dem Kasten stecken, unser Land aufs Papier und trägt’s davon.“ Kein Einheimischer war daher bereit, sich fotografieren zu lassen. Als kurz darauf das tropischen Klima die mitgebrachten Chemikalien zersetze und für eine gewaltige Explosion derselbigen sorgte, riefen die Battas: „Haben wir’s nicht gesagt, dass der Mann ein großer Zauberer ist und viele Geister ihm zu Diensten stehen? Seht ihr, jetzt sind alle Teufel los.“8
Nachdem die 1864 für eine Reise nach Indien vorgesehene Lehrerin Therese Wilhelmine Barner (1842–1909)6, jüngsten Tochter des Hausvaters und Schulmeisters der Rettungsanstalt in Korntal/Württemberg, Andreas Barner (1773–1859) und seiner Ehefrau Maria Regina geborene Metzger (1806–1848), nach Sigompulan entsendet wurde11, fand sich auch für Wilhelm Heine eine Gefährtin.
Eintrag der Therese Wilhelmine Barner im Familienregister Blatt 7 Korntal17
Im Dezember 1865 reiste Heine der ihm aus Europa gesandten Braut nach Padang entgegen. Die Ehe wurde im Februar 1866 geschlossen unter den Gewehrschüssen der Volksmenge , er mußte dann einen Stier schlachten und mit den Vornehmen verzehren. Hatten bisher nur Männer die Station besucht, so bestürmten nun die Frauen und Mädchen das Haus um die njonnja (europäischen Frau) zu sehen und ein kleines Geschenk zu erhalten.
Die eigentliche Aufgabe der Missionarsfrauen bestand vorrangig darin, den einheimischen Frauen und Mädchen das Nähen und Singen christlicher Lieder beizubringen. Sie kümmerten sich um die Haushaltsführung und ihre Kinder. Sobald diese schulpflichtig wurden, mussten sie nach Deutschland in die Obhut der Rheinischen Missionsgesellschaft zur Ausbildung gegeben werden.
Heines Ehefrau fand sich ziemlich schnell zurecht. Sie wurde eine wichtige Person in Sigompulan. Befreundete Battas brachten Hühner und Reis zum Gruß, und aus verschiedenen Dörfern kamen Einladungen zu einer Mahlzeit, denen Heine sich nicht entziehen konnte und wollte, weil er darin eine Gelegenheit sah, den Leuten näher zu kommen. Besonders feierlich wurden die Neuvermählten im Dorfe Lumbandolok empfangen. Selbst der datu (Gelehrte des Dorfes) ehrte das Paar mit Reis, Siri, inländischem Brot und Segensgebeten.14
Es gab zwar zahllose Rückschläge, da den ersten getauften Einheimischen der traditionelle Familienrückhalt entzogen wurde und diesen eigene Dörfer und Felder für die Lebensgrundlage geschaffen werden mussten, damit sie von der Familie unabhängig leben konnten, aber die Schar der christlichen Gemeinde wuchs beständig.
Als es 1866 über mehrere Monate eine Pockenepidemie in Silindung gab, sich einer der Einheimischen infizierte und die Erkrankung nach Sigompulan brachte, zeigte sich der Vorteil, entweder gegen diese geimpft oder die Pockenerkrankung überstanden zu haben, um den isolierten Erkrankten betreuen zu können. Leider wurde Heine zu seinem Totengräber, als dieser letztlich starb.
Am 25. November 1866 kam Sohn Wilhelm Heine, zur Welt, er sollte später ebenfalls Pastor werden. Insgesamt kamen 4 Kinder in der Missionsstation zur Welt, Therese (*1868), die später den Gutsbesitzer Andreas Müller (1858-1911) ehelichte, Hugo (1870–1899), Chemieingenieur, nach kurzer Ehe heiratete sein Witwe Pauline Müller (*1873) im Jahre 1913 seinen Bruder Wilhelm und Friedrich (*1872), ebenfalls jung, ledig, in Russland verstorben.
Geburt und Taufe von Wilhelm und Therese Heine 1877 im KB NeustuttgartGeburt und Taufe von Hugo und FriedrichHeine 1877 im KB Neustuttgart
Im März 1868 erlaubte der Radja Wilhelm Heine und einigen Begleitern, den bis dahin mit einem Tabu für Nichteinheimische belegten Tobasee zu besuchen. Dieser Besuch war hochgefährlich, weil die hier lebenden Bergstämme vermuteten, es handle sich um padri und wollten sich an den Eindringlingen rächen für die 1831–1832 ermordeten Bewohner ihrer Dörfer. Als sich herausstellte, dass es sich um Missionare handelte, welche große Unterstützung unter den Einheimischen fanden, wendete sich das Blatt nach Verhandlungen zum Guten.
Tobasee, größter Kratersee der Erde, 87 km lang und 27 km breit3
Im Jahre 1868 ging über Pfarrer Jakob Heinrich Staudt (1808–1884) aus Korntal das Gesuch des Missionars Heine und seiner Ehefrau im O.A. Kirchheim ein, Therese Wilhelmine aus dem Württembergischen Untertanenverhältnis zu entlassen unter Verzicht des Bürgerrechtes, da er von dem Angebot, das dortige Bürgerrecht zu erhalten, keinen Gebrauch machen wolle. Er war bereits russischer Untertan und wollte das auch bleiben. Das Amt bestätigte daher ihren Bürgerrechtsverzicht am 9. Juni 1868 und entließ Therese Wilhelmine als ausgewandert nach Russland.
1873 nahm die Familie Heine ihren Abschied und schiffte sich ein, die Reise ging durch den am 17. November 1869 eröffneten Suezkanal, über den Indischen Ozean, das Rote Meer und durch den Kanal ins Mittelmeer nach Jaffa. Von dort aus landeinwärts nach Jerusalem. Es folgten Besuche von Bethanien, Bethlehem, dem Jordan und des Toten Meeres, alles Orte, die in der christlichen Welt von hoher Bedeutung sind. Nach einem Monat Aufenthalt bestieg die Familie erneut ein Schiff und reiste über Konstantinopel nach Südrußland.
In Folge des für die Kinder ungewohnten Klimas und des extrem strengen Winters 1873/1874 in Russland bekamen sie alle eine Lungenkrankheit, welche Tochter Therese nur mithilfe eines Luftkurortes in Deutschland überwand, ihre beiden Brüder starben daran jung.
Im Mai 1874 trafen alle in Korntal/Württemberg ein, hier war Heine für die Mission unterwegs, ehe er im Herbst 1874 gänzlich nach Russland zurück kehrte und im Chutor Andrejewsk überwinterte, weil seine Frau hochschwanger war, Tochter Maria kam am 3. Dezember zur Welt.
Marias Geburt und Taufe im KB Neustuttgart 1877
Im Frühjahr 1875 nahm er seine Tätigkeit als Pastor des Kirchspiels Neustuttgart-Berdjansk7 auf und bezog das Pfarrhaus in Neustuttgart.
Bild aus: Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909
Hier traf er auf eine recht zersplitterte Gemeinschaft, die sich unter Pastor Wüst trennte und über die Jahre getrennt blieb. Die Bewohner des Kirchspiels lebten in Neustuttgart, Neuhoffnungstal und Rosenfeld und gehörten entweder der lutherischen Kirche oder der schwäbischen Brüdergemeinde (Separatisten) an. Die Neustuttgarter waren im Verhältnis 1:1 geteilt, in Neuhoffnungstal und Rosenfeld waren es überwiegend Mitglieder der Brüdergemeinde, Berdjansk dagegen hatte keine Anhänger der Brüdergemeinde.
In Neustuttgart entstanden aus dieser Glaubensverschiedenheit zwei Bethäuser, Pastor Zeller, der 1867 das Kirchspiel übernahm, gelang es nicht, eine Einigung der zwerstittenen Parteien zu erzielen, weshalb er sich letztlich von seinem Amt entbinden ließ. In Neuhoffnungstal und Rosenfeld besuchten man zu diesem Zeitpunkt abwechselnd den Gottesdienst der Glaubensgemeinschaften im selben Bethaus gegenseitig.
Diese Kluft zu überbrücken, gelang Heine auf Grund seiner großen Erfahrungen aus Sumatra, er entschärfte die Glaubenszwistigkeiten, näherte die verstrittenen Kirchengemeinden einander an, um im Januar 1876 eine öffentliche Einigung der Separierten und Lutheraner zu erzielen.
Die Bedingungen sind folgende: „Vereinigungspackt der freien evangelischen Gemeinde und der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Neustuttgart. Die freie evangelische Gemeinde in Neustuttgart hat nach eingehender Beratung in ihrer Mitte den Beschluß gefaßt, mit Beginn des Jahres 1876 sich mit der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Neustuttgart auf die unten genannten Bedingungen hin zu vereinigen. Es kann dies Ereignis nur mit Freuden begrüßt werden – denn so nur kann für Zucht und Ordnung in der Gemeinde, für die Erziehung der Jugend, für Kirche und Schule zum Segen des Ganzen gewirkt werden. Welches von den beiden am Ort befindlichen Bethäusern zur Kirche erweitert und welches zur Schule eingerichtet werden wird, das bleibt einer späteren Beratung Vorbehalten.
Die kirchliche Gemeinde kommt den Gliedern der freien Gemeinde entgegen, ihnen die Mitbenutzung ihres Bethauses bereitwillig zu gestatten.
Das heilige Abendmahl soll gemeinschaftlich gefeiert werden.
Bei Taufen und Trauungen bedient der Pastor die Glieder der freien Gemeinde nach der alten württembergischen Agende.
Die Konfirmation soll bei den Kindern der freien Gemeinde im 14. Jahr stattfinden dürfen.
Der Pastor übernimmt die Führung der Kirchenbücher der freien Gemeinde.
Im Fall eines Sterbefalles bei Abwesenheit des Pastors soll dem Kirchenvorsteher der freien Gemeinde gestattet sein dem Sterbenskranken das heilige Abendmahl reichen zu dürfen – freilich nur im dringendsten Fall.
Die Vereinigung soll für die ganze Zeit, die Pastor Heine in Neustuttgart im Amte steht, als bleibend und unlöslich betrachtet werden: im Fall eines Pfarrwechsels soll jedoch unter Umstanden der freien Gemeinde die Freiheit gewahrt bleiben, sich wieder loszulösen – was Gott verhüten wird.
Die freie Gemeinde tritt beim Zahlen des Pfarrgehalts und bei der Übernahme anderer Verpflichtungen mit der kirchlichen Gemeinde von: 1. Januar 1876 ab in gleiche Reihe.
Die Kirchenvorsteher der freien Gemeinde und die Kirchenvormünder der kirchlichen Gemeinde treten unter Vorsitz des Pastors und unter Hinzuziehung des Schulzenamts zusammen, um die Ordnung in der Gemeinde, der Kirche und Schule aufrecht zu halten.
Der dreieinige Gott gebe seinen Segen zu dieser Vereinigung, ihm zur Ehre, zum Wohl der Gemeinde!
Zur Bekräftigung und zu gegenseitiger Beobachtung dieses Bereiniguugsvertrages unterzeichnen heute: Neustuttgart, den 12. Januar 1876. seitens der freien Gemeinde: seitens der Kirchengemeinde: Andreas Bihlmeier Adam Erlenbusch Jakob Klotz Immanuel Bauer.“
Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909, p. 157f
Wie wohlwollend die Kirche das Wirken von Pastor Heine aufnahm, zeigte sich im folgenden Schreiben:
Schreiben des St. Petersburger Konsistoriums an Propst Behning vom 27. Februar 1876, wo diese Behörde sich folgendermaßen über die Bereinigung der Separierten und Kirchlichen äußert. „…….. Ein anderes aber ist es, wenn man den in Rede stehenden Antrag aus Neustuttgart in dem Sinne auffaßt, daß die freie evangelische Gemeinde daselbst gar nicht gesonnen ist zu der evang.-lutherischen Kirche in Rußland über- und in unsern Konsistorialbezirk einzutreten, sondern daß sie nur das Zugeständnis begehre, sich unter Beibehaltung ihrer bisherigen bürgerlichen wie kirchlichen Stellung und ihres bisherigen inneren Glaubensstandes der Person und des Amtes des Herrn Pastor Heine bedienen zu dürfen, so daß also die ganze Vereinigung mit der evang.-luth. Gemeinde in Neustuttgart nichts als ein Akt persönlichen Vertrauens zu Herrn Pastor Heine wäre. Ja dies scheint auch in der Tat die Meinung und der Wille der Petenten zu sein, die ja die „Bedingungen der Vereinigung“ klar und deutlich in Punkt 7 aussprechen, daß die Bereinigung „nur für die Zeit, da Pastor Heine in Neustuttgart im Amte steht, als bleibend und unumstößlich betrachtet wird, im Fall eines Pfarrwechsels jedoch – der freien Gemeinde die Freiheit gewahrt werden soll, sich wieder loszulösen.“ In diesen! Sinn den Antrag verstanden trägt das Konsistorium kein Bedenken, die vorgestellten Bedingungen zur Vereinigung der Gemeinde in Neustuttgart zu genehmigen und dem Herrn Pastor Heine die Autorisation zu erteilen, auch an den Gliedern der freien Gemeinde seines Amtes, aber in soweit, zu warten, als er bei aller Treue in Ausübung seines geistlichenHirtenamts mit seinem Gewissen wird verantworten können. Das Konsistorium erteilt diese Genehmigung um so lieber, als es sich aufrichtig der Annäherung zwischen beiden Gemeindeteilen in Neustuttgart freut, welche durch den Beschluß ihrer Vereinigung bezeugt ist, und in derselben eine starke Bürgschaft künftigen dauernden Friedens und gottgefälliger Einigkeit sieht. Von den Gliedern der sogenannten freien Gemeinde aber erwartet das Konsistorium, daß sie ihrem nunmehr selbsterbetenen Seelsorger fortwährend alle Liebe und Ehrfurcht beweisen, und allem, was er in geistlichen Dingen zu ihrem eigenen Heil vorschreiben oder anordnen wird, pünktlich Gehorsam leisten werden. Nur so wird sich die Gemeinde des göttlichen Segens trösten dürfen, den wir von dieser Vereinigung hoffen.
Präsident: Frommann. Sekretär: Fabricius.“
Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909, p. 158f
Diese Einigung wurde bei einigen Mitgliedern der Brüdergemeinde jedoch alles andere als positiv aufgenommen. So unterstellte man ihm nur auf Betreiben Zellers die Stelle bekommen und die Separatisten in eine Falle gelockt zu haben mit seinem Einigungsvertrag, aus der sie nun nicht mehr entkommen könnten, zumal es einigen egal wäre, ob im Gottesdienst ein Bruder oder Pastor auf der Kanzel steht.4
So schreibt Kröker:
Als Jüngling kam er von seinem Heimatdorfe Prischib an der Molotschna oft nach Neuhoffnung, wurde hier bekehrt, und weil er Lust und Begabung zur Missionsarbeit zeigte, schickte Wüst ihn nach Barmen ins Missionshaus, wo er auf Kosten der Separatisten ausgebildet wurde. Nach seiner Rückkehr wurde er als Bruder und Gesinnungsgenosse mit offenen Armen aufgenommen. Gleichzeitig wurde ihm die vakante Predigerstelle der Separatisten, wie auch vom Konsistorium das Pastorat in Neustuttgart angetragen. Er entschied sich für letzteres. Das Vertrauen der Separatisten hat er schnöde mißbraucht, und für die genossene Liebe und Wohltaten hat er sich sehr undankbar erwiesen. Durch Anwendung von Mitteln, die eines gläubigen Christen unwürdig sind, ist es ihm gelungen, den größten Teil der vier Dörfer, halb gegen ihren Willen, zur lutherischen Kirche und unter das Konsistoriums zu bringen
Kröker, Abraham: Pfarrer Eduard Wüst, der grosse Erweckungsprediger in den deutschen Kolonien Südrusslands, Spat bei Simferopol, Selbstverlag, H.G. Wallmann Leipzig, Central Publ. C,. Hillsboro Kansas, 1903, p. 107
Heine sah sich als Bindeglied und Vermittler zwischen den Lutheranern und Mennoniten, zumal er mit dem Mennoniten Ältesten Dirks von Gnadenfeld, ebenfalls ehemaliger Missionar in Sumatra, eng befreundet war.
Für das Schulwesen war seine einstigee Tätigkeit ebenfalls von Vorteil, da er dafür sorgte, das in Neustuttgart das separierte Bethaus zum Schulhaus wurde, Neuhoffnungstal ein neues, zweistöckiges Schulgebäude errichtete, diese und die Lehrerwohnungen nun beheizbar waren. Es wurden Lehrer angestellt und besoldet, Schulbücher angeschafft.
Mit dem Ende seine Tätigkeit als Pfarrer im Frühjahr 1894 gab Heine öffentlich bekannt, wie im Vertrag geregelt, daß jeder Separierte, der sich der Kirche angeschlossen hatte, sich nun zu entscheiden habe, ob er bei der Kirche bleiben oder wieder zum Separatismus zurücktreten wolle.
Er zog dann mit seiner Frau zur Tochter Therese nach Michailowsk, um noch einmal im Auftrag der Mission zu reisen. Am 5. Juli 1895 traf er in New York/USA ein. Am 15. Juli reiste er nach Buffalo und zu den Niagarafällen, dann Erie (19. Juli), Brooklyn/Ohio (23. Juli), Sandwich (29. Juli), Amboy/Minnesota (13. August), Mountain Lake – hier lebten ehemalige Berdjansker, weiter nach Canada – Gretna/Manitoba (27. August). Es folgten Junkton/Dakota (9. September), Sutton/Nebraska (24. September), Scotland (29. September). In Scotland besuchte er die Witwe von Pastor Karl Bonekemper (1827-1903). In Menno traf er auf den 1887 ausgewanderten Gebietsschreiber Münch aus Zürichtal und besuchte auf dem Weg nach Sutton (1. Oktober) weitere Auswanderer. Traf in Ferberg auf Mennoniten der Molotschna und kam in Denver/Colorado an (14. Oktober). Besuchte den Pikes Peak, Colorado Springs, Newton und St. Louis/Illinois. Hier traf er seinen alten Freund Hermann Sudermann wieder, mit dem er in Reval war. Weiter ging es nach Chicago (18. November), Sandwich (27. Oktober) und 8 Monate nach Beginn dieser Reise traf er am 31. Dezember 1895 zu Hause ein. Pünktlich zum Jahreswechsel.
Das viele Reise begünstigte sein Steinleiden, am 25. Januar 1897 starb Missionar Wilhelm Heine an den Folgen einer Steinoperation in Michailowsk, seine Frau folgte ihm am 13. November 1909.
Mennonitische Rundschau9
Orte, die Wilhelm Heine in seinem Leben bereiste15
Sohn Wilhelm, als erstes Kind in Sigompulan 1866 geboren, trat in die Fußstapfen seines Vaters und nahm am 17. August 1884 ein Theologiestudium in Dorpat auf.5
Am 1. Mai 1891 in Tiflis/Kaukasus ordoniert, wurde er von 1892-1893 Pastor-Adjunkt in Batum-Kutais/Kaukasus, ab1893-1895 Adjunkt bei seinem Vater in Neu-Stuttgart, der im Frühjahr 1894 nach 19 Jahren im Amt in den Ruhestand ging.
1895 legte er das Gymnasiallehrerexamen ab und nahm eine Hauslehrerstelle in Sankt Petersburg an. Von dort kehrte er als Konsistorialvikar für die Kreise Bachmut und Slawjanoserbsk, Gouv. Jekaterinoslaw (1898–1899) zurück, wurde dann Pastor in Schidlowo (1899-1907) und scheidet aus dem geistlichen Amt aus.
Erneut im Dienst in Schidlowo (1914–1928), anschließend Pastor in Katharinenfeld/Kaukasus (1928–1930). In Katharinenfeld wurde er am 14. August 1931 wegen der angeblichen Bildung eines „antisowjetischen Agitationsnetzes16 verhaftet und bis 1934 nach Tymsk am Ob, Gebiet Tomsk (Westsibirien) verbannt.
Nach der Rückkehr lebte er in Feodosia/Krim und wurde am 4. Juli 1937 wurde er erneut verhaftet.12 Nach kurzem Aufenthalt im Simferopoler im Gefängnis wurde er nach Verurteilung zur Hinrichtung am 2. Januar 1938 erschossen. Offiziell wurde Wilhelm Heine am 9. Oktober 1989 rehabilitiert.13
Die Familienmitglieder, die auf dem kleinen Friedhof ruhen:
Andreas Müller, geboren am 17. Juli 1858 als Sohn des Kaufmannes und Gutsbesitzers Friedrich Michael Müller (1837-1860) und der Dorothea Heine (1835-1860). Dorothea Heine war eine Schwester des Missionars Wilhelm Heine.
Geburt und Taufe KB Hochstädt 1858Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911
Verstorben ist Andreas Müller am 28. August 1911 in Charkow, beigesetzt am 31 August.
Johanne Elisabeth Blank wurde am 8. Juli 1845 in Molotschna als Tochter des Schullehrers Friedrich Blank (1820-1878) und seiner Ehefrau Margaretha Brühler (1824-1850) geboren.
Geburt und Taufe KB Molotschna 1845
Ihr Ehemann, der Gutsbesitzer Friedrich Müller (*1841), war der Neffe des Andreas Müller (1858-1911). Hier treffen wir auf die Verbindung zu Ludwig Hein(e) (1789-1854). Dessen Tochter Maria Magdalena Heine (1844-1929) war verheiratet mit dem Cousin von Johanne – Lehrer Friedrich Blank (1841-1889)
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1907
Verstorben ist sie am 16. Mai 1907 auf dem Gut Federowka und wurde am 19. Mai beigesetzt.
Michael Müller, beider Sohn, geboren am 29. November 1877 auf dem Gut Federowka
Geburt und Taufe KB Molotschna 1878Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1899
Er starb am 30. April 1899 auf dem Gut Federowka an einer Entzündung des Abdomens und wurde dort am 2. Mai des Jahres beigesetzt.
Olga Müller war die Tochter von Friedrich Müller (*1870), ebenfalls ein Sohn des Gutsbesitzers Friedrich Müller (*1841), Olgas Mutter war Bertha Mathilde Ottilie Petersenn (*1874). Olga wurde auf dem Gut Federowka am 23. November 1904 geboren.
Geburt und Taufe KB Friedenfeld 1905Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911
Ihr kurzes Leben endete durch Scharlach und Diphterie auf dem Gut am 12. November 1911, beigesetzt am 14. November.
Friedrich Müller, genannt Fritz, ihr Bruder, wurde am 28. Juli 1907 auf dem Gut geboren.
Geburt und Taufe KB Friedenfeld 1907Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911
Auch sein Leben wurde von der Erkrankung dahin gerafft, er starb am 24. November und wurde am 26. November beigesetzt.
Vielleicht gehören die Bruchstücken auf dem Friedhof zu den Resten des Grabsteines der Schwester Margarethe Müller, sie starb bereits am 19. November im Alter von 10 Jahren ebenfalls an der Kinderkrankheit und wurde am 21 November beigesetzt. So entstanden innerhalb einer Woche drei Kidnergräber der selben Familie.
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911
Dr. med. Alexander Friedrich Gustav Petersenn, Arzt, war der Bruder der Bertha Mathilde Ottilie Petersenn (*1874) und verehelicht seit dem 12.11.1896 mit Johanne Heine (*1878), Tochter des Missionars Wilhelm Heine (1833-1897)
Geboren und getauft wurde er in Riga19, sein Vater Karl Johann Georg (1832-1892) war ebenfalls Arzt, seine Mutter Karoline Wilhelmine geborene von Erbe (1846-1907) ist ebenfalls auf dem Gut Federowka versotben und beigestezt worden.
Dr. med. Petersen verstarb am 5. Januar 1905 auf dem Gut an einer Auszehrung, beigesetzt wurde er am 8. Januar.
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1905
Der Stein seiner Mutter ist nicht aufgefunden worden. Jedoch belegt ihr Sterbeintrag vom 21. Januar 1907 die Beisetzung am 24. Januar daselbst.
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1907
1Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909
2Hans Angerler: Mission, Kolonialismus und Missionierte; Über die deutsche Batakmission in Sumatra in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2/93, 23. Jahrgang Nr. 2, April bis Juni 1993, p53-61
4Prinz, Jakob; Die Kolonien der Brüdergemeinde: ein Beitrag zur Geschichte der deutschen KolonienSüdrusslands. Prinz, Pjatigorsk, 1898, p.163f
5National Archives of Estonia Heine Wilhelm; EAA.402.2.9133; 17.08.1884
6Dorothee Rempfer: Biografisches Verzeichnis von Missionaren, Missionarsfrauen, Missionsschwestern und lokalen Mitarbeiter*innen der RheinischenMissionsgesellschaft (RMG ) in der Herero- und Batakmission. Stand Juli 2021 p.5
7Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland begründet von Bischof Dr. E. E. Ulmann, gegenwärtig redigiert von J-Th. Helmsing, Oberlehrer in Riga, unter Mitwirkung der Pastoren: E. Kaehlbradnt in Neu-Pebalg, R. Räder in Goldingen, A.H. Haller in Reval u. A. 32. Band Neue Folge. Neunter Band. Jahrgang 1876. Riga 1876. Verlag von Brutzer & Comp., p.281
8Allgemeine Missions-Zeitschrift. Monatshefte für geschichtliche und theorethische Missionskunde. In Verbindung mit einer Reihe Fachmänner unter specieller Mitwirkung von D. Th. Christlieb, Professor d. Theologie zu Bonn und Dr. R. Gundemann, Pastor zu Mörz. herausgegeben von Dr. G. Warneck, Pfarrer in Rothenschirmbach bei Eisleben. Vierter Band. Gütersloh 1877. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. p.12
9Mennonitische Rundschau. herausgegeben von der Mennonite Publishing Company, Elkhart, Ind. 21. Jahrgang 7, Februar 1900 No. 6, p.2
10Kröker, Abraham: Pfarrer Eduard Wüst, der grosse Erweckungsprediger in den deutschen Kolonien Südrusslands, Spat bei Simferopol, Selbstverlag, H.G. Wallmann Leipzig, Central Publ. C,. Hillsboro Kansas, 1903
11Dorothee Rempfer: Gender und christliche Mission; Interkulturelle Aushandlungsprozesse in Namibia und Indonesien. Global- und Kolonialgeschichte Band 11.Dissertation am Institut für Geschichte der FernUniversität Hagen. transcript Verlag, Bielefeld 2022. p.54
13Dr. Viktor Krieger: Verzeichnis der deutschen Siedler–Kolonisten, die an der Universität. Dorpat 1802-1918 studiert haben
14Evangelisches Missions-Magazin, Neue Folge. Herausgegeben im Auftrag der evangelischen Missionsgesellschaft von Dr. Hermann Gundert. Dreizehnter Jahrgang. 1869. Basel im Verlag des Missions-Comptoirs. In Commission bei J.F. Steinkopf in Stuttgart udn Bahnmaiser Verlag (E. Detloss) in Basel. Druck vomn E. Schulze. p.70ff
16Litsenberger, Olga, Evangelical Lutheran Church in the USSR in the 1930s (2007). Deutsche in Russland und in der Sowjetunion 1914-1941. Alfred Eisfeld, Victor Herdt, Boris Meissner (Hg.). Lit. Verlag Dr. W. Hopf. Berlin, 2007 p. 424
17Familienregister Blatt 7 der Gemeinde Korntal/Württemberg, Kopie freundlicher Weise überlassen von B. Arnold, Korntal
18Verzichtserklärung und Entlassung aus dem Württembergisschen Untertanenverband 9.6.1868, O.A. Kirchheim, Auswanderergesuche Bd. 69-71 1855-1890
Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1
6. Fortsetzung und Schluss
7. Der Berdjansker und Mariupoler Kolonistenbezirk
Ausschnitt aus der Karte der Postämter im Russischen Reich 18782
Unter d. gleichen Bedingungen mit Hoffnungsthal wurden von solchen württembergischen Chiliasten, die weder im Chersonschen Gouvernement geblieben sind, noch auch nach Grusien mitzuziehen sich entschlossen haben, im Jahre 1882 die Kolonieen Neuhoffnung, Rosenfeld und Neuhoffnungsthal gegründet.
Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18555
Später, im Anfang der dreißiger Jahre, kam noch Neustuttgart gleichzeitig mit Gnadenthal und Lichtenthal bei Sarata in Bessarabien hinzu. Die Gründer der letztgenannten drei Gemeinden waren ebenfalls württembergische Einwanderer mit chiliastisch-separierter Richtung. Während Gnadenthal und Lichtenthal sich an das Kirchspiel Sarata angeschlossen, wie auch Neustuttgart und ein Theil von Neuhoffnungsthal und Rosenfeld ein eigenes evangelisch-lutherisches Kirchspiel bildeten und sich damit unter dem Schutz des St. Petersburgischen Konsistoriums stellten, blieb Neuhoffnung und der übrige Theil der benachbarten Gemeinden Neuhoffnungsthal und Rosenfeld separiert. Ihr geistlicher Vorstand war Pfarrer Wüst, ein Mann des Volkes von seltener Energie und Beredsamkeit, erfüllt mit frischem Glaubensleben. Wüsts Aussaat artete jedoch unter dem kolonistischen Laienprediger Hottmann in ein Sektenwesen aus, welches große Verbreitung selbst in einigen Gemeinden des damaligen Grunauer Kirchspiels fand. Springer oder Hopfer3 wurde die neue Sekte genannt, welche die separierten Gemeinden im Berdjanskschen Kreise einer völligen kirchlichen Auflösung nahe brachten. Obwohl gegenwärtig eigentliche vom „heiligen Geist“ zu ausgelassener Freude gestimmte „Springer“ nicht mehr vorhanden sind, so leiden diese Gemeinden bis heute unter den Nachwirkungen des Springerthums. Nur das für das koloniale Verhältnisse ausgezeichnete Schulwesen dieser Gemeinden läßt hoffen, daß das, was noch krankt, bald einem gesunden, nüchternen Wesen wird Platz machen müssen
Ganz anders als diese zu religiöser Schwärmerei hin neigenden Separatisten des bei Berdjanskschen Kreises sind die preußischen Einwanderer des Mariupoler Kolonistenbezirks geartet. Gegen 500 Familien langten in den Jahren 1818 und 1819 aus Preußen, theilweise zu Fuß, in dem Molotschaner Mennoniten- und Kolonistenbezirken an, wo sie vorläufig einquartiert wurden. Die neuen Ankömmlinge konnten vermöge ihres Fleißes durch verschiedene Handarbeiten und Gewerbe sich dort theils ihren Unterhalt erwerben, theils noch etwas Geld ersparen. Mit einigen Ausnahmen hatten sie wenig oder gar kein Vermögen vom Auslande mitgebracht. Ueber ihre Ansiedlung berichtet das „Unterhaltungsblatt“ im Jahre 1853:
„Im Märzmonat 1820 erwählten sich viele Einwanderer auf Befehl des Vormundschaftskomptoirs der ausländischen Ansiedlungen zu Jekaterinoslaw drei Deputierte: Christian Klaaßen, Nikolaus Dodenhöft, beide später in der Kolonie Grunau, und Johann Majewsky, später in der Kolonie Eichwald angesiedelt, welche auch vom Komptoir bestätigt wurden und für die Sache der Ansiedlung sich bemühten, bis im Herbst 1822 den Ansiedlern das Land angewiesen und die äußeren Grenzen von Griechen und Russen, im Gegenwart des Herrn Gouverneurs und des Herrn Mitglieds vom Komptoir Babiewsky, abgepflügt wurden.
Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1853 Nr. 13
„Die hilfsbedürftigen Ansiedler erhielten auf jede Familie 300 bis 450 Rbl. Banko Vorschuß zum Anbau der Häuser und zur ersten wirthschaftlichen Einrichtung, welche Gelder im zweiten Jahrzehnt der Ansiedlung rückstandslos abgetragen worden sind.“
Im Jahre 1823 haben diese preußischen Einwanderer 18 Kolonieen gegründet und zum Andenken an ihre heimathlichen Ortschaften in Westpreußen mit Genehmigung der russischen Behörden nachfolgend benannt: 1 Kirschwald, 2 Tiegenhof, 3 Rosengart, 4 Schönbaum, 5 Kronsdorf, 6 Grunau, 7 Rosenberg, 8 Wikkerau, 9 Reichenberg, 10 Kampenau, 11 Mirau, 12 Kaiserdorf, 13 Götland, 14 Neuhof, 15 Eichwald, 16 Tiewenort, 17 Schönwald 18 Thiergart. Eine zweite Einwanderung geschah in den Jahren 1823 und 1824; eine dritte im Jahre 1841. Aus Württemberg, Baden, Hessen und vom Niederrhein kamen über 100 Familien und begründeten die vier Kolonien: Elisabethdorf 1825, Ludwigsthal 1828, Darmstadt und Marienfeld 1842. Von diesen haben nur 19 Wirthe der Kolonie Ludwigsthal Geldvorschuß erhalten, die anderen hatten eigene Mittel. Im Jahre 1832 entstanden die fünf Kolonien: Bellowesch, Kaltschinowka, Rundewiese, Großwerder und Kleinwerder.
Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18555Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18555
Darüber schreibt das „Unterhaltungsblatt“:
„In den Jahren 1768 bis 1782 hatten sich deutsche (wahrscheinlich preußische) Einwanderer im Romenschen Kreise des Governements Tschernigow niedergelassen und dort die fünf Kolonien: Bellowesch, Kaltschinowka, Rundewiese, Groß- und Kleinwerder angelegt. Die dort ihnen zu theil gewordenen Kronsländereien waren für die zahlreiche Nachkommenschaft nicht mehr hinreichend, weshalb die landlosen Familien sich bei der Regierung die Erlaubnis ausbaten, im südlichen Rußland Land zu Uebersiedlung aussuchen zu dürfen. Das Gesuch wurde ihnen gewährt, um geeignete Stellen ausfindig zu machen. Diese Bevollmächtigten wandten sich an das Jekaterinoslawische Vormundschaftskomptoir und erhielten von demselben die Anweisung, die neben Mariupol liegenden noch unbesetzten Ländereien in Augenschein zu nehmen. Sie befolgten dieses, und da sie hier einen fruchtbaren Boden in der Nähe einer Seestadt fanden, so kehrten sie mit dem festen Entschluß, sich hier niederzulassen, und mit Zeugnissen der örtlichen Obrigkeit versehen zu ihren Gemeinden zurück und erklärten, daß sie dieses Land an Ort und Stelle als das zweckmäßigste zur Ansiedlung befunden hätten, worauf die Gemeinden um die allerhöchste Genehmigung baten, welche ihnen Allergnädigst ertheilt wurde. Dann begaben sich im Herbst 1831 in allem 122 Familien nach dem Mariupoler Kolonistenbezirk, wo sie von den schon früher angesiedelten Familien als christliche Glaubensgenossen und künftige Nachbarn mit Liebe aufgenommen und beherbergt wurden, bis sie im Frühjahr 1832 ihren eigenen Herd begründeten und ihre Ansiedlungen nach denen im Gouvernement Tschernigow benannten.
„Unterstützung zur Ansiedlung haben diese Ansiedler nicht erhalten denn jede Familie hatte ihre gehörigen Ackergeräthe und Zugvieh, zum Bauen aber wenigstens zu 400 Banko bares Geld mitgebracht.“
Der Kolonist der Kolonie Grunau Christian Klaaßen, Mitglied des landwirthschaftlichen Vereins und seit 1848 Oberschulz im Mariupoler Kolonistenbezirk, hat die Pläne zur Anlage dieser Kolonien und der Häuser entworfen und ausgemessen, überhaupt diese Übersiedlung geleitet und dadurch unvergessliche Verdienste um diese Kolonien erworben.
„Seit dem Jahre 1849 ist durch Ansiedler aus der Stadt Jamburg Gouvernement St. Petersburg eine neue Kolonie, Neujamburg, diesem Bezirke hinzugefügt worden.“
Im Mariupoler Kolonistenbezirk befinden sich zwei evangelisch-lutherische Kirchspiele: 1 Gronau, zu welchem in den sechziger Jahren noch Taganrog, Nowotscherkask und Berdjansk gehörten, und 2 Ludwigsthal. Grunau, welches eine der größten Kirchen in den südrussischen Kolonieen besitzt und in üppiges Grün buchstäblich eingehüllt ist, wurde im Jahre 1823 als Kirchspiel bestätigt. Von ihm zweigte sich nächst Taganrog das Kirchspiel Ludwigsthal ab.
Schluß.
Wir haben uns bei der gegenwärtigen Schilderung fast ausschließlich im Rahmen der Entstehungsgeschichte der im Anfang des vorigen Jahrhunderts gegründeten Kolonien im Chersonschen, Taurischen und Jekaterinoslawschen Gouvernement bewegt. Der Raum gestattet uns nicht, hier auch nur einen oberflächlichen Überblick dessen zu geben, was im Laufe von kaum einem Jahrhundert aus diesen Kolonien geworden ist. Das müssen wir für eine andere Gelegenheit aufsparen. Doch darauf soll zum Schluß noch hingewiesen werden, daß innere Kraft der deutschen Kolonialbevölkerung Südrußlands in diesem Zeitraum sich augenfällig bewährt hat. Die Kolonisten haben es verstanden, sich den hiesigen Lebensbedingungen anzupassen und trotz bedeutender Schwierigkeiten sowohl in der Kultur vorzuschreiten, als auch dem rapiden Wachsen ihrer Volksziffer entsprechend sich zu dem von der Regierung ihnen angewiesenen Areal immer neue Ländereien zu erwerben.
Was die Schwierigkeiten anbelangt mit denen sie bei der Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, in der landwirthschaftlichen Bearbeitung des süddrussischen Bodens, zu kämpfen hatten, so sei nur beispielsweise auf den westlichen und östlichsten Theil der ursprünglichen Kolonien hingewiesen, den Großliebenthaler und Mariupoler Bezirk.
In der für die Kultur der Kolonie so hochbedeutsamen „Odessaer Zeitung“ haben wir in Nr. 95 und 96 das Jahrgangs 1903 unter der Überschrift „Ungünstige Einflüsse auf die Entwicklung der Landwirthschaft im Großliebenthaler Kolonistenbezirk“ berichtet, daß die Freudenthaler Kirchenchronik nicht weniger als 29 Fehljahre in Folge von Mißwachs aufzählt. Das sind, da es sich um den Zeitraum von 1806 – 1902 handelt, über 30 Prozent oder fast der dritte Theil aller Ernten. Doch das sind noch lange nicht alle Mißernten, außerdem Mißwachs haben auch Heuschrecken, Käfer, Mäuse, Hessenfliegen und Hagel die Zahl der Mißernten bedeutend erhöht. „Es ist unglaublich,“ so lesen wir in einem kirchlichen Bericht vom Jahre 1884, „welche Heimsuchungen über das Kirchspiel Grunau seit seiner Gründung in fast ununterbrochener Reihenfolge ergangen sind.“ Außer den Steppenplagen: Heuschrecken, Getreidekäfer, Rinderpest usw., hatte der Bezirke sieben Mal furchtbare Viehseuchen, ein Mal von der Cholera zu leiden.
Wiederholt verwüsteten orkanartige Hagelstürme nicht nur die Felder, sondern auch die Gebäude, 21 Tage hielt der Schneesturm an, der im Jahre 1848 mit seinen Schneemassen das Dach das Pastoratsgebäudes und andere Häuser zum Einsturz brachte.
Nikolai Sverchkov, Troika in Winter7
Viel Energie, Muth und Ausdauer hat dazu gehört, alle diese elementaren Schwierigkeiten zu überwinden und in erbittertem Kampfe dem Boden denjenigen Ertrag abzuringen, auf welchem der gegenwärtige Wohlstand sich gründet. Leider sind die alten Kolonien im allgemeinen bereits seit einer Reihe von Jahren in ihrer Entwicklung stehen geblieben, wo nicht gar zurückgegangen, weil die rationelle Bearbeitung des Bodens mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt gehalten hat. Jene glänzenden Erträge, womit in früheren Jahren der jungfräuliche Boden mit einem Schlage, den Landmann für eine ganze Reihe von Mißernten entschädigte, gehören jetzt bereits in das Gebiet der Sage. Und doch will der Kolonist immer noch nicht mit dem alten Zopf der Raubwirthschaft aufräumen. Bessere Bearbeitung des Bodens, sorgfältige Düngung, gründliches Studium der Landwirthschaft, gemeinnützige Bestrebungen, Einmüthigkeit im Ordnen aller Gemeindeverhältnisse, bessere Ausbildung der Söhne und namentlich auch der Töchter – das sind die Aufgaben der Kolonieen für das zweite Jahrhundert ihres Bestehens. Daß so etwas nur auf dem Grunde der Gottesfurcht und milder christlicher Sitten möglich ist, muß die Ueberzeugung aller werden. Es giebt jetzt schon nicht wenige intelligente Landwirthe, die energisch eine bessere Bewirtschaftung ihres Landes mit Erfolg anstreben und den Säumigen ein Beispiel geben, welches wie wir hoffen, seine gute Wirkung nicht verfehlen wird.
J.S.
1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 26.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski
2 Karte der Postämter im Russischen Reich, Iljin, Alexis Afinogenovich. Sankt Petersburg: A. Iljins kartografische Einrichtung, 1878. – mit 3 Einschüben: Asiatisches Russland mit der Region Turkestan, Umgebung von Moskau, Umgebung von Sankt Petersburg, KBR Kartensammlung
3Busch theilt in seinen ,,Materialien zur Geschichte und Statistik der evangelischen Gemeinden Rußlands“ über diese vier leztgenannten Kolonien Folgendes mit:
Die Bewohner derselben sind würtembergische Separatisten, die sich hier im Jahre 1822 niederließen und eben wie die Kolonisten in Grusien durch den damals in Würtemberg herrschenden Rationalismus aus ihrem Vaterlande getrieben wurden. Etliche von ihnen ließen sich in Bessarabien in den Kolonien Sarata, Gnadenthal und Lichtenthal nieder und stellten sich unter den Schutz des Consistoriums; jene vier Kolonien wollten aber eine Art Brüdergemeinde bilden und erbaten fich dazu das Privilegium, ihre kirchlichen Angelegenheiten selbst ordnen und verwalten zu dürfen. Mit dieser Selbstverwaltung wollte es aber nicht gehen und schon im Jahre 1843 waren diese Kolonien einer völligen kirchlichen Auflösung nahe, vor welcher sie nur durch die Berufung des Pastors Wüst als „geistlichen Vorstandes“ sich retten konnten. Wüst war ein Mann des Volkes von seltener Energie und Beredtsamkeit und frischem Glaubensleben. Er hatte sich bald die Liebe und Achtung aller Parteien erworben und dieselben wurden einig in der Anhänglichkeit an seine Person.
Wüst’s Eigenthümlichkeit sagte auch deßwegen jenen Leuten so zu, weil er sein geistliches Amt ganz in den Hintergrund stellte und nur als Bruder unter ihnen weilte und wirkte. Er that dies nicht aus Politik, sondern aus eigener Ueberzeugung; er hatte in dieser Beziehung sehr freie Ansichten und sprach dieselben auch unverhohlen gegen seine Gemeinde aus. Die Folge war, daß das Parteiwesen gegen Ende seines Lebens sich doch wieder erhob, und als kurz vor seinem Tode ein gewisser Hotmann, ein Kolonist aus der Krim, in seine Gemeinde kam und daselbst für die Hopfer- und Springersekte wirkte, vermochte er der Bewegung nicht mehr Herr zu werden und starb im Jahre 1859 an gebrochenem Herzen.
Er hatte in seiner Gemeinde, wie es scheint, anstatt der gehaltenen Choralmelodien oft Arienweisen singen lassen, und daran knüpfte Hotmann an. Die Leute klopften erst den Takt mit den Fingern zum Gesang, wurden aber mehr und mehr elektrisirt und fingen an in geistlicher Freude zu hopfen und zu springen. Besonders soll sich dieses Unwesen zeigen, wenn sie zusammenkommen, das heilige Abendmahl zu feiern, wo sie auch von dem Weine etwas mehr zu trinken scheinen, als ihnen gut ist, und dann vom heiligen Geist zu ausgelassener Freude gestimmt werden.
Matthäi, F.: Die deutschen Ansiedlungen in Rußland. Ihre Geschichte und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung für die Vergangenheit und Zukunft. Studien über das russische Kolonisationswesen und über die Herbeiziehung fremder Kulturkräfte nach Rußland. / Von Friedrich Matthäi, Offizier der Königl. Sächs. Armee, corresp. Mitglied der Keiserl. freien ökonomischen Gesellschaft, sowie der Gartenbaugesellschaft zu St. Petersburg. – Leipzig: Hermann Fries; Gera: C. B. Griesbach, 1866, p96f:
4 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1853 Nr. 1, auf Mikrofilm, CMBS
5Die Kolonien in Bessarabien und in dem Gouvernement Cherson. Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland. St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1855
6Hessenfliege, Getreideverwüster (Cecidomyia destructor), Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 453-455 (zeno.org), gemeinfrei
Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1
(5. Fortsetzung)
4. Die Kolonistenbezirke Neusatz und Zürichthal in der Krim
Gleichzeitig mit der Ansiedlung des Großliebenthaler Kolonistenbezirks und mit der Ankunft der ersten Molotschnaer Kolonisten in den Jahren 1804 und 1805 langten im wesentlichen aus denselben Stammgebieten die Krimer Ansiedlerpioniere an.
Karte Großliebentaler Kolonien2
Der ehemalige Neusatzer Kolonistenbezirk bestand aus den Kolonien Neusatz, Friedenhal, Rosenthal und Kronenthal, der ehemalige Zürichthaler Kolonistenbezirk aus Zürichthal, Heilbrunn und Sudak, welches erst 1812 gegründet wurde.
Karte Ausschnitt Krim aus der Karte Die Kolonien in den Gouvernements Jekaterinoslaw und Taurien 18553
Auch von ihnen kann im allgemeinen leider nicht gesagt werden, was den Kolonisten der zweiten Molotschnaer Ansiedlung nachgerühmt wird, daß sie genügende Kenntnisse vom Ackerbau hatten. Während die übrigen Kolonisten fast alle 60 Dessjatinen4 Landes auf die einzelne Wirthschaft erhielten, begnügten diese sich mit 30 bis 40 Dessjatinen, und selbst das war ihnen zu viel. So haben die Liebenthaler Kolonisten vermöge der Abneigung gegen einen größeren Landbesitz es dahin zu bringen gewußt, daß sie statt 60 nur 48 Dessjatinen Land auf die Wirthschaft besitzen.
Vierzig Schweizerfamilien waren es welche sich im Herbst 1803 unter der Leitung eines gewissen Herrn von Escher5 in Konstanz am Bodensee versammelten. Seidenweben und Baumwollspinnen war in der Heimath ihre Beschäftigung gewesen. Von Konstanz setzten sie per Boot über den Bodensee nach Mörsburg, um sich in Ulm den Wellen der Donau anzuvertrauen. In Wien rasteten sie 14 Tage. Von Preßburg begaben sie sich nach Rosenberg in Oberungarn, um da selbst Winterquartier aufzuschlagen. Als sie im Frühjahr 1804 aufbrachen, waren sie bereits 30 Personen weniger; diese waren infolge von Krankheit und Armuth ins Grab gesunken. Unterwegs gesellten sich noch neue Auswanderer zu ihnen, und auf diese Weise verstärkt, langten sie in der Umgegend von Feodosia an.
Reiseweg6
Ihren ersten Aufenthalt fanden sie auf einem dem Herrn General von Schütz gehörigen Gute, namens Karakoos. Das tatarische Dorf Oschailan, welches die Krone für sie erstand, wurde ihre Heimath, wohin sie zu Ostern 1805 übersiedelten. Zürichthal nannten sie ihr junges Nest zur Erinnerung an die alte Heimat. Wenn der Schweizer singt:
so ist darin alles Leid, alles Sehnen, alles ängstliche Bangen ausgedrückt welches die einsamen Pioniere in der ersten Zeit ihrer Ansiedlung unter den Krimischen Tartaren durchzukosten hatten. Bereits die Hälfte von ihnen war in einigen Jahren in jenes Land gegangen, wo der Christenglaube keinen Trennungsschmerz mehr kennt. Nicht einmal die letzte Ehre konnten die Hinterbliebenen ihren verstorbenen Lieben erweisen: in Lumpen gehüllt wurden diese ohne Bahre und Leichenzug unter bitteren Thränen der fremden Erde anvertraut. Sprache und Landessitten waren ihnen vollständig fremd, Lehrer und Seelsorger nicht vorhanden. Nicht einmal einen Brief verstanden sie in ihre alte, liebe Heimath zurückzubefördern.
Erst im Jahre 1822 traf der erste Pfarrer, Heinrich Dietrich7 aus der Schweiz, bei ihnen ein, und mit ihm begann das Aufblühen des hübschen Schweizerdorfes in den taurischen Bergen.
Kurz vor der Ankunft des ersten Pastors war auch der Bau des ersten Kirchleins vollendet worden. Zürichthaler und Neusatzer, sowie auch einige Molotschnaer, Mariupoler und Berdjansker Kolonisten sind es gewesen, welche in hervorragender Weise dazu beigetragen haben, die Halbinsel Krim, welche ihnen längst zu einer lieben Heimath geworden auf jene Stufe der Kultur zu heben, deren sie sich gegenwärtig erfreut.
Krim und Molotschna scheinen sich in letzter Zeit die Hand gereicht zu haben, um in rastlosem Vorwärtsstreben die Kultur und Ertragfähigkeit des südrussischen Bodens zu heben, den Absatz der Produkte zu erleichtern, die Intelligenz durch ein verbessertes Schulwesen zu fördern und so Gott und dem Vaterlande mit gutem Gewissen zu dienen. Glückauf zu diesem edlen Streben! Der Erfolg wird nicht ausbleiben!
Pastor Heinrich Dietrich7Um 1820 gab es das erste Gotteshaus, 1860 wurde ein Neubau eingeweiht, der auf einer Anhöhe zwischen Ober- und Unterdorf stand.
5. Die ehemaligen Kolonistenbezirke Glücksthal Kutschurgan und Beresana.
Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18558
Wie mag es den drei schwäbischen Familien wohl zu Muthe gewesen sein, welche im Jahre 1803 in dem armenischen Städtchen Grigoriopol am Dnjestr zunächst angesiedelt wurden! So hilflos und verlassen wie etwa die Zürichthaler Kolonisten in der Krim waren sie unter den sesshaften Armeniern freilich nicht, doch wird die Freude groß gewesen sein, als zwei Jahre darauf (1805) noch 67 württembergische Familien und 1807 24 Familien aus Ungarn sich zu ihnen gesellten. Diese Nachzügler waren mit den Goßliebenthaler und Freudenthaler Kolonisten zusammen in Rußland angekommen. 1808 und 1809 kamen die ersten Bewohner der Chersoner Kolonisten Rohrbach, Worms, Gücksthal, Neudorf, Bergdorf, Kassel, Selz, Kandel, Straßburg, Baden, Landau, Speier, Karlsruhe, Sulz, Mannheim und Elsaß in Rußland an. Auch von ihnen gesellten sich einige Familien zu den Kolonisten in Grigoriopol. Zwischen diesen Kolonisten und den Armeniern Grigoriopols entstanden Streitigkeiten, und der Generalgouverneur, Herzog von Richelieu, dem die Sache vorgestellt worden war, hielt es für gut, die Deutschen von den Armeniern zu trennen und sie mehr in der Mitte des ihnen angewiesen Areals anzusiedeln. Zu diesen Zweck wurden sie 1808 in das Moldovanerdorf Linoi überführt, während die Moldovaner aus Linoi an ihrer Stelle in Grigoriopol rückten. Die Deutschen, welche nach dem Plan der Regierung sich mit den Armeniern in Grigoriopol verschmelzen sollten, selbstverständlich als ein großes Glück angesehen und infolgedessen ihre neue Heimath Glücksthal genannt.
Im Jahre 1811 wurde Glücksthal mit Neudorf, Bergdorf und Kassel zusammen als Kirchspiel bestätigt. Der erste Pastor hieß Krusberg; er wurde bereits im Jahre 1816 wegen Unmoralität abgesetzt. Vom Jahre 1825 an jedoch besaß Glücksthal Prediger, die für das Wohl der Gemeinde ernstlich sorgten und im Verein mit den Ortsvorstehern viele Mißbräuche durch die Einführung von Zucht und guten Sitten abschafften. Das erste Kirchlein hatten die Glückstaler von den Moldowanern geerbt. Es wurde aber im Jahre 1832 wegen Baufälligkeit versiegelt und 1840 abgerissen. Anno 1843 wurde der Grundstein zu einer neuen Kirche gelegt, welche 1845 eingeweiht werden konnte.
Kirche Glücksthal, neu erbaut 1843-1845
Pastor Johann Bonekemper (1795-1857)9
Im Jahre 1824 wurde das Kirchspiel Worms-Rohrbach von Großliebenthal abgezweigt. Der erste Pastor war der bekannte „alte Bonekemper“, der Beförderer des kirchlichen Pietismus in den südrussischen Kolonien. Von Haus aus reformirt, führte er einen feindlichen Gegensatz zwischen den in Frieden nebeneinander lebenden und zu einer Kirche gehörenden Lutheranern und Reformierten herbei. Auch artete unter seinem bedeutenden Einfluss die pietistische Richtung in einigen Gemeinden des Gouvernements Cherson in ein ungesundes, schwärmerisches Wesen aus. Die konfessionellen Streitigkeiten führten endlich dahin, daß eines Tages ein ministerieller Befehl das Kirchspiel Rohrbach-Worms für reformiert erklärte, was zur Folge hatte, daß Johannisthal und Waterloo ein lutherisches Kirchspiel bilden. Dadurch waren aber die Lutheraner in Worms, unter welchen eine maßlose Propaganda zu Gunsten der reformierten Kirche getrieben wurde, nicht befriedigt, und sie traten zu einem besonderen Kirchspiel zusammen. Der Streit wurde, wenigstens äußerlich, erst dadurch geschlichtet, daß der Minister des Innern im Jahre 1885 erklärte, die beiden bisherigen Kirchspiele Johannisthal-Waterloo und Worms-Rohrbach sollen hinfort nur ein lutherisches Kirchspiel unter dem Namen Worms-Johannisthal bilden. Das reformierte Kirchspiel Rohrbach-Worms ist in seinem Bestande dadurch gesichert, daß ihm sämmtliches Kircheneigenthum, darunter auch 120 Dessjatinen Land, zugewiesen worden ist.
Während die östlichen Kolonieen an der Molotschna und in der Krim sowohl, als auch bei Mariupol und Berdjansk sich mehr auf wirtschaftlichem und zum Theil auf dem Gebiet der Schule hervorgethan haben, zeichnen die westlichen Ansiedlung der Bezirke Großliebenthal und Glücksthal, namentlich aber diejenigen der Beresana durch religiöse Bestrebungen oft recht unfruchtbarer Art aus. Immernoch hat sich die Religiosität dieser Leute nicht geklärt, obwohl den diesbezüglichen Streitigkeiten und Reibereien manches im Wirthschaftswesen und vorzugsweise auf dem Gebiet der Schule bereits zum Opfer gefallen ist. Es ist unglaublich, wohin der im kirchlichen und religiösen Gewande einherschreitende Oppositionsgeist hier in vielen Fällen geführt hat. Möge auch hier die aus einem ernsten Vorwärtsstreben erwachsene Selbsterkenntnis und Demuth bald zu einer besseren Aera führen. Möge die äußerlich so strenge Religionsausübung einem lebendigen Gottvertrauen und die Kehrseite der Selbstgerechtigkeit: Rohheit Trunksucht und Sauflust, bald milderen, wahrhaft christlichen Sitten Platz machen, dann wird Landwirthschaft und Schule, Gemeinde und Kirche in edlem Wetteifer jene herrlichen Früchte zeitigen, nach welchen die besten und edelsten Köpfe gerade unter diesen Kolonisten von jeher so ernstlich getrachtet haben.
6. Kolonie Hoffnungsthal im Chersonschen Gouvernement.
Wenn wir im nachstehenden die Entstehungsgeschichte der Kolonie Hoffnungsthal kurz behandeln, so folgen wir dabei im wesentlichen dem Bericht des Herrn Pastors M. Fr. Schrenk in seinem Büchlein: „Aus der Geschichte der Entstehung und Entwicklung der evangelisch-lutherischen Kolonien in den Gouvernements Bessarabien und Cherson“, welches im Jahre 1901 im Selbstverlage des Verfassers erschienen ist.
Nicht weniger als 1400 Familien machten sich im Frühling des Jahres 1817 auf, um aus Württemberg, ihrer bisherigen Heimath, auszuwandern. Ihr Ziel war weiter, als das aller anderen Ansiedler Südrußlands. Sir wollten nämlich, durch die Schriften Jung Stillings angefeuert, in Grusien vor den Drangsalen der antichristlichen Letztzeit einen sicheren Bergungsort suchen, wo sie ungestört ihres Glaubens leben könnten. Ein längeres Verbleiben in ihrer Heimath schien ihnen deshalb unmöglich, weil der Nationalismus im Kirchenregiment und der Unglaube in den Gemeinden immer weiter um sich griffen. Sie kamen bei der russischen Regierung mit der Bitte ein, ihnen in ihren weiten Gebieten eine Heimath mit dem Recht der kirchlichen Selbstverwaltung und der Wahl und Berufung ihrer Geistlichen zu bieten. Die Bitte wurde gewährt und der Beschluß zur Auswanderung endgültig gefaßt. In 14 Kolonien oder Abtheilungen reisten sie, wie alle südrussischen Auswanderer, von Ulm in vollgepfropften Ruderböten donauabwärts. Die Cholera und andere epidemische Krankheiten rafften viele schon auf der Reise dahin. Als sie in Odessa angekommen waren, sollten sie von dem damaligen Oberfürsorger für die ausländischen Kolonisten, General von Insow, veranlaßt werden, sich in der Nähe von Odessa anzusiedeln. Doch beharrten die meisten bei ihrem Vorsatz, nach Grusien zu ziehen, nur 300 Familien beschlossen zu bleiben. Einige von diesen 300 Familien gründeten im Jahre 1818 die Kolonie Töplitz in Bessarabien und Johannisthal und Waterloo im Chersonschen, während die übrigen, namentlich die zur Eßlinger, Walddorfer und Weissacher Kolonie gehörenden, sich auf dem ihnen angewiesenen Landgute „Zebricko“ im Tiraspoler Kreise niederließen und die Kolonie Hoffnungsthal bildeten. Im nächsten Jahre schon verließen jedoch nicht wenige Familien den eben erwählten Wohnsitz, um ihren Brüdern nach Grusien zu folgen. Die Zahl der Zurückgebliebenen erwies sich als zu gering, um das ihnen zugedachten Landgut in Besitz und Bearbeitung zu nehmen. Deshalb wurde ihnen die Erlaubnis ertheilt, von den angekommenen und in den Kolonien hin und her verteilthen Einwanderern so viele anzuwerben, bis die erforderliche Anzahl von Familien sich wieder zusammenfand, was im Jahre 1819 schon der Fall war. Diese Familien wurden unter der Bedingung aufgenommen, daß sie die religiösen Anschauungen der Hoffnungsthaler theilten.
Auf dem Landgut Zebriko befanden sich, wie in Nr. 7 des Jahrganges 1851 des „Unterhaltungsblattes“ berichtet wird, 17 baufällige Häuschen ohne Dach und innere Einrichtung und zu 15 anderen waren Steine und etwas Holz vorhanden. Diese unvollendeten Bauten hatte die Krone für bulgarische Ansiedler errichten lassen. Jedem der ersten 64 Wirthe wurden 500 Rbl. Banko zu Bauholz, Vieh und landwirthschaftlichen Geräten von der Krone vorgeschossen. Die später da dazukommenden 30 Wirthe erhielten einen abermaligen Vorschuß von 3000 Rbl. Banko. Außerdem standen den Ansiedlern 10.000 Rbl. Silber an zusammengebrachtem eigenem Vermögen zu Gebote. Da der Kolonie in früheren Jahren viel fremdes Land in der Umgehend zu Gebote stand, so hat der Ackerbau hier steht ihren Blüthe gestanden. Gute Ernten und Getreidepreise haben den Wohlstand sehr befördert.
Unterhaltungsblatt Nr. 7/185110
Die Kolonie hat dank ihren tüchtigen Prediger, Pöschel von 1837 – 1856 und Becker 1863 – 1887, welche sich aus dem Auslande berief, das Verdienst, inmitten der religiösen Wirren der übrigen Chersonschen Kolonien einen gesunden christlichen und kirchlichen Sinn nebst guten Sitten und Ordnungen sich bewahrt zu haben. Wohl hat es auch hier einige Aufregung gegeben, als die Gemeinde im Jahre 1888 unter das Ressort des St. Petersburgischen evangelisch-lutherischen Konsistoriums trat, aber die Wellen haben sich gelegt und der alte nüchterne evangelische Glaube ist in vielen Gliedern unerschüttert geblieben.
Kirche Hoffnungsthal 1926, rechts hinten die Schule. Der Glockenturm mit drei Glocken unterschiedlicher Größe, wurde je nach Bedarf mit unterschiedlichen Glocken geläutet. Das Dach war aus grün gestrichgenem Blech, die Wände, Kirchhofmauer weiß gekalkt, auf der Spitze des Daches ein sich drehender Hahn als Wetterfahne.11
Hier sehen wir, wie wohlthätig nüchternes Christenthum und bürgerlicher Fleiß sich gegenseitig zum Wohl des Menschen beeinflussen. Das Gebet befördert die Arbeit und die Arbeit das Gebet. So lange in einer Gemeinde beides in nüchternem Ernst geübt wird, bleibt jener lähmende Oppositionsgeist fern, welcher das Lebensmark und die Zufriedenheit des Bürgers verzehrt, und es herrscht stattdessen jene Liebe und jenes Vertrauen unter Gleichgestellten, Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Gemeinde, Lehrer, Seelsorger und Beamten, welches zu froher Arbeit belebt, die Freude am Dasein erhöht und die Gesundheit in jeder Hinsicht befördert. Möge es in Hoffnungsthal stets also bleiben und an anderen Orten, wo es dringend noth thut, bals so werden!
2 Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland.“ St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 1855.
4 1 Dessjatine = 2400 Saschen² = 10.925,3975 m² ≈ 1,1 ha
5 Caspar Escher vom Glas (1755-1831), Kaufmann, Stetrichter und Rittmeister, wanderte nach der Liquidation seiner Handelsfirma mit drei Söhnen 1789 nach Russland aus – Zürcher Taschenbuch, Band 118, Beer, 1997, p300ff
7 die Basler Missionsgesellschaft schickte Pfarrer Heinrich Dietrich (4.9.1794-4.9.1827) aus Schwerzenbach nach Zürichtal. Bild QS-30.001.0025.01, Reference: BMA QS-30.001.0025.01 Title: „Dietrich, Heinrich. “ Creator: unknown Date: 1822 “Dietrich, Heinrich. ,” BMArchives, accessed January 10, 2024, https://www.bmarchives.org/items/show/100206818.
8Die Kolonien in Bessarabien und in dem Gouvernement Cherson. Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland. St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1855.
10 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1851 Nr. 7, auf Mikrofilm, CMBS
11 Georg Leibbrandt: Hoffnungstal und seine Schwaben: die historische Entwicklung einer Schwarzmeerdeutschen Gemeinde, als Beispiel religiös bestimmter Wanderung und Siedlung und als Beitrag zur Geschichte des Rußlanddeutschtums; Bonn 1980, p133
Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1
(4. Fortsetzung)
„Der gute Herr Betmann2“ – so berichtet Ernst Walther weiter – „hatte Tag und Nacht zu thun mit Ertheilung der Reisepässe nach Südrußland und, dank ihm! es war ihm keine Mühe zu viel und er machte den Armen keine überflüssige Stunde Aufenthalt. Begleitet von seinen Glückwünschen betraten wir, in Kolonnen getheilt, hoffnungsvoll den Weg, wie uns der Zufall zusammenführte. Wer kein Fuhrwerk hatte, lud seine Habe auf einen Schubkarren; die Mutter band ihren Säugling oben darauf und spannte sich selbst mit einer Zugleine vor den Karren, während ein kleiner 7- bis 8jähriger Knabe, sich am Rocke der Mutter haltend, nebenher trabte und dieselbe mit den Worten tröstete: „Mutter, muscht nit heule, kommer bald zum Russema, der hat viel Brot und Salz. Gelt Mutter, dort finde uns d´ Franzose nit, der Russema stot vor Thüre na und lasst se nit rei, derno dersemer unser eins selber esse.“
Abschied – deutsche Emigranten auf dem Kirchhof3
Jenseits Offenbach bei Frankfurt a. M., am sogenannten Wäldel, sah man unter dem Schatten der Bäume alltäglich mehrere Reisefertige gelagert, Fußgänger zu Fußgängern, Karrenschieber zu Karrenschiebern, Fuhrwerke zu Fuhrwerken gruppierten sich gesellschaftlich zusammen. Württemberger, Badener, Hessen, Pfälzer und Elsässer ein gemeinsames Ziel verfolgen; jede Stunde erschallten die Begrüßungen hinzukommender und sich dem Zug anschließender, alle von Herrn Betmann mit Pässen versehener Auswanderer: „Woher? Wohin? Schließen wir uns euch an, um mit euch eure Hoffnungen zu theilen! Brüder! Wischt den Staub aus den Augen und laßt uns gemeinschaftlich ziehen! Holla! Holla! Vorwärts!“
Titelbild des Buches „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau“ : die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“4
Grodno war der erste Sammelplatz dieser Ansiedler auf russischem Boden. Hier kamen die Wohlhabenden etwas früher in der besten Stimmung transportweise an, während die Armen mühselig und allmählich nachfolgten. Im Auffahrtshofe bei Ivan Kulikowsky feierten sie dem Geber alles Guten ein Dankfest. An einem fröhlichen Abend wurde die Gesundheit Sr. Majestät des Selbstherrschers aller Reußen ausgebracht und am anderen Morgen die Einwanderung angetreten. Der Empfang der Nahrungsgelder bis Jekaterinoslaw hatte ihnen sehr wohlgethan. Sie waren in mehrere Kolonnen getheilt, von welche jede einen Obmann oder Anführer hatte. Im Verlauf der Herbstmonate des Jahres 1809 trafen sie allmählich in die Jekaterinoslaw ein, wo das Vormundschaftskomtoir für ausländische Ansiedler seinen Sitz hatte. Manche waren unterwegs dem Einfluß der ungewohnten Lebensweise und der Strapatzen der Fußtour erlegen. Der Vormundschaftskomptoir sorgte nun für die bestmögliche Einquartierung der Ankömmlinge in den bereits bestehenden deutschen Kolonien Josefsthal, Rybalsk, Großweida, im Chortitzer und Molotschnaer Mennonitenbezirk und in den ersten Ansiedlungen der Molotschnaer Kolonisten. „Die durch Sterbefälle entstandenen Lücken wurden zwischen Witwern, Witttwen und Jungfrauen größtenteils ausgefüllt, so daß im eigentlichen Sinne sehr wenig Verwaiste übrig blieben.“
Diese zweite Ansiedlung von Molotschnaer Kolonisten bestand aus etwa 600 Familien. Der größte Theil von ihnen besaß in ganz richtige Begriffe von der Landwirtschaft. Bei der Ansiedlung wurde leider keine Rücksicht auf den Unterschied der Konfession und Nationalitäten genommen, so daß die verschiedensten deutschen Landsleute, sowie Lutheraner, Kalvinisten und Katholiken nebeneinander und durcheinander zu wohnen kamen, was dem Frieden und der gedeihlichen Entwicklung sehr hinderlich war. Es wird diesen Pionieren der zweiten Ansiedlung zum Vorwurf gemacht, daß sie bei der Ansiedlung eben weiter nichts im Auge hatten, als möglichst schnell und an einem möglichst bequem gelegenen Platze Land zu bekommen. Doch für die damalige Zeit war das in gewissem Sinne entschieden ein Vorzug und bedeutete einen nicht geringen Fortschritt in der Geschichte der Kolonisation, denn viele der anderen Kolonisten hatten zu schwache Begriffe vom Landbau, als daß sie den Besitz des Landes überhaupt hätten schätzen können.
Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897.5
Die ersten Jahre der Niederlassung beschreibt Ernst Walther folgendermaßen: „Die Steppe über dem Thalufer war gänzlich unbewohnt und wurde nur von herumziehenden tatarischen Hirten (Nomaden) jährlich einige Male besucht, die den üppigen Wuchs des Grases nicht hemmten.“ „Noch bei der zweiten Ansiedlung haben solche Schäfer die Gegend besucht und mit Verwünschungen über Pflug, Grabscheit und Baumzucht durchzogen. Nach ihrem Bedürfniß ist ihnen eine lange Reihe von Jahren hindurch diese Gegend vom Urgroßvater her als Paradies vererbt gewesen und nun erschien ein in ihren Augen abscheuliches Volk, dessen Sprachlaute ihren Ohren widerlich berührten, um in diesem „gesegneten Lande“ das Unterste nach oben zu kehren.
Tatarische Steppe6
Weder ihre Gebete, noch ihre Verwünschungen wurden erhört, der Pflug zog Grenzen und zur Ansiedlung wurde im Frühjahr 1810 rasch geschritten. Jeder Familie wurden 60 Dessjatinen7 Landes zugetheilt und von Seiten der Behörde ein Vorschuß von 200 Rubel Banko gezahlt zu Anschaffung zweier Pferde, eines Wagens, einer Kuh, und für Saatfrucht, die zum Theil aus weiter Ferne geholt wurde. Damals kaufte man für 200 Rbl. mehr, als heute für 600 (das ist geschrieben im Jahre 1849! Anmerkung des Verf.); Bauholz zu einem 8 Faden8 langen und 4 Faden breiten Wohngebäude zur Stelle geschafft, bestand in dem Werthe von etwa 105 Rbl. Banko.“
Beispiel eines einfachen Pfluges, Foto von 1922, Kreis Mariupol 1922 (World ORT)
Die erste Ernte dieser neuen Siedler fiel schlecht aus. Wildheit des Bodens, schlechte Ackergeräthe, mangelhafte Aussaat, trockener Sommer waren die Ursachen. Der fünfte Theil der Ansidler erntete nur das Brot. Darauf folgte der „französische Winter“ des Jahres 1812. Sechs Wochen unausgesetzt Schneegestöber, 20 bis 26 Grad Kälte, große Armuth – das alles war nicht gerade geeignet, die in Erdhütten eingeschneiten, durchs Kamin aus- und einkletternden, landesfremde Westeuropäer in ihren leichten Zwilchkitteln zu ermuthigen. Den langen, bangen Winter hindurch wurden Ermangelung von Mühlen das Getreide zum Theil roh gegessen. Der Gedanke, daß der Feind endlich bei Moskau sein Ende gefunden, war die schönste Genugthung, und als endlich der späte Frühling ins Land zog, ging man frisch ans Werk für Gott, Kaiser und das neue Vaterland.
Postkarte mit Erdhütte in Antonowka am Styr9
Trotzdem das Molotschnaer Klima gesund ist, erkrankten im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte doch viele deutsche Ansiedler und manche mußten in ein frühes Grab gesenkt werden. Aus Mangel an Geld war man auf Tauschhandel angewiesen. Wie gering die Preise der landwirthschaftlichen Erzeugnisse damals waren und wie theuer der Landmann diejenigen Waaren bezahlen mußte, die er brauchte, beweist die von Ernst Walther berichtete Thatsache, daß man für ein Maß10 Kalkerde ein ebensolches Maß Roggen, für ein Pud11 Salz zwei Pud Weizen gab. Bei einer Fahrt von 100 bis 200 Werst12 erhielt man für ein Pud Weizenmehl den damals hohen Preis von einem Rubel Banko. Roggenmehl mengte man unter den Kalk zum Tünchen der Wohnung.
In Bezug auf die Ackergeräthe jener ersten Zeit erzählt Ernst Walther folgendes: „Die Ackergeräthe waren in einem elenden Zustande. Pflüge und Wagen waren zuweilen von der lächerlichsten Zusammensetzung, z. B. ein kleinrussischer Unterflug auf einem deutschen Karren, sogenannte Tschumackenräder am deutschen Wagengestell und umgekehrt. Die neuen Geräte waren theils aus über Uebereilung, theils aus Mangel an geschickten Handwerkern schlecht geraten. Am besten waren noch die von Mennoniten erhandelten Ackergeräthe. Weil dieselben aber alt und abgängig waren veranlaßten sie bald eine zweite Ausgabe.“
Wie hoch die Mennoniten in ihrem Wohlstande damals über ihren Nachbarn aus Süd- und Mitteldeutschland standen, zeigt folgende Anmerkung Walthers:
„… Man muss gestehen, daß hinsichtlich des Ackerbaus die Kolonisten von den Mennoniten manchen Handgriff erlernt und vielseitige Hilfe genossen haben; denn jene theils schon vor Ablauf des vorigen und beim Beginn dieses Jahrhunderts als geschlossene und bemittelte Brüdergemeinden auf noch günstigem Vorrechte hin aus Preußen eingewanderten Leute, reich an mancherlei Erfahrungen, waren zu jener Zeit schon an Wirtschaftsgeräthen und Gebäuden zu vortheilhaft eingerichtet, daß die Wünsche eines armen, so zu sagen vereinzelt dastehenden Kolonisten sich nicht von ferne erkühnten, einst auch diesen Standpunkt erreichen zu können.“
Der Molotschnaer Kolonistenbezirk bildete zunächst ein lutherisches Kirchspiel unter dem Namen Molotschna. Auf Verfügung der Kolonialbehörde traf im Jahre 1812 der erste Pastor, namens Sederholm, ein und ein Jahr darauf wurde der Grundstein zu der von der Krone erbauten Kirche gelegt, welche aber erst 1823 eingeweiht werden konnte. Dieses auf einem Hügel gelegene Kirchlein ziert heute noch den schmucken wohlhabenden Vorort Prischib, dessen städtischer Anstrich keine Erinnerung mehr an die Zustände jener Entstehungszeit aufkommen läßt.
Kirche Prischib13
Die Kolonistendörfer an der Molotschna stehen gegenwärtig wohl überhaupt unter den deutschen nicht mennonitischen Ansiedlungen im Süden Rußlands in der Kultur am höchsten. Möchte dieser Ruhm der Molotschna zum Sporn aller deutschen Brüder in unserem Vaterlande stets erhalten bleiben! Möchten Hochmuth und Selbstüberhebung verpönt sein, Fleiß aber und nüchterner Sinn im Verein mit unentwegtem Vertrauen zu Gott im Gehorsam gegen alle Obrigkeit zu einem solchen Fortschritt führen, daß alle die einst auf sie gesetzten Hoffnungen der Regierung sich auf das schönste erfüllen!
1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 12.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski
2 Simon Moritz von Bethmann, *31.10.1768 Frankfurt am Main, † 27.12.1826 Frankfurt am Main, evangelisch, Bankier, Abgeordneter, Hessische Biografie 4234
4 „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau : die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, ISBN 978-3-00-026821-2, kann zum Preis von 22,50 Euro beim Autor Norbert Gottlieb, Auf der Mauer 3, 76831 Ilbesheim, Tel. 06341/30403 erworben werden
5 Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897
Der Saschen (auch russischer Klafter oder Faden) ist ein altes russisches Längenmaß. Er wurde 1116 als „dreifache Elle“ erwähnt und mindestens ab 1493 als großer Saschen bezeichnet. Der Abstand der Handspitzen der waagerecht zu den Körperseiten gestreckten Armen wird als »geschwungener Saschen« oder Machovaja Saschen bezeichnet und betrug etwa 1,76 Meter. Nach einer Verordnung vom 3. Januar 1843 hatte 1 Saschen ab 1. Januar 1845 die Länge von 3 Arschin oder 2,13356 Meter.
Das o.g. Gebäude wäre also ca. 17 x 8,5 m gewesen.
9 Feldpostkarte Ertser Weltkrieg (1914-1918) mit Erdhütte in Antonowka am Styr, Druck und Verlag Julius Kreß, Hoflieferant Kassel
10 Maß, ursprüngliches Hohlmaß, je nach Region 1-2, heite 1 Liter entsprechend
11 1 Pud = 40 Pfund (russisch) = 16,38 Kilogramm Bei Getreide rechnete man 8 bis 10 Pud und bei Mehl brauchte man 9 1⁄3 Pud für ein Kuhl oder Sack.
Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(Eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus1)
(3. Fortsetzung)
Die evangelischen Ansiedler des Liebenthaler Bezirks, welcher in einem Wolostamte vereinigt war, bildeten zwei Kirchenspiele; im Jahre 1803 das Kirchenspiel Großliebenthal unter dem ersten Pastor Pfersdorf und das Kirchspiel Freudenthal, welches sich im Jahre 1812 unter seinem ersten Pastor Graubaum von Großliebenthal abzweigte. Zum Kirchspiel Großliebenthal gehören die in den Jahren 1803 bis 1805 von Württemberg aus begründeten Stammkolonieen Großliebenthal, Alexanderhilf, und Neuburg. Zum Kirchspiel Freudental gehören die in den Jahren 1805 bis 1807 von Ungarn aus besiedelten Stammgemeinden Freudental und Peterstal, wogegen der anno 1805 von Handwerkern gegründete gegenwärtige Badeort Lustdorf, in der Nähe Odessas am Schwarzen Meer belegen, von Odessa aus kirchlich bedient wird.
Karte des Liebenthaler Bezirkes
3. Der Molotschnaer Kolonistenbezirk.
Dem Kolonisten der Kolonie Kostheim Ernst Walther verdanken wir eine ausführliche Beschreibung der Einwanderung jener Rheinländer, welche sich im Jahre 1809 an der Molotschna in einer stattlichen Reihe von Dörfern ansiedelten. Er schreibt als Augenzeuge, und so gewinnt sein Bericht eine Lebendigkeit und Anschaulichkeit, wie sie sonst in den Geschichtsquellen der deutschen Kolonien Rußlands vergeblich gesucht wird. Seine verdienstvolle Arbeit, welche eine poetische Zueignung und dito Schluß nicht fehlt, ist im Jahrgang 1849 des „Unterhaltungsblattes für deutsche Ansiedler im südlichen Russland“ abgedruckt.
Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland3
Zunächst waren es 250 aus Preußisch Polen und Pommern eingewanderte Familien, welche bereits im Jahre 1804 folgende 8 Kolonien gegründet hatten: Monthal, Neudorf, Rosenthal, Molotschna, Hoffenthal, Nassau, Weinau und Wasserau.
Kartenausschnitt – Deutsche Kolonisation im Osten2
Diese 250 Familien stammten ursprünglich aus Nassau- Usingen,Württemberg, Baden und Rheinbaiern. Unter diesen Dörfern ist damals schon Molotschna oder Prischib als ehemaliger Sitz des Edelmanns Dubinsky , dessen mitten in dem zur Ansiedlung bestimmten Länderkomplex belegenes Gut von der Regierung für anderes Land eingetauscht worden war, wo der Vorort, wo der Inspektor, Freiherr von Uxküll wohnt und das Bezirksamt sich befindet. Ein ehemaliger preußischer Rittmeister und Kolonist der Kolonie Nassau ist Oberschulz. Diese ersten Ansiedler haben sich schlecht in die neuen Verhältnisse hineingefunden. Sie hatten gehofft, in ein Schlaraffenland zu kommen oder in „ein Paradies, wo Milch und Honig fließt“, und siehe da, der Milchfluss Molotschna leider nur gemeines Wasser. Jetzt waren sie geneigt, bei der ersten besten Gelegenheit davon zu gehen. Das Interesse für Gespenster, Hexen und verborgene Schätze war größer als dasjenige für eine ernste Pionierarbeit auf landwirthschaftlichem Gebiet. Abgefeimte Betrüger beuteten den Aberglauben der armen Kolonisten zugunsten ihrer eigenen Tasche aus. Die Armuth und Niedergeschlagenheit dieser ersten Ansiedler wich jedoch allmählich einem muthvollen Vorwärtsstreben, seit im Jahre 1809 und 1810 neue Ansiedler aus den Rheinländern hinzugekommen waren.
Wir können es nicht unterlassen, die Beschreibung der Auswanderung nach Südrußland im Jahre 1809, der Ankunft und der gastfreundlichen Aufnahme, die man hier fand, zum Theil wörtlich folgen zu lassen:
„Die Freiheitskriege der Franzosen hatten seit dem Jahr 1796 bis 1805 die Rheinländer Deutschlands mehrmals mit ihren Siegespanieren überzogen, Einquartieren, durchmarschieren, rekrutieren, exkutieren, einkassieren, illuminieren disponieren, füssiilieren waren die schönen, hochklingenden Worte, die in den friedlichen Gauen Deutschlands angestaunt wurden.
„Da uns von den Siegern versichert wurde, daß in diesen neuen Wörtern Glück, Weisheit, Aufklärung, Freiheit, mit einem Worte: die ganze Bestimmung des Menschen, ja der Himmel auf Erden enthalten sei, machten wir gutmüthig die Augen zu und sperrten den Mund desto weiter auf. Es schüttelten wohl einige „Griesgrämer“ die Köpfe und wollten die Sache verdächtigen, weil die hohen Worte alle mit „ieren“ und endigten, erkühnten sich sogar, Unglück aus denselben zu prophezeien; allein wir gaben unseren glänzenden Siegern mit Vergnügen Brot, Kleidung, Wein, ja das Hemd vom Leibe für die schöne Versprechungen. „Brauchen wir, doch nichts mehr“, so hieß, „unser ganzes Leben uns abmühen, Glück und Seligkeit zu suchen.“ O, so lange wir noch etwas hatten, hörten wir oft: „Ah! die Deutsch is sik ein brav´Mann! Nur schad, daß nit aufgeklärt, wir magken bald ein klug Volk von die Deutsch.“ Um aber uns diesen Himmel zu öffnen, mußte die alte deutsche Reichsverfassung in ihren Grundfesten erschüttert werden, und endlich, nach der Schlacht bei Austerlitz, wurde unter dem Schutze Frankreichs allen altdeutschen Albernheiten (wie man sie nannte) der Garaus gemacht und auf immer des Landes verwiesen, die denn auch gutmüthig, wie ein dienstloser Lehrer, ihr Bündel schnürten und, einer besseren Zeit harrend, in den Winkel kochen.
„Der Friede gab uns nun Zeit auszuruhen und den Franzosenhimmel anzuschauen; allein die Siegesgöttin prangte längst in Paris in Gesellschaft ihrer würdigen Schwestern. Dir Schuppen fielen uns allmählich von den Augen; von der neunkernigen Nuß blieben uns nur oiere: einquartieren, rekrutieren, einkassieren und illuminieren übrig.
„Durch solche traurigen Folgen der uns vorgespiegelten Freiheit wurden viele Tausende in der Blüthe der Jahre dahingerafft, das stille, häusliche Glück der meisten Familien gestört oder auf immer zerstört.
„Die Auswanderungen nach Amerika, Preußen und Oesterreich hatten schon längst begonnen, aber Unbemittelte konnten so etwas nicht wagen. Da erscholl nach dem Frieden bei Tilsit in den deutschen Rheinlanden auf einmal eine Stimme aus dem fernen Osten, die rief:
„Kommet her, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch eure Last erleichtern. Kommet her, die ihr hungrig seid; ich will mein Brot mit euch theilen. Kommet her, die ihr betrübt seid; ich will euch trösten. Kommet zu mir alle, die ihre Kinder lieben; ich will sie euch erhalten. Kommet und empfanget den Segen, womit der Herr mich gesegnet hat.“
„Diese Stimme – wer von uns allen kann sie hier vergessen? – kam von der Majestät des Kaisers Alexander Pawlowitsch, dem Engel des Vaterlandes, dem Friedensengel Europas. Die letzten, sinkenden Kräfte wurden neubelebt. Als strahlender Himmelsbote trat der Aufruf des menschenfreundlichen Monarchen vor die Hütte der Armuth, die Stätte des Elends, die frohe Botschaft zu verkünden, welche wir mit Freundenthränen zujauchzten. „Ach Gott! Wenn´s nur auch wahr ist? seufzte die Armuth mit ungläubigem Kopfschütteln, „wir wären ja längst in die entfernteste Wüste gewandert, wie viele unserer Brüder, wenn nicht an Kraft gebräche.“
„Der Kaufmann Betmann4 in Frankfurt am Main hörte mitleidig dem Gespräch seine armen Landsleute zu und sprach: „Seht lieben Leute! Diese Nacht ist auch von Osten dieser Trost zugegangen.“ „Was ist´s, was? frug die Neugierde hastig. „Ein Papier, gedruckt mit deutscher Schrift, aus Rußland“ war die zauberisch klingende Antwort. Waren wir da entzückt und mit welcher Begeisterung lasen wir die in Rußland deutsch gedruckten Worte:
„Allgemeine Reglements, die Aufnahme fremder Kolonisten in Neurußland betreffend!“
Die Reglements, welche unser Gewährsmann Ernst Walther wörtlich wiedergiebt, bestehen aus 12 Punkten. Nach diesen Reglements durften keine Lockmittel angewendet werden, um die Leute zur Auswanderung zu bewegen. Alle diejenigen, welche diesen Wunsch hegten, sollten sich bei den Ministern, Residenten, Geschäftsträgern oder Konsuln Seiner Majestät melden. Nach eingeholter Erkundigung über ihre Umstände und Aufführung wurden ihnen dann die nöthigsten Reisepässe nach der russischen Grenze ertheilt. Jeder musste ein gerichtliches Zeugnis aufweisen, daß er ein guter Landwirth sei und seine Schulden berichtigt habe. Jede Person sollte wenigstens Tl. 300 in barem Gelde oder in Waaren bei der Auswanderung besitzen. Jede ledige Person mußte sich an eine Familie anschließen. Jeder Kolonist durfte außer der zollfreien Einfuhr seiner Effekten noch Waaren im Werth von 300 Rbl. auf die Familie behufs Wiederverkauf frei einbringen. Wer Rußland wieder zu verlassen wünschte, mußte außer den Geldern, die er der Krone oder sonst jemandem schuldete, eine dreijährige Abgabe seinem Stande gemäß entrichten. Auch musste er sein Land an jemanden verkaufen oder abtreten, der im Lande blieb. Wegen Ungehorsams und sonstiger Vergehen sollten die Kolonisten nach Entrichtung ihrer Kronsschulden über die Grenze zurückgebracht werden.
1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 05.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski
2 Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897.
3 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1849 Nr. 6, auf Mikrofilm, CMBS
4 Simon Moritz von Bethmann, *31.10.1768 Frankfurt am Main, † 27.12.1826 Frankfurt am Main, evangelisch, Bankier, Abgeordneter, Hessische Biografie 4234
Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus1)
(2. Fortsetzung)
Entstehungsgeschichte der evangelischen Kolonien
Im Chersonschen, Taurischen u. Jekaterinoslawschen Gouvernement
Einleitung – Jubiläum! Das ist in unserer Zeit kein unbekanntes Wort. Es wird fast zu viel jubiliert. Hat doch sogar ein Mann das Jubiläum seiner Henne gefeiert, als diese ihr tausendstes Ei gelegt hatte. Wenn aber in Blick auf das zurückgelegte erste Jahrhundert ihres Bestehens in vielen unserer deutschen Kolonien in Südrussland von einem „Jubiläum“ gesprochen wird, so ist das ganz etwas anderes. Sie haben guten Grund dazu. Ihr Fortschritt ist in diesem Zeitraum in jeder Beziehung ein außerordentlicher gewesen. Die Zahl ihrer Dörfer und die Größe Ihres Landbesitzes ist in dem Maße gewachsen, wie die Zahl ihrer Köpfe. Das Rußland für sie eine wahre Heimath geworden ist, merkt man am Aufblühen ihrer Kultur, ihrer Schule, ihrer Kirche und ihres Gemeinwesens. Haben die Kolonisten dies zum Theil ihrer eigenen Kraft und Tüchtigkeit zu verdanken, so dürfen Sie füglich auch einmal feiern und, durch den Rückblick auf die Vergangenheit festlich gehoben, sich ihrer selbst im edlen Sinne des Wortes bewußt werden. Dann werden ihnen auch ihre Fehler und Mängel lebendig vor die Augen treten. Derer sind nicht wenige, und wenn trotzdem ein so schöner Fortschritt konstatirt werden muß, so ist das wahrlich nicht ihr Verdienst allein. Das Entgegenkommen, die Langmuth und Geduld der Obrigkeit, namentlich in der ersten Zeit der Ansiedlung, hat ebensoviel dazu beigetragen, als die eigene Tüchtigkeit; – das darf nicht verschwiegen werden. In allem aber hat wunderbar die göttliche Vorsehung gewaltet, welche die Geschicke der Menschen leitet. Wer das demüthig anerkennt, der hat die richtig Jubiläumsstimmung und wird sich gern ein Stündchen in die Entstehungsgeschichte der Kolonien vertiefen.
Um die öden, aber außerordentlich fruchtbaren Gegenden an der Wolga und im Süden Rußlands zu besiedeln, berief die Kaiserin Katharina die Zweite ausländische Kolonisten. Sie stellte ihnen zinsfreie Darlehen von Kapitalien auf zehn Jahre und die Befreiung von jeglichem Dienst und Abgaben im Laufe von 30 Jahren in Aussicht. Den Entschluß, in ihrem großen Kaiserreiche Ausländer aufzunehmen, verkündete sie durch ein Manifest am 4. Dezember 1762; am 22. Juli 1763 erließ sie ein neues Manifest, wodurch Ausländer nach Rußland berufen wurden, um unter deutlich bezeichneten Vorrechten und Rechtsverhältnissen sich in Rußland bleibend niederzulassen. Darauf wurden nach verschiedenen Ländern Europas Bevollmächtigte ausgeschickt, um Auswanderer anzuwerben und einzuführen. Muni, La-Roy2 und Baron vonBork waren solche Bevollmächtigte, welche Direktoren genannt wurden.
Durch dieses Vorgehen der großen russischen Kaiserin war den auswanderungslustigen Westeuropäern außer Ungarn und Nordamerika auch Rußland als Zufluchtsstätte geöffnet. Der Strom der westeuropäischen Auswanderung entsandte für eine lange Reihe von Jahren einen nicht unbedeutenden Arm in die Länder des Zarenreiches, da auch Kaiser Alexander der Erste, dem Beispiel Katharinas folgend, ausländische Ansiedler nach Rußland berief. Dieser Strom versiegte erst, als unter Nikolai dem Ersten keine Kolonisten mehr nach Rußland berufen wurden.
Der Siebenjährige Krieg, welcher die deutschen Staaten zerrüttet hatte, die Austreibung der Protestanten wodurch Frankreich erschüttert worden war, und Schrecken, welche die französischen Heere unter Napoleon dem Ersten über die deutschen Lande brachten, religiöse Bewegungen, Hungersnoth, Sucht nach Abenteuern, einfacher Wandertrieb und der allgemeine Drang nach Osten, um den biblischen Ländern Kaukasiens und Palästinas näher zu sein, waren die Faktoren, dank welchen der Aufruf der großmüthigen Beherrscher des europäischen Ostens nicht ohne Widerhall blieben.
Ungefähr ein halbes Jahrhundert währte die Einwanderung der Deutschen in Rußland, doch ging dieselbe nicht in ununterbrochener Gleichmäßigkeit, sondern stoßweise von statten. Zu verschiedenen Zeiten stellten sich, d. Ruf der russischen Regierung Folge leistend, Gruppen von Kolonisten ein, welche dann auch meistens gemeinsam in den ihnen zugewiesenen Gebieten angesiedelt wurden. Die einzelnen Kolonistenbezirke weisen daher in der Regel verschiedene Ansiedlungsperioden auf. So sind nacheinander folgende Bezirke entstanden:
Die Bezirke der Wolgakolonisten, angesiedelt in den Jahren 1764 – 1770
Der schwedische Kolonistenbezirk, zum ersten Mal angesiedelt von Kolonisten schwedischer Nation aus Estland im Jahre 1782.
Altdanzig 1787.
Der Chortitzer Mennonitenbezirk 1789
Josefsthal und Rybalsk 1789.
Jamburg 1792
Der Liebenthaler Kolonistenbezirk 1803 – 1805.
Der Molotschnaer Mennonitenbezirk 1804.
Der Molotschnaer Kolonistenbezirk 1805 -1810.
Neusatz und Zürichthal in der Krim 1805.
Der Kutschurganer, Glücksthal und Beresaner Kolonistenbezirk 1808.
Der Klöstitzer und Malojaroslawetzer Kolonistenbezirk 1814.
Hoffnungsthal im Gouvernement Cherson 1817.
Der Sarataer Kolonistenbezirk 1822.
Chabag bei Ackermann
Der Berdjansker und Marinpoler Kolonistenbezirk 1822.
Soweit ist der Raum gestattet, soll im Folgenden die Geschichte der Ansiedlung der protestantischen Kolonieen des Chersonschen, Taurischen und Jekaterinoslawschen Gouvernements mit Ausnahme der Mennonitenbezirke und der zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts entstandenen Kolonien Alt-danzig, Josefsthal und Rybalsk hier kurz behandelt werden. Auf Vollständigkeit darf die Darstellung einer so reichhaltigen Chronik, wie die verschiedenen Kolonistenbezirke in dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von kaum 100 Jahren sie bieten, keinen Anspruch machen. Es fehlt vielfach auch leider an zuverlässigen Quellen. Mögen diese Zeilen dazu dienen, daß einige fähige Köpfe angeregt werden, zu thun, um von der Geschichte der Kolonieen der Vergessenheit zu entreißen, was noch nicht rettungslos verloren ist.
1. Der schwedische Kolonistenbezirk.
Dieser Bezirk besteht aus den Kolonieen als Altschwedendorf, Mühlhausendorf, Schlangendorf und Klosterdorf bis zusammen etwa 2600 Einwohnern. Die Kolonie Altschwedendorf wurde im Jahre 1782 von den schwedischen Bauern des Kirchspiels Roicks auf der zu Estland gehörenden Insel Dagden angesiedelt. Da diese schwedischen Bauern in ihrer Heimath mit ihren Gutsherren in endlosen Streitigkeiten lebten, so verhängte Kaiserin Katharina die Zweite die harte Strafe über dieselben, sich im Gouvernement Cherson anzusiedeln. Trotz allen Wehklagens mussten 1200 Personen, darunter Greise und Kinder, die in damaliger Zeit außerordentlich beschwerliche Reise antreten. 300 Personen starben unterwegs. Ein Teil fiel der Pest zum Opfer, welche bald nach der Ansiedlung ausbrach. Einige ergriffen sogar die Flucht.
Reiseweg der Schweden (selbst erstellt mit google maps11)
Im Jahre 1794 bestand die Kolonie nur noch aus 227 Personen, und doch hatte sie 12.000 Dessjatinen Land zugewiesen bekommen. Ein Beweis, wie gering der Wert des Landes damals angeschlagen wurde, ist die Thatsache, daß die Kolonie Altschwedendorf im Jahr 1804 einen Theil ihres Landbesitzes an die neu entstehenden Kolonien Mühlhausendorf und Schlangendorf abtrat.
Skizze zur Lage der schwedischen Kolonien, Sep. 19423
Im Jahre 1863 – so berichtet G. C. Nöltingk in seiner Festschrift: „Bericht über die Wirksamkeit der Unterstützungskasse für evang.-luth. Gemeinden in Rußland“ – stellte sich die Nothwendigkeit heraus, an Stelle des alten verfallenen Kirchleins vom Jahre 1788, das so klein war, daß immer nur eine der drei Kolonien zur Zeit den Gottesdienst besuchen konnte, eine neue Kirche zu bauen. War es bloß konservativer Sinn, daß die Schweden die neue Kirche durchaus an dem Platz haben wollten, wo die Kaiserin Katharina die erste erbauen ließ, der am äußersten Ende der Ansiedlung lag; – die Deutschen, in Uebereinstimmung mit dem Konsistorium, in der Mitte der Dörfer neben dem Pastorat. Der Streit währte über ein Jahrzehnt, bis die Unterstützungskasse ihre Beisteuer zum Bau im Betrag von 1200 Rbl. zurückzuziehen drohte, falls derselbe nicht vor dem Ende des Jahres 1878 in Angriff genommen sein werde. Diese beklagenswerthe Uneinigkeit mag wohl die lange andauernde Pfarrvakanz und damit den Beschluß des Bezirks-Comites vom Jahr 1883 veranlaßt haben, ein Theologenstipendium von 300 Rbl. ausschließlich zu Gunsten Altschwedendorfs zu gründen.
Schwedisch-lutherische Kirche, Zmiivka4
2. Der Liebenthaler Kolonisten Bezirk.
Zu Anfang unseres Jahrhunderts, als sämmtliche Staaten Westeuropas vor der Wahl standen, „sich entweder dem despotischen Soldatenkaiser Napoleon zu ergeben oder als Ueberwundene nach der Strenge les Kriegsgesetzes behandelt zu werden“, erging von Seiten des menschenfreundlichen Kaisers Alexander des Ersten von Russland durch seine Gesandten und Konsuln an Auswanderungslustige in Württemberg die willkommene Einladung, ihre Heimath zu verlassen und als Kolonisten nach Rußland zu kommen. In den Jahren 1803 und 1804 begann die Auswanderung zu verschiedenen Zeiten in einzelnen Kolonnen oder Transporten. Zwei Regierungskommissäre, Ziegler und Esch hatten die Sammlung der deutschen Bauern zum Zweck der Ansiedlung in Rußland zu bewerkstelligen. Der jeweilige Sammelplatz der Auswanderer war die Stadt Ulm in Württemberg. Hier schiffte man sich ein, um die Reise auf dem Wasserwege die Donau hinunter über das Schwarze Meer zu machen.
Gegen 1000 Familien trafen allmählich unter der Leitung der Regierungskommissäre in Odessa ein, in dessen Umgegend sie ihre neue Heimath finden sollten. Graf Pototsky hatte hier sein Land der Regierung verkauft, und nun wurde es den deutschen Ansiedlern zugemessen. Von der russischen Grenzstadt Raziwilow an, wo einige Kolonnen 2 Monate lang Winterquartier aufschlugen, bekamen sie bis zur Ansiedlung von der hohen Krone nebst Vorspann täglich auf den Kopf eines Erwachsenen 10 Kop. und eines Kindes unter 14 Jahren 5 Kop. Diese Gelder wurden ihnen am Ort ihrer Bestimmung noch 2 Jahre lang unter dem Namen Tag- oder Nahrungsgeld geschenkweise ausgezahlt. Außerdem bekam jeder Familienvater vorschussweise das Nothwendigste an Feld- und Hausgeräthschaften, Brot- und Saatfrucht, ein Paar Ochsen, einen hölzernen Wagen, fünf Rbl. Banko für eine Kuh, einen Pflug und auf 3-4 Wirthe eine Egge. Dieser Vorschuss belief sich auf jeden Wirth mit Einschluß des Fachhauses, welches die Krone ihnen baute, auf 355 Rbl. Banko. Es gab auch wohlhabende Leute unter den Ansiedlerpionieren das Liebenthaler Bezirks, welche weder Reise- noch Tagegelder namen; aber ihre Zahl läßt sich nicht mehr feststellen.
Die Ansiedlung geschah unter der Oberaufsichts des damaligen Generalgouverneurs von Neurußland, Herzog von Richelieu, durch den damaligen Verwalter der Odessaschen ausländischen Ansiedlungen, Fürsten von Meschtschersky. Zu den ersten Ansiedlern aus Württemberg gestellten sich noch solche, deren Eltern in den Jahren 1782 und 1783 aus Württemberg und Rheinbaiern nach Ungarn gezogen waren und selbst im Padscher Komitat und Banat geboren sind. In Ungarn den Betrieb der Landwirthschaft gründlich erlernt und zogen es vor, den russischen Boden zu bearbeiten, weil ihnen daselbst unter anderem Freiheit vom Militairdienst versprochen wurde. Später kamen noch Handwerker und andere Beisassen hinzu, welche zwar kein Land, aber Gartenstücke und Hausplätze erhielten und Kleinhäusler genannt wurden.
1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 28.11.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski
2 Le-Roy, in russischen Diensten stehender Unternehmer und Werber, seine Transporte zogen über Regensburg, Weimar, Lüneburg nach Lübeck, von dort per Schiff nach Russland
3 Kartenskizze aus der AkteAlt Schwedendorf des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Mikrofilm LDS 007938111
5 Die letzte Ulmer Schachtel, Max von Eyth (1836-1906), erstellt 27.4.1897, Stadtarchiv Ulm, siehe auch Deutsche Fotothek Bild mi13513c02
6 Der Kehlheimer, mit bis zu 42 m, die größte Zille auf der Donau. aus: Schaefer, Kurt; Architectura Navalis Danubiana. Erweiterung 1995. 5. Aufl., S. 299
7 Ing. Ernst Neweklowsky: Donauschiffe (mit 7 Abb.) in: Heimatgauer, Zeitschrift für oberösterreichische Geschichte, Landes- und Volkskunde. Hrsg. von Dr. Adalbert Depiny, Verlag R. Pirngruher, Linz 10. Jahrgang 1929 2. u. 3. Heft, p.160
8 Die Donau bey Kellheim in Bayern. Original-Stahlstich um 1840, Anonymus, Verlag Hildburghausen, Bibliographisches Institut um 1840, Ordinari – reguläre Schiffsfahrt
9 The Bloxberg (from Pesth). Der Gellértberg vom gegenüberliegenden Ufer; Stahlstich von C. Cousen nach W.H. Bartlett, um 1840
10 Johann Peter Fehr, Ulm von Osten, 1795, Aquarell, (Ulmer Museum)
Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski
(Eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1
Fortsetzung
Von hier an beginnt die energische Auswanderung der russischen Bevölkerung in die Gebiete des heutigen Neurußlands, und zwar die jetzigen Gouvernements Cherson und Jekaterinoslaw, sowie auch die strengere Unterscheidung zwischen den unter einem Heiman stehenden „oberen“ Kosaken im Kiejwschen, Tschernigowschen und Poltanwaschen, d. h. den registrirten und ihrer Verwandtschaft und Anhang einerseits und den unter Kosaken, den Saporogern, in unseren Steppen andererseits. Anfangs bevorzugen die Saporoger, wie sich alle in den russischen Städten Angesiedelten nannten, auch wenn sie vielleicht nur den Sommer hier, den Winter aber in der alten Heimath verbrachten das Land zwischen Dnjepr und Bug, so weit es nicht in den Händen der Tataren war, also die heutigen Kreise Alexandria und Jelisawetgrad, des Chersoner und Werchnednjeprpetrowsk und Jekatherinoslawschen Gouvernements. Im 17. Jahrhundert dehnten sie ihre Herrschaft auch über das Land am rechten Dnjeprufer aus. Hier reichte ihr Gebiet im Norden ungefähr bis zur Orel, im Osten bis zum Donez und im Süden bis zur Woltschja. In dem Gebiet, dass diesen Jägern und Kriegern von jeher das wichtigste gewesen war, d. Niederung zwischen dem heutigen Alexandrowsk und der Mündung des Rogatschik, dort befand sich an wechselnden Orten, immer auf der rechten Seite des Dnjepr (die Linke war tatarisch) der Sitz der Regierung dieser Aussiedler, die Sitsch2, wo nur ehelose Kosaken wohnen durften.
Karte der rechtsufrigen Gebiete nahc der Teilung 1667 durch den russisch-polnischen Vertrag von Andrussowo3
An der Spitze stand der Koschewoi Ataman4, der durch Wahl eingesetzt wurde und durch Stimmenmehrheit auch wieder abgesetzt werden konnte. Unter den Koschwoi standen die Atamans der Unterabtheilungen des ganzen Saporoger Heeres, der Kurenji, die den Charakter von Landsmannschaften trugen, da sich gewöhnlich die von einer Gegend Stammenden zu einer Kuren vereinigten. Solcher Kurenje gab es 38, deren Mitglieder ihren Wohnsitz hin und her im Lande, der Sitsch dagegen nur eine Vertretung hatten. – Die beste Einnahme hatten die Heeresregierungen von den fünf Ueberfahrten über den Dnjepr und der einen über den Bug, von bedeutendste bei der Mündung der Worskla ca. 12.000 Rubel jährlich Eintrug. Nächstdem brachte den meisten Gewinn die Abgabe von einem Rubel von jeder Familie der verheiratheten Kosaken, die über 12.000 Rubel im Jahr ausmachte. Eine nicht zu verachtende Einnahmequelle der Regierung war auch die Steuer von den zahlreichen Schenken. Abgaben der Kaufleute, die in der Sitsch oder an anderen bedeutenden Orten des Landes Handel trieben, oder der Tschumaken, die die Waaren aus der Krim und in die Krim beförderten, sowie verschiedene Strafgelder flossen zum kleinsten Theil in die Kasse des Heeres, sondern kamen mehr der örtlichen Behörde, die sie erhob oder auflegte, zu gut. Eine manchmal bedeutende, aber recht unsichere Einnahme der Heeresverwaltung waren die Geschenke von Moskau, Polen und von dem krimschen Chan.
Das Verhältnis der Saporoger, sowie auch der oberen Kosaken zum polnischen Reich war ein sehr wechselvolles. Bald werden sie vom König belobt und als Muster hingestellt, bald werden sie Feinde des Vaterlands genannt, die mit allen Mitteln bekämpft werden müssen – je nachdem sie gerade im Kampf gegen Türken oder Tataren oder den Zar von Moskau nöthig waren oder nicht oder je nachdem sie das gute Verhältniß zu diesen Staaten durch Räubereien, wofür die polnische Krone verantworten mußte, störten oder nicht. Die feindselige Stimmung gegen Polen wuchs jedoch beständig und endlich machten sich die Kosaken unter der Führung Bogdan Chmelnitzkis5 in der Entscheidungsschlacht an den Scheltya Wody, einem Nebenfluß des Ingulez, von diesem Reiche los und stellten sich unter die Oberherrschaft des Moskauischen Zaren.
„Der Tod des Stefan Potocki in der Schlacht von Zhovti Vody“ im Jahre 16486
In den darauffolgenden Kämpfen fielen die oberen Kosaken rechts vom Dnjepr wohl wieder an die polnische Krone zurück, aber die links vom Dnjepr wohnenden blieben endgültig bei Moskau, sowie auch die Saporoger. Diese letzteren freilich spielten auch jetzt das alte Spiel: von wem sie Vortheil erhofften, dem dienten sie, heute dem Zaren, morgen dem Polen, und wenn´s Nutzen versprach, übermorgen dem türkischen Sultan. Wir verstehen dieses Hin und Her aber besser, wenn wir im Auge behalten, daß sie im Grunde eine vollkommen unabhängige Stellung inne hatten, und wenn wir sehen wie sich die Beherrscher von Polen, der Türkei, des heiligen römischen Reichs und sogar der Zar von Moskau dem sie doch eigentlich unterthan waren, sich immer wieder um ihre Bundesgenossenschaft bewarben, zumal wenn die Bewerbungen von manchmal recht bedeutenden Geschenken und in der Regel von den verlockendsten Versprechungen begleitet waren. Aber das muss gesagt sein. Sympathie führten die Kosaken nur zu dem stamm- und glaubensverwandten Moskau, dem ihre Nachkommen denn auch in Treue dienen bis auf den heutigen Tag.
Der Kampf zwischen Tataren und Türken einerseits und den Saporogern, dem Moskauschen und dem polnischen Reich andererseits drückte dem Leben in unseren Steppen im 17. und bis tief ins 18. Jahrhundert hinein den Stempel auf. Dem Tataren war’s nicht genug, zwischen Berda und Donau seine Schafe und Pferde zu weiden, er wollte von Zeit zu Zeit auch schnellen und reichen Gewinn erjagen, und den konnte er nur auf Raubzügen in die angrenzenden Gebiete finden, die ihm oft große Beute an Menschen und Vieh brachten. Kleine Raubüberfälle in russisches Gebiet kamen Jahr für Jahr vor, dann und wann auch große, die in ihren Folgen immer höchst verderblich waren. Wie störend und schadenbringend diese fortwährenden Beunruhigungen und der damit verbundene Menschenraub für die Kolonisation der Steppen-Grenzländer des Moskauischen Reiches war, sieht man aus dem beständigen und angestrengten Bestreben dieses Reiches, solche Ueberfälle thunlichst zu verhindern durch einen außerordentlich entwickelten Wachpostendienst, durch Anlage von Grenzwällen mit befestigten Orten, die eine kriegstüchtige Einwohnerschaft erhielten, und endlich: kriegerische Unternehmungen größeren Stils, um die Räuber in ihren Schlupfwinkeln zu bestrafen und ihnen Furcht vor der Macht des Zaren einzuflößen. –
„Angriff der Tataren“ von Georges Marie Rochegrosse (1859-1938)7
Aber der Einbruch der tatarischen Banden geschah dadurch, daß jeder einzelne Reiter 2 – 3 Pferde mitnahm, die er nach Bedarf wechselte, mit so großer Schnelligkeit, daß gewöhnlich der Feind schon mit der Nachricht von seinem Anrücken ins Land kam. Die befestigten Wälle, so wirksam auch Gräben und Schanzen hergestellt waren, wie z. B an der heute noch imposanten, sogenannten Ukrainschen Linie zu sehen ist, im Süden des Poltawschen und Charkowschen Gouvernements vom Dnjepr zum Don zog, – die Tataren brachen durch, und ehe Hilfe dawer, waren sie meist schon wieder zurück und der Strafe entgangen. Auch die großen Strafzüge in die Krim, unter Golizyn im 17. und unter Minnich im 18. Jahrhundert, verliefen resultatlos, da die Tataren einer Schlacht auswichen und schließlich in den Einöden unsrer Steppen der Proviant für die zahlreiche Mannschaft und für die Pferde ausging, so daß nur der Rückzug die Heere vor großem Unglück bewahrte. – Der Moskauische Staat suchte übrigens dem massenhaften Verluste seiner Unterthanen bei den Raubzügen der Tataren dadurch zu begegnen, daß er von seinen Unterthanen eine besondere Abgabe erhob, eine sogenannte Gefangenensteuer, die zum Loskauf von Gefangenen verwendet wurde, und ferner dadurch, daß er zur Flucht aus der Gefangenschaft anspornte durch Verleihung besonderer Vergünstigungen an solche Gefangene, die sich durch Flucht in die Heimath gerettet hatten. Es ist aber doch begreiflich, daß unter diesen Umständen die Kolonisation der Steppe von Seiten des Moskauer Zarthums nur langsam von statten ging. Und auch die Besiedlung durch die Saporoger, obgleich sie immer weitere Gebiete umfaßte, war recht spärliche; Leute, die vornehmlich von Jagd und dem Ertrag irer Heerden leben, brauchen eben außerordentlich viel Raum.
Angriff der Kosaken in der Steppe8
Unsere Steppen begannen sich mehr zu bevölkern, erst als die Regierung zur Massenansiedlung schritt. Peter der Große griff als erster zu diesem Mittel und siedelte im Jahre 1723 ein Regiment Serben und Ungarn bei der Stadt Slawjansk an. In größeren Stil wurde die Besiedlung fortgesetzt von der Kaiserin Anna, die die „Ukrainsche Linie“ mit 20.000 Landwehrsoldaten besetzte, und von der Kaiserin Elisabeth, die Schaaren ausländischer Soldaten slawischer Abstammung als Ansiedler ins Land rief. In zwei großen Zügen, im Jahre 1751 und 1753, kamen sie herein und wurden im Nordosten des heutigen Chersonschen und im äußersten Osten dass sie Jekaterinoslawschen Gouvernements angesiedelt. Noch heute tragen viele Ortschaften im Osten des Bachmuter Kreises die Zahl der betreffenden Kompangie (pota), die sich damals da selbst niederließ, als allgemein gebräuchliche Namen, z. B. wird das Dorf Beprhee am Donetz Lissitschansk allgemein „dritte Rotte“ genannt und so haben wir eine „fünfte“ Rotte u.a.m. – Zum Schutz der bei dieser Kolonisation aus dem Jelisawetgradschen nach Süden gedrängten Altgläubigen wurde unter diesen in beträchtlicher Anzahl russisches Militär angesiedelt.
Und was sagen die Saporoger zur Besitzergreifung dieser Gebiete, die sie z. Th. seit mehr als 150 Jahren in unbestrittenen Besitz gehabt hatten? Sie protestirten; aber das war auch alles. Seit Peter, der ihnen anfangs sehr gewogen gewesen war, sie für ihr Bündniß mit Mareppa und Karl von Schweden im Jahre 1709 aus dem Lande vertrieben hatte, war ihre Macht dahin. Und als sie auf die Erlaubniß der Kaiserin Anna im Jahre 1733 wieder zurückkehrten, konnten sie ihre frühere Stellung als nur dem Namen nach abhängiger, in Wirklichkeit aber selbstständiger Staat im Staate nicht mehr zurückgewinnen. Sie hatten auch ihre Bedeutung verloren. Die Tataren war nicht mehr so zu fürchten wie einst, und man brauchte die Kosaken nicht mehr als Bollwerk gegen sie. Die enormen Gebiete zwischen Bug und Donetz, über die hin sie ihre Chutore und Ansiedlungen ausgebreitet hatten und über die sie allein verfügen wollten, versprachen dem russischen Reich einen vortheilhaften und schon lange erwünschten Gebietszuwachs; und schon darum durfte Rußland sie in keinen anderen Händen sehen, weil sie auf dem Wege zum Schwarzen Meer lagen, wohin es seit Jahrhunderten strebte. Aber trotzdem die Saporoger nur noch einen Schatten ihrer früheren Macht besaßen, gaben sie, von ihrem Recht überzeugt, ihre Ansprüche doch nicht auf und versuchten endlich sogar noch einmal mit Gewalt den Serben und Jelisawetgrad das Land, das Elisabeth ihnen angewiesen hatte, zu entreißen. Diese und andere Gewaltthätigkeiten veranlaßten die Kaiserin Katharina, den Saporogern ein Ende zu machen. Im Mai des Jahres 1775 wurde die Sitsch besetzt und der letzte Ataman mit dem ganzen Bestand des Heeresregierung gefangen genommen.
Bild einer Sitsch10
Die verheiratheten Kosaken, die hin und her zerstreut wohnten, blieben im Lande und genossen weiterhin die Rechte militärischer Ansiedler. Ein Theil der unverheiratheten, die den Kern des Heeres bildeten, wanderte an die Donau aus; ein anderer an den Kuban und bildete dort den Grundstock der hervorragend kriegstüchtigen Schwarzmeerkosaken9. Kurz vorher war auch endlich das größte Hinderniß der gedeihlichen Kolonisirung der südrussischen Steppen aus dem Wege geräumt worden. Nach langem blutigen Krieg mit der Türkei, zu dessen Beginn die Tataren noch einmal bei einem schrecklichen Raubeinfall den Boden der russischen Grenzlande mit Blut überschwemmt hatten, so daß diese furchtbare Zeit noch lange im Gedächtniß des Volkes haften blieb, – nach langem Krieg trat der Sultan im J. 1774 die Küstenländer von Kertsch bis Kinburn an Rußland ab und entsagte allen Hoheitsrechten über die Krim. Diese wurde darauf unter russisches Protektorat genommen und neun Jahre später mit dem Reich endgültig vereinigt.
Carte du Gouvernement de Tauride, Comprenant la Krimee et les Pays Voisins. Dezauche, Jean Claude. Paris, 178811
Jetzt galt es aber die Steppen zu besiedeln, denn was an Bewohnern vorhanden war, verschwand auf dem unendlichen Ebene ganz und gar. Trotz aller Colonisationsarbeit im 18. Jahrhundert konnte Potjemkin die Einwohnerzahl der Jekaterinoslawer Statthalterschaft die die heutigen Gouvernements die Jekaterinoslawer und Cherson, ein bedeutendes Gebiet des Taurischen und Theile des Poldawschen, und Podolischen Gouvernements umfaßte, nur auf 150.000 Seelen beziffern; heute hat jeder einzelne der 8 Kreise des Jekaterinoslawschen Gouvernements, eine größere, einige darunter eine doppelte und dreifache Einwohnerzahl. Um rieser Menschenarmuth des sonst so reichen Landes abzuhelfen, vertheilte die Krone an Personen aus dem Offizier- und Beamtenstand je nach dem Rang kleinere oder größere Ländereien, der Bedingung Eigenthum wurden, daß die Empfänger sie besiedelten mit „verheirathetem und seßhaftem Volk aus zuverlässigen und nicht verbotenen Orten.“ Die Durchführung dieser weisen Maßregel hat am meisten zur Besiedlung unserer südrussischen Steppen beigetragen und besonders aus Kleinrussland sehr viele Auswanderer angezogen. – Von fremdländischen Völkerschaften haben damals an der Besiedlung hauptsächlich theilgenommen: Armenier, Griechen und Deutsche. Die Armenier kamen im Jahre 1779 aus der Krim und legten die Stadt Nachitschewan am Don sowie 5 Kolonieen in der Steppe an, die bis jetzt existiren. Die Griechen, die im selben Jahre, 17.000 Seelen stark, die Krim verließen, erhielten im heutigen Mariupolschen Kreis Wohnplätze angewiesen und gründeten dort die Stadt Mariupol und 24 Kolonien.
Die Übersiedlung griechischer Christen von der Krim an die Küste des Asowschen Meeres in den Jahren 1778-178012
Das wichtigste Kolonistenmaterial stellten jedoch die Deutschen. Ueber deren Einwanderung, Verbreitung und gegenwärtige Lage wird im folgenden Abschnitt ein trefflicher Kenner unseres Südens dem Leser Bericht erstatten.
1Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 21.11.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski
2 kleine Städtchen und Siedlungen aus Holz
3Alex Tora – Own work by uploader (based on Енциклопедія українознавства (у 10 томах) / Головний редактор Володимир Кубійович. — Париж, Нью-Йорк: «Молоде Життя», 1954—1989.) Правобережжя 1.4.2009 CC BY-SA 3.0rechtsufrige Ukraine
4 Oberhaupt (Ataman koschewoi)
5 Anmerkung Chmelnyzkyj-Aufstand 1648-1657, siehe Wikipedia: „Die Kosaken begannen einen unaufhaltsamen Vormarsch Richtung Westen, wobei während des Feldzugs Massaker großen Ausmaßes an Polen, Jesuiten, römisch-katholischen Geistlichen und Juden begangen wurden. Wie viele Juden den Pogromen zum Opfer fielen, ist aufgrund der Quellenlage nicht mit Sicherheit auszumachen: Der VölkermordforscherGunnar Heinsohn schätzte, dass zwischen 34.000 und 42.500 Menschen ermordet wurden.Der in Israel lehrende Historiker Shaul Stampfer kam bei seinen Berechnungen auf 18.000 bis 20.000 Tote, was etwa der Hälfte der damals in der Ukraine (Rotruthenien dabei nicht mitgerechnet) lebenden Juden entsprach. „Die Grausamkeit der Kosaken setzte grauenerregende Vorbilder in die Welt.“ Viele Juden (möglicherweise mehr als 1000) konvertierten zur Orthodoxen Kirche, um ihr Leben zu retten. Mindestens 3000 Juden verkauften die Kosaken als Sklaven in das Osmanische Reich.“
9 Anmerkung: Die überlebende Kosaken nach dem Ukas “ Zaporozer Sic“ von 1775 formierten sich 1788 als Schwarzmeerkosaken Heer, wurden im Kampf gegen die Osmanen eingesetzt und als Bug Kosakenheer am Westufer des Schwazen Meeres angesiedelt, später am rechten Ufer des Kuban. Sie bewahrten ihre Traditionen auch im später geschaffenen Kuban Kosakenheer. siehe Andreas Kappler: Die Kosaken, C.H. Beck, München, 2013, p 38f
12 Kira Kaurinkoski: Les Grecs dans l’Empire russe et en Ukraine, Mondes méditerranéens et balkaniques (MMB) | 11; 2018; p. 51-86, Fig. 3 – Le transfert des chrétiens grecs de Crimée sur les rives de la mer d’Azov en 1778-1780.