Zur Erinnerung an unsere Vorfahren, die als Migranten aus Süddeutschland in die Welt zogen

Kategorie: Russland (Seite 1 von 8)

Karlsruhe – Waisenhaus und Schule

Einiges über Entstehen und Bestehen des Waisenhauses und der Schule in Karlsruhe .1

Pfarrer Jacob Scherr (1873-1920), Hausfreund Kalender 1907, p. 92

Das Waisenhaus.

Schon während seiner Studienzeit trug sich der Gründer des jetzigen Waisenhauses zu Karlsruhe, der hochw. Herr Pfarrer Jakob Scherr2, gerne mit dem Gedanken, eine Anstalt zu errichten, worin viele verlassene Kinder ein würdiges Unterkommen finden könnten. Wer verdient in, der Tat auch noch mehr bemitleidet zu werden als die unglücklichen Waisenkinder, die bei ihrem äußeren Elende oft ein noch größeres inneres erleiden, da sie nicht selten aus Mangel an einer guten christlichen Erziehung sittlich ganz herunterkommen und verrohen? Da der hochw. Herr selbst einer ärmeren Familie entstammt und somit auch von dem Leidensbrot genossen, konnte er schon frühzeitig aus eigener Anschauung von der Härte des Schicksals jener allerärmster Kinder sich eine Vorstellung machen. Einem Seelsorger, dachte er schon als junger Kleriker, stünde es gewiß schön an, der Stifter eines Hauses zu sein, wo viele unschuldige Kinder für Gott und zum Wohle der menschlichen Gesellschaft gerettet werden können, während sie sonst sicher verloren gehen würden. Die Tiefe und Aufrichtigkeit seines Mitleides mit den Waisenkindern bezeugt auch der Umstand, daß er schon als Knabe sich zu dem Gedanken verstieg, er wäre ein Priester der Kirche Gottes, und um ihn herum stünde eine große Schar Waisenkinder, die er in der Lehre unserer hl. Religion unterrichtete. Je länger er diesen Gedanken bei sich trug, desto unabänderlicher drängte es ihn, in seinem späteren Leben der Gründer eines Waisenhauses zu werden.

Zum Priester geweiht kam er als Vikar in das reichbevölkerte Dorf Mariental am Karman. Hier war er jedoch nur ganz kurze Zeit in der Seelsorge tätig, denn schon nach drei Monaten wurde er zum Administrator an der Pfarrkirche zu Karlsruhe befördert, wo er in der Seelsorge mit Eifer und Entschiedenheit einige Jahre arbeitete. Jetzt erst schien ihm die Zeit und Gelegenheit günstig, sich des längstgehegten Wunsches seines Herzens, der Gründung eines Waisenhauses, nach Kräften anzunehmen. Dazu fügte es Gott, daß viele Wohltäter in- und außerhalb Karlsruhe sich bereit erklärten, das Werk nach Möglichkeit zu unterstützen. Vor allen diesen erwarb sich ein hohes Verdienst um die gute Sache der verstorbene Heinrich Hofmann, welcher zu diesem Zwecke der Kirche einen Hofplatz mit Gebäulichkeiten testamentarisch vermachte. Die Gründung des Waisenhauses fiel in das Jahr 1892. Der Anfang desselben war so bescheiden, daß keine großen Hoffnungen für die Zukunft genährt werden konnten. Erstens war es der große Mangel an Geldmitteln, welcher es nicht erlaubte, dem Werk eine bescheidene aber sichere Existenz zu geben, und zweitens hemmte der große Mangel an sachverständigen Personen zur Führung einer solchen Anstalt. Aber alles das konnte dem eifrigen Seelsorger sein raftloses Streben nicht entleiden. Es war übrigens auch gar nicht nötig, der Armut wegen mutlos zu werden. Die Armut gerade muß eine wahrhaft gläubige Seele, um so mehr einen Priester, ermutigen und mit großem Gottvertrauen erfüllen, da ja auch sein Führer und Meister dieselbe freiwillig gewählt, während er alle Reichtümer im Ueberflusse hätte besitzen können. Ja gerade deshalb, weil der Erlöser, auf der Welt so viel Gutes stiften wollte, erwählte er die Armut. Freilich ist esr leider Gottes, eine traurige, aber wahre Erscheinung, daß die Armen in diese Welt allenthalben zurückgesetzt und verstoßen werden, wie es die hl. Schrift an verrschiedenen Stellen beklagt: „Auch von seinem Nächsten wird der Arme gehaßt; aber die Reichen haben viele Freunde .“ Und: „Einen armen Menschen hassen seine Brüder, und auch seine Freunde weichen weit von ihm.“ Wie dem aber auch sei, so ist doch zum Trost für die gute Sache die Handlungsweise Gottes von der der Menschen ganz verschieden. Gott zieht die Armen den Reichen durch Wort und Tat vor. Er sagt: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“, Besser ein Armer, der in Einfalt wandelt, als ein Reicher, der seine Lippen verdreht, und ein Tor ist.

Hausfreund Kalender 1907, p. 94

Dieser Gedanke nun, daß auch Gott die Armen liebt, erfüllte den jungen Priester mit dem festen Vertrauen, daß die Hilfe Gottes nicht ausbleiben kann. Zuvor mußte er jedoch einige Jahre lang kämpfen sowohl mit der äußersten Armut, als auch mit dem fast gänzlichen Mangel an geeigneten Personen. Endlich kam denn doch die heißersehnte Hilfe von oben, wodurch sowohl die eine, als auch die andere Not verringert wurde, so daß man an den ferneren sicheren Bestand der Anstalt zu denken berechtigt war. Allmählich traten in die Anstalt Personen ein, die zur Führung der Haushaltung bald gut verwendet werden konnten. Auch einige Waisenkinder leisteten schon bald eine nicht zu verachtende Aushilfe in der Handarbeit, im Hause, in der Küche und auf dem Hofe. Von jetzt ab floß der Anstalt eine reichere Hilfe zu, teils durch Schenkungen, teils auch durch die von den Hausleuten und Waisenkindern verfertigten Handarbeiten, die einen guten Absatz fanden. Wichtig für das Gedeihen und den guten Bestand dieser Anstalt war, mit aller Sorgfalt darauf hin zu arbeiten, daß möglichst viele fromme Jungfrauen, die sich entschlössen, ihr Leben Gott zu weihen, für die Anstalt gewonnen werden. Der Vorteil, den solche Leute bieten, ist zweifelsohne groß: einmal unterstützen sie das Werk mit Arbeit und Gebet, und dann dienen sie auch um Gotteslohn, was der Anstalt viele Auslagen ersparrt. Leider fand dieser Plan wenig Anklang infolge des geringen Verständnisses unseres Volkes für solche hl. Zwecke. Gegenwärtig besteht der Schwesternverband aus sieben Personen. Diese Zahl ist zwar für eine gute Führung des Waisenhauses noch entschieden zu klein. Was aber am meisten schadet, das ist der übergroße Mangel an pädagogisch gebildeten Kräften zur zielbewußten Erziehung der Kinder. Da aber der liebe Gott bisher geholfen hat. darf man auch hoffen, daß die Hilfe von oben auch in Zukunft nicht ausbleiben wird. Dank der sachverständigen Verwaltung, der Sparsamkeit und dem unermüdeten Fleiß ist das Waisenhaus gegenwärtig materiell, gottlob, gut bestellt. Die Zahl der Kinder, die gegenwärtig daselbst ein Heim gefunden, ist 43. Soviel über das Entstehen und den Bestand des Waisenhauses.

Die Schule.

Die Schule hat ihr Dasein dem Waisenhaus zu verdanken, denn schon bald nach der Entstehung desselben drängte sich naturgemäß P. Scherr eine andere wichtige Aufgabe auf, nämlich der Unterricht der untergebrachten Kinder. Wohl erhielten die Kinder gleich bei ihrem geistigen Erwachen häuslichen Unterricht im Lesen, Schreiben und in den Heilswahrheiten; dadurch durfte die Aufgabe aber noch keineswegs als gelöst betrachtet werden. Nach Pflicht und Gewissen mußten die Kinder gut geschult werden.

Unter der stillschweigenden Erlaubnis der Karlsruher Gemeinde, schickte man die schulfähigen Kinder mit den übrigen Dorfschülern und unter denselben Bedingungen zum Unterricht in die Gemeindeschule. Das war für die Anstalt nicht gerade das Vorteilhafteste; aber in Ermangelung des Besseren, mußte man auch mit dem weniger Guten zufrieden sein.

Diese lobenswerte Eintracht zwischen der Gemeinde und dem Waisenhause dauerte leider nicht lange, denn schon nach kurzer Zeit rührten sich engherzige Leute, denen das Waisenhaus schon ein Dorn im Auge geworden war und klagten wegen Ueberfüllung der Schule. Sie erklärten, das komme daher, weil so viele Fremde die Schule besuchen. Diese Klagen waren, dem Wortlaut nach richtig, da die Schulräume wirklich zu klein waren.

Angesichts solcher Klagen und noch verschiedener anderer Umstände, die dem Waisenhause bei dem Besuche der Gemeindeschule mehr schädlich als nützlich waren, beschloß der hochw. HE. Pfarrer beim Waisenhause eine eigene Schule zu gründen. Eine zweite Schule war also allein für die Waisenkinder schon notwendig. Aber nicht ausschließlich für die Waisenkinder. war eine zweite bessere Schule nötig, sondern auch für alle jene Kinder, welche nach Beendigung der Gemeindeschule zwecks besserer Elementarbildung in die Hände sogar von Juden und anderen unwürdigen Privatdozenten gegeben und durch solche dann nicht selten sittlich korrumpiert wurden und relisgionslos blieben. Also dieses erschreckende Uebel, vereint mit der Sorge für die Schulung der Waisenkinder, veranlaßten damals den hochw. Herrn, eine Schule ins Dasein zu rufen, die denn für die Waisenkinder durchaus notwendig war, und dem sicheren Verderben der Jugendentsittlichung den Weg versperren sollte.

Im Frühjahre des Jahres 1900 wurde auch richtig ein großes Schulgebäude errichtet und im Herbst desselben Jahres begann schon der Unterricht in demselben. Als berechtigter Volkslehrer kam der hochw. Herr bei der Schulobrigkeit ein, um die Genehmigung seiner zweiklassigen ministeriellen Schule. Der Antrag ging durch und wurde seitens der Schulobrigkeit durch volle und ganze Sympathie bedeutend unterstützt. Vor allem sollte in dieser Schule auf gründliche Erlernung der vom Schulprogramm vorgeschriebenen Gegenstände gedrungen werden. Dieses ließ sich auch noch immer gut erreichen, da die Schule Privateigentum ist und sowohl der Gründer als auch alle von ihm Beauftragten ab und zu der heiligsten Pflicht und Gewissenssache nachsehen konnten, ohne von der zuweilen wissenswidrigen Schulobrigkeit gestört zu werden. Der Anfang war, wie beim Waisenhause, ziemlich bescheiden. Im ersten Schuljahre waren in allem, Waisenkinder und Auswärtige 36 Schüler. Der Unterricht war eine Fortsetzung des Unterrichts in der Gemeindeschule. Lehrer waren gleich im ersten Jahre zwei angestellt. Trotzdem die Austellung des einen für die Schule weniger günstig war, so war der Erfolg am Ende des Jahres dennoch ein guter. Dieser Umstand erweckte bei mehreren in Karlsruhe und auch in nächster Umgebung die Lust, den hochw. Herr Pfarrer um Aufnahme ihrer Kinder in seine Schule zu bitten. So wurden im zweiten Schuljahr schon 3 Abteilungen nötig. Die Schule zählte in diesem Jahre 56 Schüler. Mit jedem Jahre kam eine neue Abteilung dazu. Beinahe alle vorhandenen Zimmer wurden zu Schullokalen eingerichtet. Anders wurde es aber, als man mit den Zimmerchen und Eckchen zu Ende war, und es stark an Raum zu mangeln anfing. Da kamen die Leute, darunter viele Chutoraner und sagten kurzweg: „Herr Pater, so können wir unsere Kinder nicht zu Hause lassen und in der Dorfschule haben sie herzlich wenig gelernt, und wenn wir sie nicht weiter unterrichten lassen, so vergessen sie auch das Bischen noch.“ Die bessergestellten Chutoraner aber sagten: „Wenns halt bei Euch nicht möglich ist, so müssen wir unsere Kinder entweder in die Stadt tun oder wir müssen uns einen Privatlehrer anmieten. Das ist aber einmal zu teuer, und dann ist man dabei gar nicht versichert, daß es auch gut wird.“ Gegen den Schulbesuch unserer deutschen Kolonistenkinder in der Stadt habe ich begründeter Weise nur das zu erwähnen, daß dieselben oft bei Andersgläubigen oder auch nicht selten bei solchen Katholiken logieren, die eigener Interesse halber ihrem Katholizismus das schönste Käppchen aufsetzen, während im Herzen und im alltäglichen Leben der vollste Unglauben herrscht. Selbstverständlich leisten solche Leute den Eltern und Vormündern der Kinder ins Gesicht jede gewünschte Gewähr in materieller und geistiger Hinsicht, in Ueberwachung und Studium. Bis sich die Eltern aber umsehen, und bei den Kindern selbst nachfragen, sind die Letzteren mit ihren Hausgenossen bereits geistesverwandt geworden und, um in dem angenehmen Verderben nicht gestört zu werden, wissen sie trotz ihres großen Elendes bei den Eltern und Vormündern über keinerlei zu klagen. Die lustigen Schulkollegen führen gewiß auch ein flottes Leben, das dem jugendlichen Leichtsinnn gewaltig zusagt, der heilsamen Wißbegierde hingegen die letzte oft schon totmüde Triebfeder gänzlich lahmlegt. Nichtsdestoweniger absolvieren solche fidele Schulbrüder öfters ihre Klassen. Auf wessen Kosten? ….. Die Folge eines solchen Studiums ist oft die, daß solche Studenten, nachdem sie gleichsam eine Reise um die Wissenswelt gemacht haben, an jenen Punkt wieder zurückkehren, von dem sie ausgegangen sind. Aus den hohen Regionen, zu denen sie sich verstiegen, haben sie aber wenigstens eine Wissenschaft fürs praktische Leben mitgebracht den Unglauben.

Wer aber sind jene Hauslehrer, (Privatlehrer)? Es sind das meistenteils Männer, die eine oder die andere Klasse eines Gymnasiums, einer Realschule oder auch des Knabenseminars zu Saratow beendigt haben. Wegen schlechter Aufführung, oder aus Mangel an Fortschritten konnten sie in den Anstalten nicht mehr geduldet werden. Daß solche Leutchen bei den Kindern sehr oft unliebe Resultate erzielen, wer kann daran noch zweifeln? Damit will ich aber keineswegs in Abrede stellen, daß es unter ihnen auch rühmliche Ausnahmen gibt. Keine Regel ohne Ausnahmen. Es gibt ja unter den Privatlehrern auch solche, die unser Knabenseminar oder mehrere Klassen einer anderen Lehranstalten, mit dem sogenannten Hauslehrertum Vorlieb nehmen müssen.

Eine deutsche Schulstube aus dem 16. Jahrhundert.

Hausfreund Kalender 1907, p. 97

Schon im 15. Jahrhundert entwickelten sich in den größeren deutschen Reichsstädten, wie in Nürnberg, regelmäßigen Stadtschulen. Weitberühmt waren u. a. die Straßburger Schule, die beste im Lande. Mit der besseren Schulordnung schwand auch das Vagantentum, das Herumziehen der Schüler, der „Bacchanten“, von einer Stadt zur anderen mehr und mehr. Neben den guten immer noch sehr viele mangelhafte, neben einigen trefflichen Lehrern viele mittelmäßige und schlechte, denen der Stock und die Raten, von anderen sinnigen Erfindungen ganz zu schweigen, als oberste oder einzigste Hilfsmittel ihrer Pädagogik galten.

Der Neubau

Diese gefahrvolle Alternative in die Stadtschule oder zum Hauslehrer konnte und durfte einen Seelsorger nicht gleichgültig lassen. Andererseits hatte die Schülerzahl so zugenommen, daß man, um allen Aufnahmegesuchen gerecht zu werden, entweder allen absagen oder neu bauen mußte. Beides wurde überlegt und mit Sachverständigen beraten. Wie schon oben bemerkt, ist der Hochw. Herr Inhaber des Lehrerdiploms. Er durfte es daher zwecks Gründung einer Mittelschule schon wagen, sich dem Hauslehrerexamen zu unterziehen. Auch die H. H. Geistlichen und besserunterrichteten Laien rieten an, sein Vorhaben auf alle Fälle durchzuführen. Der Plan war zweifelsohne gut jedoch auch gewagt und schwer zu verwirklichen. Eine Mittelschule zu gründen, das ist bei den gegebenen Verhältnissen nichts Leichtes gewesen. Um der Sache mehr Festigkeit und Sicherheit zu geben, fand man es unumgänglich notwendig, den Hochw. Herrn Diözesanbischof um seinen Rat, seine Einwilligung und hilfreiche Stütze zu bitten. Der Bischof, hocherfreut über das lobenswerte Vorhaben, anerkannte dasselbe mit dem erfreulichsten Entgegenkommen und der größten Bereitwilligkeit, dem Gründer mit Rat und Tat zu helfen. Durch diese allseitige Aufmunterung begeistert, unterzog sich der Hochw. Herr in seinem 41. Lebensjahre dem Hauslehrerexamen in der deutschen Sprache. Während der Vorbereitungszeit wurde er zur Abhaltung einer liturgischen Handlung auf den Chutor Antonowka eingeladen. Nach verrichteter Sache kamen alle Wirte von Antonowka, deren es 6 sind, zu einem Mahle zusammen, wozu auch der Pfarrer geladen war. Bei der Unterhaltung kam die Rede auch auf die zu gründende Schule, über die bis dato schon die verschiedensten Gerüchte verbreitet waren. Jetzt dachte wahrscheinlich der Hochw. Herr: „Schmiede das Eisen, so lange es heiß ist,“ und legte bange und bebend den Gastgenossen die bescheidene Bitte vor, ihn zur Verwirklichung seines Vorhabens gefällig unterstüßen zu wollen. Ganz wider Erwarten waren alle für das schöne Werk im höchsten Grade begeistert, und 1530 Rbl. waren gesichert. So hat sich Antonowka vor allen anderen eine hohe Ehre und ein hohes Verdienst um die Schale erworben. Alle Achtung und Ehre vor Antonowka! Vergelt’s ihnen Gott! Ich glaube hier bemerken zu müssen, daß dieses Geld nicht als ein reines Almosen beansprucht wurde; es wurde vielmehr auf 10 Jahre angeliehen und zwar ohne Prozente. Vom Jahre 1906-1916 muß vertragsmäßig jedes Jahr ein zehnter Teil der angeliehenen Summe zurückgestellt werden. Mit diesen Bedingungen wurde jezt mutig weiterkollektiert. Gottes Segen begleitete den Eifer und guten Willen des Hochw. Herrn auf allen Wegen, und bald war eine ansehnliche Summe beisammen, so daß man zur Herbeischaffung der Baumaterialien schreiten konnte. Mittlerweile unterzog sich der Hochw. Initiator dem Examen, das er im März 1905 bestand. Bevor man jedoch mit dem Neubau anfing, fand es der Gründer in Anbetracht der Größe und Schwierigkeit Werkes, für nötig, in nächster Nähe sich Stütze und Rat zu holen. eines solchen denn auch durch die Gründung eines Komitees bestehend aus 7 Personen: 3 Geistlichen und 4 Laien. Aus Liebe und Interesse für die gute Sache erklärten sich die Mitglieder des Komitees bereit, den Gründer der zu werdenden Schule mit allen ihnen möglichen Mitteln, sowohl moralischen, als auch materiellen zu unterstützen.

Eine der größten Schwierigkeiten bei diesem Schulbau war die Frage, einen geeigneten Platz zu finden. Ich will darauf nicht näher eingehen, sondern nur sagen, daß es erst nach Beseitigung vieler Hemmnisse gelang, zwei Hofplätze käuflich zu erwerben.

Unterdessen kam man um die möglichst schnelle Bestätigung des Planes ein. War es zufällig oder mit Absicht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls kamen unsere Beamten zum Glück auch einmal recht, denn schon nach kurzer Zeit war die Erlaubniß zum Baue eingelaufen. Und nun ans Werk. Der Bau ging in dem vom HE. Pfarrer gewünschten Tempo und unter dem ihm eigenen Kommando „Vorwärts!“ „Weiter!“ riesig schnell voran.

Obgleich das Gebäude sehr groß ist, es ist nämlich 22 Faden3 lang, 7 Faden breit, 5 Faden hoch und zweistöckig, so stand es am 10. Sept. fertig da, und schon am 12. September konnte das Schulleben beginnen. Dank der dreimonatlichen Hitze und Trockenheit, war es möglich, das Gebäude gleich nach Fertigstellung zu bewohnen.

Im ersten Schuljahr wurden gleich 7 Abteilungen eröffnet. Ungeachtet dessen, daß das Schulprogramm in den drei höheren Abteilungen dem eines Progymnasiums in der I., II. und III. Klasse, mit Ausnahme der neueren Sprachen, gleichkam, besaß die Schule dennoch nur den Namen einer zweiklassigen Ministerialschule, weil man um das Recht ein Progymnasium eröffnen zu dürfen, noch nicht eingekommen war.

Die vier niederen Abteilungen gelten als eine zweite Kirchenschule, und nach Beendigung derselben ist jeder Schüler berechtigt, sich dem Examen zu unterziehen, und nach Bestehung desselben ein von der gesetzlichen Schulobrigkeit bestätigtes Zeugnis zu erhalten über die Absolvierung der Kirchenschule. Im verflossenen Schuljahre zählte die Schule 215 Schüler. Infolge mancher Störungen, welche bei der notwendigen Nachhilfe in der Anstalt und außerhalb nicht vermieden werden konnten, und zum Teil auch durch die ungünstig ausgefallene Anstellung eines Lehrers, hat die Schule an ihrem bisherigen guten Namen stark Schaden gelitten. Hier muß jedoch bemerkt werden, daß in dieser Angelegenheit vielfach zu scharf und oft auch falsch geurteilt wird. Wie dem auch sei, die Schule hat für die Zukunft nichts zu befürchten. Ich gestehe gerne zu, daß die Schule Fehler gehabt hat, und gestehe sogar zu, daß sie auch in Zukunft Fehler haben wird; doch das ist noch lange, und ganz besonders in der Jetztzeit, wo die Schulen sozusagen oft an der Spitze des Aufruhres stehen, kein vollberechtigter Grund, die Schule um ihren guten Namen zu bringen. Ja, wenn die Welt ganz vollkommen wäre, wüßten wir auch den Unterschied nicht zwischen gut und bös, zwischen erlaubt und unerlaubt, und gewiß viele hätten für all ihre Anschwärzungen und Verläumdungen in der Ewigkeit nichts zu befürchten. Ein volkstümliches Sprichwort sagt: Wenn die Wand nicht wär‘, hätt’s Haus ein Loch. Mit gleichem Recht sage ich: Wenn die Verläumdungen nicht wären, wäre die Schule gut, sehr gut.

Doch zum Glück der Schule und zur Befriedigung aller schwarzsüchtigen Leute, find die vorgekommenen Fehler so beschaffen, daß sie in der Zukunft vermieden werden können. Die Ausstattung des Hauses ist gut, und deshalb können gröbere Störungen sorgfältig umgangen werden. Auch jenen Lehrer braucht man nicht mehr zu fürchten, da er schon längst schadlos gemacht ist. *)4

Progymnasium und Internat.

1906-7

Mit diesem Schuljahr wird die Schule als ein berechtigtes Progymnasiums in Leben treten. Die obrigkeitliche Bestätigung ist schon eingelaufen. Im Progymnasieum werden in diesem Jahr drei Klassen eröffnet. Obgleich die Obrigkeit die Erlaubnis erteilt, daß für das erste und zweite Jahr im Progymnasium auch Volkslehrer vortragen dürfen, so sind doch schon 2 Lehrer mit Institutsbildung angestellt.

Mit dem Progymnasium ist ein Pensionat für auswärtige Schüler verbunden. Den Pensionären wird, soweit es eben möglich und notwendig ist, sowohl in materieller, wie auch in geistiger Hinsicht jede erwünschte Bitte gewährt und erfüllt, hauptsächlich aber in Überwachung und Studium. Für alle jene Schüler, welche in irgend einem Gegenstande rückständig sind, steht unentgeltlich ein Repetitor zur Verfügung. Das Internat ist in dem Schulgebäude selbst eingerichtet und bietet aus diesem Grunde den Pensionären vor den Nicht-Pensionären beträchtliche Vorteile: so z.B. um in die Schulklassen und zur täglichen Anhörung der hl. Messe zu kommen, brauchen sich die Zöglinge nicht ins Freie zu begeben; Klavier und und Harmonium der Anstalt stehen ihnen allzeit zur Verfügung. Die Erziehung ist in den Händen eines pädagogisch gebildeten Geistlichen oder doch stets unter seiner Oberleitung. Außer dem Schulgeistlichen sind noch zwei Erzieher angestellt, Die Leitung des Internats ist vor allem bemüht, den Zöglingen eine feste religiöse Bildung und eine gute christliche Erziehung zu geben.

Zöglinge, deren Betragen von dem H. H. Ortsgeistlichen nicht gebilligt wird, werden in die Anstalt nicht aufgenommen. Zöglingen zieht jeder Verstoß gegen die guten Sitten die sofortige Entlassung nach sich. Die Zöglinge sind stetts unter der Aufsicht zweier Erzieher und müssen unbescholten sein in ihrem Betragen, ihren Reden und ihrer Lektüre. Unanständiges Benehmen und Ungezogenheit werden in der Anstalt nicht geduldet. Auf Krankenpflege und die nötige Bedienung wird die peinlichste Sorgfalt verwendet.

Die zum Pensionat gehörenden Räume, wie auch auch überhaupt alle Schulräume, sind geräumig und luftig. Das Innere des Hauses ist für die jetzigen Verhältnisse und für den Anfang ganz gut ausgestattet. Ein reicher, sorgfältig gewählter Bilderschmuck, gute und bequeme Möbel, helle Beleuchtung, ein neues System von Centralheizung begünstigen das Internatsleben gar sehr und gewähren den Zöglingen eine Behaglichkeit, wie sie von einem Pensionat nur immer gewünscht werden kann. Die Kost ist wohl nicht üppig zu nennen, was in einer Anstalt auch gar nicht sein darf, aber doch kräftig und schmackhaft. Ein großer Hof, dessen Einrichtung freilich infolge mangels an Zeit und auch der nötigen Geldmittel noch viel zu wünschen übrig läßt, dient den Schülern für jede Art Spiele und körperliche Übung. Für die Leibesübungen und die Förderung der köperlichen Kräfte sind Einrichtungen getroffen.

Das Pensionatsleben stellt ein großes qut christliches Familienleben vor. Die Zeit ist eingeteilt in Gebet, Studium, Unterricht und Erholung. Das Morgen-, Abend- und Tischgebet sowie die Studien- und Rosenkranzgebete werden gemeinschaftlich verrichtet. Täglich hören die Zöglinge des Internats und die Waisenkinder in der im Hause eingerichteten Schulkapelle eine hl. Messe. Der hl. Messe geht das Morgengebet, und eine vom Schulgeistlichen gegebene entsprechende Belehrung von 8-10 Minuten vorher. Während der hl. Messe werden Lieder aus dem Psälterlein von den Schülern abgesungen. An Sonn- und Feiertagen, wie auch an den vorgeschriebenen Kronstagen gehen die Pensionäre zum Gottesdienst in die Pfarrkirche. Der öftere Empfang der hl. Sakramente ist nicht nur möglich, sondern auch sehr erwünscht. Zur Ehre Gottes, zum Lobe der Anstalt und der jetzigen Schüler kann auch gesagt werden, daß die Sakramente der Buße und des Altars im verflossenen Schuljahre häufig und gut empfangen wurden.

Hausfreund Kalender 1907, p. 100

Die Mädchenschule.

Da aber nicht allein für die Schulung der männlichen Jugend, sondern auch für die der weiblichen gesorgt werden muß, und weil die Gründung einer separaten Mädchenschule bisher noch nicht im Bereiche der Möglichkeit stand, *)5 deshalb wurde auch den Mädchen gleichzeitig mit den Knaben der Zutritt in ein und dieselbe Schule zum Unterricht gewährt. Im ersten Augenblicke könnte ein solches Doppelwesen Vielen unsympathisch vorkommen, aus dem Grunde, weil, wie man zu sagen pflegt, „Feuer und Stroh zusammen nicht gut tun“, doch, wenn man erwägt, daß in der neueren Zeit der gleichzeitige Unterricht von Knaben und Mädchen von mehreren tüchtigen Pädagogen sogar befürwortet wird – selbstverständlich muß dabei strenge Aufsicht geführt werden – und daß es nur bei Kindern bis zum 12 Jahre vorkommt, so darf einen das gewiß nicht wundernehmen. Gerade dasselbe geschieht ja auch in allen unseren Kirchenschulen. Im Pensionat sind die Knaben von den Mädchen streng geschieden. Die Mädchen erhalten neben dem Schul- und Musikunterricht auch noch praktischen Unterricht in der Handarbeit.

Mit dem nächsten Schuljahr werden für alle jene Mädchen, welche die 4 Abteilungen der Vorbereitungsschule beendigt haben und ihr Wissen noch zu erweitern wünschen, sogenannte Mädchenkurse eröffnet. Der Unterricht für diese Mädchen wird besonders und in einem eigens dazu bestimmten Klassenzimmer gegeben. Als Hauptgegenstände in den Wissenschaften sollen hier jene gelten, welche im Leben für das weibliche Geschlecht am notwendigsten sind. Viel Sorgfalt soll auch darauf verwendet werden, um den Kindern ein möglichst gutes Verständnis für Haushaltung, Kindererziehung und Handarbeit beizubringen. Für das künftige Jahr ist bereits eine zweite Lehrerin aus dem Auslande engagiert, die auch fähig ist, Unterricht in Musik und Handarbeit zu erteilen.

Der Unterricht.

Jetzt noch einiges über den Unterricht an der Schule im allgemeinen. Da muß man sagen, daß der Unterricht an dieser Schule im allgemeinen noch gut war. Dieses beweisen uns folgende Umstände: Noch jedes Jahr bestand ein großer Teil von den zum Examen vorgestellten Schülern gut, manche glänzend das Examen. Auch weiß ich aus eigener Anschauung, daß jene Kinder, welche aus dieser Schule in unser Knabenseminar zu Saratow übergegangen sind, stets vor allen ihren Mitschülern Großes leisteten, besonders in der russischen Sprache, Rechnen und Geographie. Drittens kann wohl noch erwähnt werden, daß der Gründer der Schule unaufhörlich bestrebt war, der Schule immer bessere Lehrkräfte ausfindig zu machen und anzustellen. Um den Lehrern mehr Lust und Liebe zu ihrem Berufe einzuflößen, wurde ihnen ein besseres Gehalt geboten. Während die Lehrer an den Dorfschulen in der Regel 350 Rbl. Gehalt haben, hat hier auch ein Volkslehrer 450-600 Rbl. Vor der Anstellung eines Lehrers sucht der hochw. Herr noch stets allseitige Erkundigungen über Tüchtigkeit im Vortrag, über guten Charakter und unverdorbene Sitten entweder persönlich oder doch schriftlich durch andere einzuziehen. Troß der großen Umsicht waren bei den vielen Lehrern auch schon einige Lehrer an der Schule tätig, die nicht das leisteten, was sie leisten sollen. Doch wer nennt mir eine Schule, an der die Lehrer immer tüchtig waren? Im Verlaufe von 6 Jahren waren leider 2 oder 3 Anstellungen nicht getroffen. Im großen ganzen war der Unterricht seit dem Bestand der Schule ein guter zu nennen.

Zum Schlusse will ich noch die Bemerkung machen, daß die Schule. obgleich im Anfang noch stehend, doch schon eine ziemlich große Bibliothek besitzt, sowohl zum Gebrauche der Lehrer, als auch der Schüler. Hauptsächlich aber war im letztverflossenen Schuljahr der hochw. Gründer der Schule in dieser Angelegenheit aufs eifrigste tätig. Jeder, der der Schule etwas näher stand, muß sagen, daß der hochw. Herr hierin mehr verschwenderisch als knauserig war; für die Herbeischaffung von guten Lehrmitteln und Schulutensilien scheute er weder Mühe noch Kosten. Fest davon überzeugt, daß der hochw. Pfarrer Jakob Scherr für den nur immer bestmöglichen Bestand feines Progymnasiums auch in Zukunft keine Mühe und Opfer scheuen wird, drücke ich den Wunsch aus, unsere deutschen Katholiken möchten nicht die Feinde einer guten Sache sein, sondern Freunde, die sich freuen dürfen. Auch möchten sie einmal von ihrem verderblichen Schlafe aufwachen, indem sie ausschließlich von ihrem unmittelbaren Eigentume träumen. Der persönliche Wohlstand ist freilich gut und auch nötig; aber fast möchte ich sagen, daß für uns Deutsche der Gemeinwohlstand besonders jetzt, wo es stark anfängt, an Land zu mangeln, noch viel notwendiger ist. Der Gemeinwohlstand besteht teilweise auch in dem Besitze tüchtiger Schulen, lebenskräftiger Vereine zur Förderung unseres allseitigen Wohles. Mit Wohlgefallen höre ich daher jenen Bauern, der also kalkuliert: Land habe ich nicht viel, daß daß ich damit meine Kinder gut versorgen könnte, deshalb will ich sie schulen lassen. Ein armer Gelehrter kommt ja heutzutage besser in der Welt durch, als ein reicher, aber ungelehrter Bauer. Wo wollt Ihr aber Eure Kinder schulen lassen, wenn Ihr keine entsprechenden Schulen habt, in denen sie gelehrt werden und dabei gute Christen bleiben? Ihr müßt Euch daher freuen, wenn in Euren Kolonien Schulen entstehen, besonders dann, wenn dieses geschieht, ohne daß Ihr dadurch belästigt werdet, denn diese Schulen werden ja zu keinen anderen Zwecke als zu Eurem eigenen Wohle gebaut

P. Josef Wolf.

Klemens Nr. 48 IV. Jahrgang, Mittwoch 27, August 1903, Herausgeber H. Schellhorn Saratow p.381
  1. Artikel im Original entnommen dem: Hausfreund, Kalender für Neu-Rußland. Begründet 1892 von Kanonikus Rudolf Reichert. Herausgeber und Verleger: Edmund Schmidt; Druck von A. Schultze, Odessa. 1907 p.92-102 ↩︎
  2. Jacob Scherr wurde am 3.7.1873 in Strasburg geboren, starb 1920 im Waisenhaus in Karlsruhe. Seine Beisetzung war in der Kirchhofkapelle. Zum Priester geweiht am 1.5.1888, 1888 Vikar in Mariental, ging er noch im selben Jahr nach Karlsruhe und war dort Pfarrer bis 27.5.1908. siehe: Joseph Schnurr: Die Kirchen und das religiöse Leben der Russlanddeutschen. Katholischer Teil. Aus Vergangenheit und Gegenwart des Katholizismus in Rußland, Selbstverlag 1980 p.346 ↩︎
  3. Nach einer Verordnung vom 3. Januar 1843 hatte ein Saschen (Faden) ab 1. Januar 1845 die Länge von 3 Arschin oder 2,13356 Meter.
    1 Saschen = 3 Arschin = 7 Fuß = 48 Werschok = 84 Zoll = 1008 Linien ↩︎
  4. *) Niemand kann ein Unternehmen der Fehler wegen schelten, wenn das Bestreben da ist, es künftig besser zu machen ↩︎
  5. *) Unterdessen wurde nun die Mädchenschule in Landau gegründet. ↩︎

Glücksthal

Örtliche Lage und äußere Anlage der Kolonie.1

Hausfreund Kalender 1901 p.101

260 Werst von der Gouvernementsstadt Cherson in westlicher Richtung, 45 Werst nördlich von der Kreisstadt Tiraspol und 10 Werst nördlich von dem am Dnjestr gelegenen Provinialstädtchen Grigoriopol, liegt die Kolonie Glücksthal. Da dieselbe in einer Thalmulde liegt und zwar in einem Seitenthälchen des von Bergdorf nach Grigoriopol in südwestlicher Richtung sich hinziehenden Thales Tschornenko, so kann sie nur von einer auf der Südseite liegenden Anhöhe aus übersehen werden. Von hier aus betrachtet, hat Glücksthal eine romantische Lage.

Hier lag einst vor der Ansiedlung der Deutschen das Moldowanerdorf Glinnoi, wie die deutsche Kolonie heute noch von den Russen benannt wird.

Schon von 1804 an begann die Einwanderung der Deutschen in dem zur ersten Ansiedlung angewiesenen armenischen Städtchen Grigoriopol, dicht am Dniestr gelegen. 3 württembergische Familien bildeten den Anfang. Zu denselben gesellten sich im Jahre 1805 von den in Ovidiopol angekommenen Württembergern noch 67 Familien. Anno 1806 kamen aus Warschau 9 Auswandererfamilien dazu, im Jahre 1807 aus Ungarn 24 Familien und in den folgenden Jahren 1808 und 1809 noch mehrere Familien direkt aus dem Ausland. So befanden sich im Jahre der Ansiedlung der Kolonie 1809 im Ganzen 106 deutsche Familien, 2727 männliche, 253 weibliche, zusammen 525 Seelen in Grigoriopol, welche von hier aus zunächst in das Moldowanerdorf Glinnoi umgesiedelt wurden.

Der ursprüngliche Plan der Regierung war der, daß diese Ansiedler in Grigoriopol bleiben und sich mit den Armeniern verschmelzen sollten. Aeußerlich hätten die deutschen Kolonisten in mancher Hinsicht dabei gewonnen. Aber es entstanden bald Streitigkeiten zwischen den Armeniern und den Deutschen und da sie sich nicht untereinander vertragen konnten, so fand der damalige Stadtgouverneur von Odessa, der Herzog von Richelieu, dem die Sache vorgestellt wurde, es für besser, die Deutschen von den Armeniern zu trennen und sie mehr auf der Mitte des ihnen zugemessenen Kronslandes, in dem Dorfe Glinnoi, 10 Werst von Grigoriopol anzusiedeln. Die Moldowaner dagegen wurden aus Glinnoi nach Grigoriopol in die dortigen Wohnungen der Deutschen versetzt.

Der damalige Fürsorger der Deutschen, der nachmalige Staatsrath Herr von Rosenkampf, soll zu den Deutschen nach der Umsiedlung gesagt haben: „Das ist euer Glück, daß ihr hierher verpflanzt worden seid !“ Daraus nahm er Veranlassung, die Kolonie „Glücksthal“ zu benennen, welcher Name auch von der hohen Regierung bestätigt wurde.

Ursprünglich bestand die Kolonie aus 125 Familien, worunter 67 aus Württemberg, 27 aus Ungarn, 10 aus Elsaß, 9 aus Baden, 3 aus der Pfalz, 3 aus Sachsen, 2 aus Preußen, 2 aus Hessen, 1 aus öster. Galizien und 1 aus Italien war. Weil die meisten der Ansiedler Schwaben waren, darum hat sich wohl auch der schwäbische Dialekt bei den Nachkommen vorherrschend erhalten. Der Confession nach waren die meisten evangelisch-lutherisch und nur ein kleiner Theil evangelisch-reformirt.

Glücksthal war, weil früher Moldowanerdorf, unregelmäßig angelegt. Die Hütten oder Semljanken enge und unbequem! Darum ging man ungesäumt an eine planmäßige Anlage der Haus- und Hofpläge. Sobald es den Ansiedlern möglich war, wurden neue Häuser mit je 2 Zimmern und 1 Küche erbaut, meist aus getrockneten Erdziegeln. Diese mußten in späterer Zeit wieder größeren Häusern von gutem Bruchstein weichen. Die ganze Ansiedlung bestand anfänglich aus 122 Wirthschaften mit 125 Familien, bestehend aus 618 Seelen, aus denen heute nach über 90 Jahren 2243 Seelen geworden sind, abgerechnet die Vielen, welchen im Laufe der Zeit von hier wieder fortzogen teils in andere Gegenden Rußlands, theils nach Nordamerika. Das der Colonie Glücksthal zugeteilte Kronsland bestand aus 7034 Dess. 2147 Faden, zumeist unebenes Land, von Höhen und Niederungen durchzogen. Es besteht größtentheils aus einer ca. 2 Fuß tiefen Schicht guter Schwarzerde mit einer Unterlage von Lehm, Sand und Steingrund. An den im Tschornenker Thale hinziehenden steilen Abhängen liefert eine Reihe von Steinbrüchen jetzt eine Masse von Bausteinen für die Colonien Glücksthal, Neudorf und Bergdorf.

Das winzige Flüßchen im Tschornenker Thale fließt aus Quellen und Regenwasser zusammen und kann zuweilen bei starken Regengüssen wild und reißend werden, ist aber in der heißen Sommerszeit zumeist ohne Wasser. Was nun den Anbau der hiesigen Steppen betrifft, so gedeiht auf denselben am besten der Sommer- und Winterweizen, auch Roggen, Gerste, Hafer, Kartoffeln und namentlich der Mais, der zuzeiten das halbe Brod der Kolonisten ist.

Die Abhänge an den hiesigen Seitenthälern eignen sich sehr gut für den Weinbau und sind deßhalb auch von den ersten Ansiedlern schon mit Weinreben bepflanzt worden. Schon im Jahre 1848 waren 192 Dessiatinen mit 465,440 Rebstöcken bepflanzt. Der hiesige Boden liefert, wenn man anders die Weintrauben gehörig ausreifen läßt, einen guten und haltbaren Wein von ziemlicher Stärke.

Nördlich von der Kolonie, einige Werst entfernt, sind ca. 60 Dessiatinen mit Wald bestanden, in welchem zumeist Eichbäume wachsen, die aber kaum 20 Fuß Höhe und 1 Fuß Dicke im Durchmesser erreichen, und höchstens zu Brennholz benügt werden können. Leider sind die hiesigen kleinen Waldungen in einem so vernachlässigten Zustande, daß man wohl jene Zeichnung eines Schülers von einigen verkümmerten Baumgruppen, worunter er schrieb: „Das soll Wald sein!“ darauf anwenden könnte.

Ganz ähnlich sieht es heutzutage mit den Obstgärten in der Kolonie aus. Da finden sich nur noch kümmerliche Ueberreste von den früheren schönen Baumanlagen. Ums Jahr 1848 sollen im Ganzen 30,479 edle Obstbäume rings um die Kolonie gestanden haben. Da aber die Bäume im Allgemeinen wegen der zu großen Trockenheit des Bodens kein hohes Alter erreichen und die Baumfrüchte sehr viel zu leiden haben von allerlei Räubern, geflügelten und ungeflügelten, kriechenden und gehenden, zweibeinigen und vierbeinigen, so ist die Obstzucht heutzutage beinahe eingegangen und die Leute kaufen ihr Obst lieber um billiges Geld oder gegen Tauschhandel von den Moldawanern, welche dasselbe massenweise aus den Gärten des Dniestrthales in die Kolonie zum Verkauf bringen.

Hausfreund Kalender 1901 p.103

In dem sogenannten Tschornenker Thale sind ursprünglich schon von dem Fürsorgekomite 500 Dessiatinen Weideland zu einer Schäferei für die Glücksthaler Wolost abgemessen worden: Hier entspringen ein paar schöne Quellen, welche den Schafen und dem Rindvieh gutes und reichliches Wasser bieten, und die deßhalb schon 1846 in eine künstliche Wasserleitung zusammengefaßt wurden. Diese laufenden Rohrbrunnen im Tschornenker Thale gehören zu dem Schönsten und Angenehmsten in der heißen Sommerzeit für Menschen und Vieh.

Dieses Schäfereiland hat durch jährliche Verpachtung schon ein solches Kapital eingebracht, daß vor etlichen Jahren für die Landlosen der Glücksthaler Wolost ein gutes Stück Ackerland ca. 800 Dessiatinen von der Wolostverwaltung angekauft und bezahlt werden konnte. Dieses Land, 14 W. nördlich von Glücksthal, neben dem Reimarowker Gutslande gelegen, ist bereits von 30 Familien armer Landloser aus dem Glücksthaler Gebiete besiedelt und diese junge Ansiedlung soll Kleinglücksthal benannt werden.

II.

Bemerkenswerthe Ereignisse im sozialen und religiösen Leben der Ansiedler.

Aller Anfang ist schwer“! Die Wahrheit dieses bekannten Sprichworts erfuhren auch die hiesigen Ansiedler. Nicht nur diejenigen, welche als Handwerker ins Land gekommen und des Landbaues ganz und gar unkundig waren, sondern auch die Kleinbauern aus Deutschland mußten nach der Ansiedlung, weil der hiesigen Landbauverhältnisse nicht kundig, Jahre lang theures Lehrgeld bezahlen. Der hiesige Ackerboden erforderte einen ganz anderen Betrieb als der Boden in Deutschland. Dort giebt es regelmäßige, oft nur zu häufige Niederschläge wegen der viel stärkeren Bewaldung des Landes. Hier in Südrußland fehlt es im Allgemeinen sehr an Niederschlägen wegen der Entwaldung der hiesigen Gegenden. Darum erfordert der hiesige Landbau auch andere Maßnahmen als die Ansiedler von ihrer früheren Heimat aus gewohnt waren. Zwar ursprünglich trug der jungfräuliche gute Boden im Allgemeinen reiche Ernten auch bei schwachen Niederschlägen. Aber es kam anders. Die Kraft des Bodens wurde allmählich erschöpft durch fortwährenden Anbau von Halmfrüchten. Deßhalb mußte man endlich an eine Abwechselung in der Saat und an das Brachen denken. Teils durch den Anbau von Hackfrüchten und teils durch das Brachen abgebauter Felder kann dem Boden seine Kraft einigermaßen wieder zurückgegeben werden. Das müssen die hiesigen Ansiedler allmählich lernen. Auch durch bessere Pflüge neueren Systems, durch Säemaschinen, Mähmaschinen, Dreschmaschinen und dgl., wie solche auch hier schon häufig in Anwendung gebracht werden, gewinnt der hiesige Ansiedler mehr Zeit und mehr Einsicht in eine rationellere Bewirthschaftung des Bodens. So ist denn auch das theure Lehrgeld, welches die Väter Anfangs bezahlen mußten, an den Kindern und Nachkommen nicht ganz verloren gegangen.

Freilich durch die starke Vermehrung der Kolonisten sind die Landanteile immer kleiner und kleiner geworden. Es gibt heutzutage wenig ganze Wirthschaften mehr mit 60 Dess. Land, meist nur halbe, ja zum Theil 1/4 und 1/8 Wirtschaften gibt es genug und mehr als genug. Wenn bei solchen kleinen Landparzellen der Bauer nicht rationell zu wirthschaften versteht, so nährt ihn sein Land nicht mehr. Er muß entweder Industrie treiben, Handwerke lernen um sich davon zu nähren oder aber auswandern und sich in fremden Ländern oder Weltteilen eine neue Eristenz gründen. Beides ist von hier aus schon geschehen. In Glücksthal ist namentlich die Wagenbauerei früher schon als Gewerbe sehr stark betrieben worden. Mancher hat sich dadurch ein schönes Stück Geld und Brot verdienen können. So finden sich heute noch viele Schmieden und Stellmachereien im Dorf. Aber seit so viele Russen und Moldawaner dasselbe Gewerbe treiben und billiger, wenn auch nicht besser, arbeiten, wird hier mit diesem Geschäft wenig mehr verdient. Von andern Gewerben wollen die hiesigen Deutschen wenig oder nichts wissen. Auch scheint das Handwerk hier nicht den goldenen Boden zu haben, von dem das Sprüchwort sagt, weil die Kunden zu wenig an baare Bezahlung gewöhnt sind und die Handwerker deßhalb oft genötigt sind, das erforderliche Material zum Betriebe ihres Geschäfts als Holz, Eisen, Kohle, Leder etc. auf Kredit zu kaufen. So gerathen sie in Schulden und das Handwerk muß ihnen auf diese Weise entleidet werden.

Wer hier sein Brot nicht mehr findet durch Landbau oder Gewerbe, der zieht es vor, wenn er irgend das Vermögen dazu hat, nach Amerika oder auch neuerdings nach Sibirien auszuwandern, wo man entweder noch unentgeltlich oder um geringen Preis sich Land erwerben kann. So sind von Glücksthal und den nachbarlichen Kolonien schon so viele weggezogen, daß man von den Ausgewanderten sicher je 2 solcher Dörfer bilden könnte wie Glücksthal, Neudorf oder Bergdorf.

In Bezug auf Kirche und Schule und auf das religiöse Leben in der Gemeinde sind Fortschritte gegen früher unverkennbar, wenn gleich andrerseits über sittlichen und moralischen Verfall namentlich des jüngeren Geschlechts sehr geklagt werden muß. Glücksthal ist ja gleich Anfangs zu einem eigenen Kirchspiel creirt worden. Von den zwanziger Jahren an waren hier ohne allzu lange Vacanzen stets Prediger gewesen, welche sich das religiöse und geistliche Wohl und Heil der Gemeinden am Herzen gelegen sein ließen und Gottes Wort lauter unb rein verkündigt haben. Unter ihnen ist namentlich Pastor Fr. Pensel, der von 1830 bis 1848 im Segen hier gewirkt hat, bis heute unvergessen.

Leider hat in den fünfziger Jahren der Streit zwischen Lutheranern und Reformirten das Glücksthaler Kirchspiel ziemlich aufgeregt und damals bis zu einer Trennung beider Confessionen in ein evangelisch-lutherisches Kirchspiel Glücksthal und ein evangelisch-reformirtes Kirchspiel Neudorf-Cassel geführt. Diese Trennung verursachte viele Kosten, da beide Gemeinden in dem Filial-Neudorf besondere Bauten aufführen und von da an besondere Küsterlehrer und Prediger besolden mußten. Heutzutage ist wieder mehr Friede und Einigkeit zwischen diesen beiden Gemeinden eingetreten und sie können sich im Frieden nebeneinander erbauen, da jede Gemeinde ihre gesonderte Kirchen- und Schulverwaltung hat.

Im Schulwesen hat Glücksthal gegen früher recht ansehnliche Fortschritte gemacht. Wo noch in den vierziger Jahren nur ein kleines Schulhäuschen mit 1 Schulsaal und einer Lehrerwohnung war, da erhebt sich jetzt neben der Kirche fast dicht neben der Hauptstraße des Dorfes ein neues steinernes Schulgebäude mit 4 Unterrichtssälen nach den neueren hygienischen und Schulregeln erbaut und eingerichtet. Daneben steht im Schulhof eine Küsterwohnung und nicht weit entfernt hat die Gemeinde noch 2 Wohnungen für 2 russische Lehrer. So wird die Schule gegenwärtig in 4 Abteilungen von 1 Küster, 1 Küstergehilfen und 2 russischen Lehrern regelmäßig bedient. Es könnten also bei solch guter Einrichtung ganz günstige Resultate während einer 7-8 jährigen Schulzeit erzielt werden, wenn nicht immerfort über zu mangelhaften Schulbesuch und zu lange Vacanzen geklagt werden müßte. Vielleicht wird die höhere Schulbehörde in diesem Stück noch Rath und Hilfe zu schaffen wissen.

Endlich muß noch auf einen erfreulichen Fortschritt im bürgerlichen Leben der Gemeinde, namentlich hinsichtlich der Wolostverwaltung hingewiesen werden, der dadurch erzielt wurde, daß an Stelle des alten unbrauchbar gewordenen Wolostgebäudes ein neues, schönes und praktisch eingerichtetes Wolostgebäude vor 4 Jahren errichtet und eingeweiht wurde.

So zieren nun 4 Hauptgebäude: Kirche, Pastorat, Schule und Wolostgebäude, welche im Centrum des Dorfes liegen und mit Blech gedeckt sind, die Kolonie. Sie weisen darauf hin, daß Kirche, Schule und bürgerliche Verwaltung hier gleicherweise ihren Siz haben und, Gott sei Dank! auch in Eintracht und Liebe zusammenzuwirken zum geistlichen und leiblichen Wohl der Gemeinde Glücksthal. Dazu helfe Gott in Gnaden!

  1. Artikel im Original entnommen dem: Hausfreund, Kalender für Neu-Rußland. Begründet 1892 von Kanonikus Rudolf Reichert. Herausgeber und Verleger: Edmund Schmidt; Druck von A. Schultze, Odessa. 1901 p. 101-106 ↩︎

Jamburg

Hausfreund, Kalender 1907, p.82

Lieber Leser!1 Wir befinden uns heute in Jamburg, einer auf der rechten Seite des Dnjeper gelegenen deutschen Kolonie, unweit der Stadt Jekaterinoslaw und ungefähr 17 Werst von dem berühmten Wasserfall, der infolge vieler Unglücksfällen, die dort vorkommen, der „unersättliche“ genannt wird (ненасытеикiй порогы). Jamburg liegt gleichsam auf einer ebenen Halbinsel, denn von einer Seite fließt die Sura, ein Nebenarm, in den Dnjeper, von der andern tritt das Land tief in den Dnjeper selbst hinein. Der hohe Berg, der von der Südwestseite seine kahle Stirne der Sonne entgegenhält, verbergt Jamburg so stark, daß der Wanderer des Dorfes erst dann ansichtig wird, wenn er in dessen nächster Nähe ist. Nur der Turm der Kirche sagt ihm, daß noch weiter unten um ihn herum Häuser sein müssen. Vier der schönsten Eilanden liegen vor uns unterhalb und oberhalb des Dorfes und dienen als erquickende Erholungsstätten, besonders im Mai und Juni. Die Einwohner des Dorfes sind meistens Auswanderer aus Tirol und Oberbayern. Im Jahre 1792 kamen sie aus der Kreisstadt Jamburg, Petersburger Gouv. nach dem Süden, wo sie sich zwei Jahre in dem Russendorfe Stary-Kaidak aufhalten mußten, bis das eigentliche Jamburg gegründet war mit 54 Hofstellen und je 32 Dessjatin auf die Stella. Die meisten von ihnen waren Fuhrleute, Handwerker und Abenteurer, denen es schließlich Wurst war, ob sie Land oder nur das Recht am Fluße zu wohnen bekämen. Eine holländische Familie mit 4 Töchtern hielt sich anfangs des vorigen Jahrhunderts unter den Jamburgern auf. Drei dieser Töchter, die nur noch unter den sonderbaren Namen Habka, Chimka und Troika bekannt sind, erhielten Männer aus Jamburg, Illenser, Neimeier und Donhauser. Daher kommt denn auch die übergroße Verwandtschaft unter unseren Leuten. Während einige Familien, wie Steger, Wegner, Lutz, Schwendner, Schnitzer fast ausgestorben, sind besonders Illenser, Neimeier und Donhauser zu wahren Jakobsfamilien emporgewachsen. Jamburg hatte wenig Verkehr mit Deutschen, aber um so mehr mit den sie von allen Seiten umgebenden Russen, deren Tugenden u. noch mehr Untugenden sie oft annahmen. Da Jamburg gegenwärtig zu einer wahren Wagenfabrik emporgewachsen ist –  denn jährlich werden ca. 6.000 Wagen von hier abgeliefert – so läßt es sich leicht denken, daß beim Mokaritsch eines oder mehrere über den Durst getrunken werden. . Da unser Diözese damals noch nach Mohilew gezählt wurde, so kamen nach Jamburg ausschließlich polnische Priester, die meistens der deutschen Sprache nicht kundig waren. Der jamburgische Dialekt ist ohnehin der deutschen Sprache ganz unähnlich *2. Und so kam es, daß die Unwissenheit in der Religion sich stark fühlen ließ und naturgemäß Abwege zeitigte, die noch lange herschen werden, trotzdem schon manche eifrige Priesterhand ihre Kraft anwandte. Die erste hölzerne Kirche baute den Leuten die Kaiserin Katharina II. im Jahre 1794. Das Strohdach des Kirchleins wurde bald darauf durch lange, gerade Schindeln verdrängt. Aber auch dieses Dach bot nach kurzem mit seinen großen Öffnungen willkommene Wohnungen für Sperlinge. Im J. 1845 wurde das Kirchlein von P. Garz verbessert, und von Schilinsky manche Verschönerung im Innern vorgenommen. Die inneren Wände wurden mit kaum abgehobeltem Brettern benagelt und mit in rohe Farbe getauchten Riesenpinseln geebnet. Gegen das Jahr 1875. kam die Kirche beinahe zum Verfalle, was nun P. Sewald durch Pfosten zu verhindern suchte. Im J. 1885, erfuhr das Kirchlein dank dem Hoch. P. Hartmann eine Kapitalremonte und einen Anbau von ca. 3 Faden mit einem anständigen Turme. Da ohne vorher eingeholten Plan gebaut wurde, sagte der herbeigerufene Ingenieur, nachdem in seiner Tasche ein gut Stück Bakschisch verschwand: „Ich rate Ihnen, Hochwürden, sich einen Plan zu verschaffen, damit es Ihnen nicht ergehe, wie jenem russischen Popen, der nach Beendigung seiner ohne Plan gebauten Kirche die langen Haare los wurde.“ Diese Kirche, so remontiert und vergrößert, stand bis zum Jahre 1897 –15 September, wie wir’s weiter unten sehen werden. Jetzt aber wollen wir Einiges diesem merkwürdigen Tage voraussenden. – Den 11. Januar 1897 kam an Stelle unseres allgemein geachteten H. Dekans P. Valentin Hartmann ein junger neugeweihter Priester an. Die Seminarskleider boten zu wenig Schutz gegen den kalten Frostwind. Eine härtere Kälte blies dem vom jugendlichem Eifer beseelten Priester entgegen, als er das erste Mal in das hölzerne Kirchlein eintrat, das von innen einer niederen langen großen Stube glich. Die grobe Tischler- u. Färberarbeit war eine schwache Zierde der Wände und des eingeräucherten niederen Plafonds. Eine dunkle Vorahnung überkam sicher das Gemüt des Priesters, beim Anblicke dieser aller Zierde baren Kirche; denn später pflegte er oft zu sagen: „Schwere Zeiten habe ich hier höchstwahrscheinlich noch zu erleben.“ Diese kam auch mit der vollen Wucht über unserem schon liebgewonnenen P. Emmanuel Simon.

Die Kirchenkasse wies außer einigen Groschen nur eine Masse Schuldscheine auf. Der hochw. H. Bischof A. Zerr versprach im selben Jahre uns zu besuchen. Darum wurde beschlossen, zu diesem hohen Besuche die Kirche gründlich zu restaurieren; zumal doch Jamburg schon 43 Jahre darauf wartete. Als unser Ehrw. Pater davon dem Kirchenältesten meldete, sagte dieser ganz verlegen: „Herr Pfarrer, wir haben ja gar kein Kirchengeld.“ „Und,“ fügte Herr Pater bei ,,keinen Glauben.“ Kurzum die Arbeit wurde abgegeben, und nachdem der Altar, die Wände, die Decke gefärbt und die beiden Kreuze vergoldet waren, hatte die Kirchenkasse noch dreihundert Rubel gesammelten Geldes. Am 29. Juni traten wir freudig in das altneue Bethaus ein. Die Freude der Jamburger sollte jedoch von kurzer Dauer sein. Es kam jener zentnerschwere 15. September 1897, der die alte Kirche in ihrem Jubiläumskleide auf immer in den unbarmherzigen Flammen aufgehen sah. Da der „Klemens“ seiner Zeit sein Beileid diesbezüglich brachte, so wende ich auch meine Augen von jenem grausigen Orte, von Kohlenschutt u. verbranntem Holze weg, um den verlassenen Priester in einem ausgeräumten Zimmer des Pastorates vor einigen geretteten und meistens eingeräucherten Kirchensachen aufzusuchen: „Gott hats gegeben, Gott hat’s genommen“, kam es über die vor Schmerz gepreßten Lippen, „sein hl. Wille ist geschehen.“ Da tags darauf niemand von Jamburg sein Haus zur zeitweiligen Abhaltung des hl. Meßopfers abgeben wollte, so mußte die kleine Grabkapelle auf dem Kirchhofe bis tief in den Winter hinein herhalten. Darauf diente eine Stube des Pastorats als Stellvertreterin der Pfarrkirche bis zum Jahre 1898. Nach einem vorausgegangenen Lärm ohne Erfolg, bezüglich Erbaung eines Notbethauses, nahm unser Ehrw. Priester 300 RbI. und übergab es dem Ältesten, mit dem Bescheid, Holz zu holen und zu bauen. In 2 1/2 Wochen stand  ein Notbethaus fertig da von 7 Faden Länge, 4=Breite. Die innere Einrichtung entsprach, so viel es die gegenwärtige Lage zuließ, seinem Zwecke ganz leidlich, da man außer den zwei Sakristeien, noch einen Chor für ca. 20 Mann unter dem Gewölbe anbrachte. Alles atmete munter auf. Wie geheimnisvoll ist doch Gott in seinen Ratschlüssen! Auch diesmal sollten die Jamburger in ihrem Troste gestört werden. Das erwähnte friedliche Heim des Gebetes mußte ebenfalls ein jäher Raub der unbändigsten Flammen werden. Am 4. August 1898 um 12 Uhr mittags loderte über dem leichten Holzdache desselben eine pyramidalförmige Flamme in die stille Höhe, um den bestürzten Leuten die totale Vernichtung des beliebt gewordenen Notbethauses anzuzeigen. Die nebenstehende Schule und noch drei Nachbarhäuser fanden gleichzeitig in den Flammen ihr jähes Grab. 19 Als man unserem von einer Pastorationsreise zurückkehrenden Hochw. Pater in Jekaterinoslaw die traurige Meldung davon brachte, bekam er eine so starke Konvulsion, daß er die hl. Meße nicht halten konnte, sondern, wie er nachher sagte, 3 Glas Wasser in einemfort austrank und sprach- und fast gefühllos den Berichterstatter anstarrte. Zu gleicher Zeit trat ein Priester ins Zimmer und tröstete unseren tief betrübten Pfarrer, so viel es in einer solchen Lage überhaupt möglich war. Kaum war der größte Schmerz etwas unterdrückt, als man die Meldung brachte, ein paralisierter Kranke, der große Furcht habe bald zu sterben, ungefähr 8 Stationen vor der Stadt, verlange die hl. Sterbsakramente. ,,Diese Meldung„, sagte mir der Priester oft– ,,dachte ich, kommt von Gott,“ und kurz besonnen fährt er, erst dem mehr Leidenden beizuspringen. Als am andern Tage im Hause des Kranken nach der hl. Messe die Litanei gesungen wurde, sang der Kranke, seine letzten Kräfte sammelnd, auch mit. Dieser Umstand war für das junge bedrängte Herz ein ausgesuchter Balsam. Von da an war er so ruhig gestimmt, daß er, nach Haus gekommen, den zweiten Kirchenkohlenhaufen ansah und seiner besorgten Mutter auf der Treppe von weitem zurief: „Mutter, ist die Schüssel zum Waschen nicht auch verbrannt?“ Er bat alle, sie mögen vom Brande keine Silbe mehr sprechen, sondern Gott inständig um die nötige Stärke und Geduld bitten, dieses Schicksal mit Ergebung tragen zu können. Was der erste Kirchenbrand verschonte, fiel dem zweiten noch zum Opfer.

Es wurde einem jeden von uns bange, wenn wir an den vor der Türe stehenden Winter und die schon durchlebte Unbequemlichkeit aller Art in den kleinen Räumen des Pastorates, der Grabkapelle und des alten Schulhauses dachten. Die Eltern des Pfarrers machten sich bald reisefertig und baten ihren Sohn unter heißesten Tränen, doch Jamburg schleunigst zu verlassen. Aber das Bitten der Eltern half nichts, er blieb, um mit uns den Kelch des Leidens ganz auszutrinken. Im selbigen Jahre wurde hier ein Fruchtmagazin gebaut, das, nachdem es am 1. November fertig war, alsbald für die Abhaltung des Gottesdienstes vorgeschlagen und von allen angenommen wurde. Bei der ersten hl. Messe erinnerte unser Pater uns an die ersten Christen, wie sie auch in so dunklen Räumen und sogar in unterirdischen Katakomben meistens ihrer Religionspflicht nachzukommen bestrebt waren, und wie wir auch einstens mit Gottes Hilfe gleich ihnen aus diesem feuchten, dunklen ungesunden Raume hervortreten werden in eine hellichte Kirche. Die oft zum Erbrechen schlechte Luft, das Auf- und Absteigen des Berges, auf dem das Magazin steht, preßte manch ergrautem Auge helle Tränen auf die Wangen. Von einigen Erkrankungen abgesehen, überlebten alle den Winter und das Frühjahr. Viele, ja sehr viele Pläne wurden geschmiedet. Die abgebrannten Häuser standen bald wieder in viel schönerem Ansehen auf; ein neues Schulgebäude trat an Stelle des alten. Das Fruchtmagazin wurde mit Frucht angefüllt und wir mußten in das neue Schulhaus ziehen. Auch hier gab es viel Unbehagliches durchzuleben. Nun ist es Zeit, das große Bild der trüben Wolken zu verlassen, um auch die Lichtseite desselben näher beschauen zu können. Die Sorge um den Bau einer neuen Kirche wurde um so größer, je drückender die Lage sich gestaltete. Der dem Pfarrer am 17. September 1898 versprochene Plan kam wegen verschiedener Gründe erst nach zwei Jahren unter dem grünen Tuche hervor. Am 5. Juli 1900 war alles vorbereitet und der Plan wanderte unter № 1114 nach St.-Petersburg ins Ministerium. Nachdem sich Seine Hochw. unser Pater dessen überzeugt hatte, säumte er nicht lange, sondern reiste schon nach 15 Tagen zuerst nach Saratow behufs Einholung der nötigen Erlaubnis und darauf nach Petersburg. In der Metropolstadt angekommen, fuhr er an die St. Katharinen-Kirche, wo sich noch einige Dominikaner aufhalten, von welchen er aufs freundlichste aufgenommen wurde. Dabei hatte er das Glück, während eines Seelenamtes für den damals so unglücklich umgekommenen König von Italien Humbert, Seine Majestät den Kaiser von ganz Rußland, Nikolaus II, zu sehen und dem Tronfolger und einigen anderen Großfürsten beim „Libera“ Kerzen zu überreichen. Im Kollegium fand unser Pater einen kathol. Beamten, der sich ihm mit ganzer Seele anschloß und alle noch zu tuenden Wege bereitwilligst mit ihm unternahm. In der großen Kanzlei des Departements für ausländische Konfessionen fragte er zuerst nach dem Plane unserer Kirche. Man fand ihn und gab dem Pater den Bescheid, daß der Turm zu hoch sei und daß er noch manche andere technische Fehler habe, man könne sich auch im Departement einen Plan bestellen und schloß:,,Morgen wird Sitzung sein und hernach können Sie erfahren, ob und wann der Plan zu bekommen sei.“ Da unser Pater ein großer Kinderfreund ist, so fand er auch in Petersburg diese kleine Schar. Diese sind es,“ sagte er später oft, die mir damals halfen, den Plan schneller zu erhalten.“ Am Nachmittage desselben Tages fuhr er nach Schuwalowo, 6 Werst von Petersburg ab, in das Kinderasyl des hl. Joseph, wo er sich vorher schon bekannt gemacht hatte. Den oben erwähnten Beamten bat er, in der Stadt zurück zu bleiben, um nötigenfalls ein Telegramm über den Ausgang der Sitzung zu geben. Als nun Seine Hochwürden den Kleinen seine Not klagte und sie bat den hl. Joseph zu bestürmen, um einen glücklichen Erfolg in seiner Angelegenheit, er werde dafür morgen eine hl. Messe für sie lesen, da riefen alle einstimmig, sie würden sehr beten, daß der hl. Joseph dem Pater bringe. was er so sehnlich wünscht. Das Gebet der Kleinen drang durch die Wolken. Um 2 Uhr Nachmittags erhielt er in der bangsten Erwartung ein Telegramm des Inhaltes: „Der Plan ist bestätigt, nach zwei Wochen bekommen wir ihn.“ Nach herzlichem Danke an die lieben Kinder und deren Oberinnen verabschiedete er sich unter Tränen der Freude und trat den Weg nach der weiten Heimat an. Mit fragenden Blicken erwarteten wir ihn alle, um das Resultat der Reise zu erfahren. Freudigen Mutes flößte er uns allen Trost ein. Zwar dauerte es länger als das Telegramm lautete, aber endlich bekamen wir ihn doch, den langersehnten Plan. Jetzt,“ hieß es, müssen wir auch Bauen, aber mit was und wie?“ Auf Verlangen des Pfarrers versammelte sich die Gemeinde, welcher er vor allem vorlegte, daß sie mit friedlich vereinten Kräften ans Werk gehen sollte, wobei er beteuerte, daß wir die Kirche bauen können, es hänge hauptsächlich vom starken Willen ab. Um mit gutem Beispiele voranzugehen, sagte er: „Alles, was ich bisher bei Euch erworben habe und noch weiter verdiene, opfere ich bereitwillig hier vor Allen zum Baue der Kirche. Es muß außerdem aus Eurer Mitte eine Kirchenbaukommission gewählt werden, ohne die zu bauen es eine Unmöglichkeit ist.“ Dieser Punkt, so klar er auch ist, ging erst durch, als der Pfarrer auf der 4-ten Versammlung fast mutlos den Plan, die Rechnungen, die Sammelbücher und die Bestätigungspapiere auf den Tisch legte und mit schwerem Herzen sagte: „Vielleicht bin ich nicht würdig. den Kirchenbau zu unternehmen, so will ich es lieber einem anderen überlassen, der so baut, wie ihr es wünscht; ich aber kann und darf nicht bauen ohne Kommission. Hier ist der Plan und die übrigen Papiere und ich gebe ein um baldige Versetzung. Wünsche Euch recht viel Glück zu diesem Unternehmen. ,,Was? Wie?“ riefen alle ,,Sie müssen unsere Kirche bauen, kein anderer, Sie müssen bleiben! Wo fehlts, wir tun, was Sie uns sagen.“ „Liebe Leute,“ erhob jetzt etwas mehr ermutigt der hochw. HE. Pater ,,ihr wollt ja keine Kirchenbaukommission und ohne die kann ich nicht bauen. Damit Ihr dabei nicht vergesset, daß ich nicht meine eigene Interessen verfolge, so wählet aus Euch gerade die heraus, die am ärgsten geschrieen haben.“ Die Wahl wurde vorgenommen und man wählte außer dem Pfarrer, der als Vorsitzer die meisten Stimmen erhielt, noch acht Mitglieder. Somit war des Guten fast zu viel getan. Nach Bestätigung der Kommission erhielt der Priester freiere Hand, was er denn sofort benützte. Auf seinen Vorschlag wurde ein Ausschlag von einem Rbl. auf die Seele veranstaltet, das Geld vom Fischfange, die sog. мiрскiл суммы (Friedenskapital) und noch andere Einnahmsquellen wurden zu diesem Zwecke, zum Baue der Kirche, bestimmt. Das waren damals nur Beschlüsse, Baargeld wies jedoch die Kasse fast gar nichts auf. Trotzdem mußte auf das Drängen des Paters angefangen werden, und wirklich am 10. Mai 1901 war schon die Einweihung des Fundamentes und Grundsteines. Diese Feierlichkeit zeigte so recht deutlich, daß auch auswärtige Pfarrkinder an dem Baue ihr reges Interesse haben, denn so viele Gäste hatte Jamburg noch nie auf einmal bei sich bewirtet.

Hausfreund, Kalender 1907, p.88

Des großen Feiertages wegen konnte nur ein auswärtiger Priester, P. Lewtschak zur besagten Einweihung kommen. Unser Pater hielt nach der Einweihung die Predigt, in der er, über das erlebte Schicksal hinwegschauend, die Aufmerksamkeit aller auf den Gott wohlgefälligen Bau lenkte, welcher mit der Einweihung beginnt und mit derselben beschließen wird. „Nicht nur für Euch,“ fuhr er fort, sondern auch für Eure Kinder und Kindeskinder wird sie ein Ort allgemeinen Trostes sein. Liebe, Friede und Eintracht werden vollbringen, was Eifer in den Grund gelegt.“ Auch HE. P. Lewtschak hielt in polnischer Sprache eine kurze Rede, worin er, so viel wir aus den herzlich gesprochenen Worten vernehmen konnten, seiner Freude über den Eifer der Leute zum Kirchbaue Ausdruck gab. Die Nachkommen werden sich stets mit Dank an die Bauenden erinnern und ihrer im Gebete gedenken. Sie mögen doch ihrem fast aller Hilfe baren Pfarrer beständig tätig beispringen. Wer hätte damals schon gedacht, daß dieses so still angefangene Werk am 20. September desselben Jahres schon im Rohbau fertig sein wird, und daß am 1. November die neuerbaute Kirche schon zum Abhalten des Gottesdienstes hergestellt werden konnte. Wind, Schnee und Regen drangen oft durch die Risse der an den Fensteröffnungen angebrachten Bretter und Notfenster; aber die leichten Gemüter deckten alles Unbequeme zu. Jetzt,“ hieß es, „haben wir auch eine eigene Kirche.“ Trotz der schnellen Beendigung des Baues, gab es doch viele Schwierigkeiten zu überwinden. War die Wahl der Kommission eine schwierige, so sollte die Uebergabe der verschiedenen Arbeiten eine noch weit schwerere werden.

Hier kann ich nicht stillschweigend die große Aufopferung und noch größere Energie unseres allgemein geehrten und geliebten Baumeisters HE. M. Zerches übergehen. Mit Wort und Tat stand er stets in den schwierigsten Fragen und Lagen dem ohnedies mit seiner himmelweiten Pfarrei beschäftigten Erw. HE. Pater hilfreich zur Seite. Deswegen haben wir auch nur allein diesen beiden Wohltätern es zu verdanken, daß unsere Kirche so schön und wieder so billig zu stehen kam. Der genannte HE. Baumeister, der die Aufsicht der Arbeit ganz unentgeltlich übernahm, erfüllte dieses verantwortliche Amt, so daß sich sowohl die besten Fachmänner im höchsten Grade verwunderten, als auch alle hier gewesenen Zuschauer und wir alle nicht genug Worte des Lobes und Dankes finden. Einen solchen Mann sollten Türe und Tor offen stehen, wo es sich um einen Kirchbau handelt. In Georgsburg und Petrokowsk Sawody hat derselbe Baumeister nach unserer Kirche ebenfalls gebaut, und sind die Leute höchst zufrieden. Tage und Nächte hindurch wurden von HE. Pater und Baumeister die verschiedensten Teile des Baues erwogen, besprochen, berechnet, angenommen oder verworfen. Fehlte der Baumeister an der Arbeit einige Zeit, so sah man es an, daß sie desselben harre. Die feinsten Teilchen der Karnise mußten aufs korrekteste ausgeführt werden, um nicht vor den scharfen Augen des Baumeisters einer Veränderung zu unterliegen. Da der Bau auf ökonomische Art unternommen wurde, so kam er auch uns einesteils durch entsprechende Verteilung der Arbeit, andernteils durch Aufsuchen des guten und wohlfeilen Materials verhältnismäßig billig zu stehen. Wie schwer sind oft die Folgen eines auf verfehlte Art und Weise abgegebenen Kirchbaues zu tragen, besonders dann, wenn sowohl die Arbeit, als auch die ausschließliche Aufsicht über Material, Arbeit und Arbeiter einem Arbeitnehmer (подрядчякь) samt und sonders überlassen wird, der nach einer oberflächlichen Inansichtnahme eines Ingenieurs die Schlüssel abgiebt und seinen fetten Teil mit sich nach Hause nimmt. Ich kann von der Kirche nicht scheiden, bevor ich nicht noch einmal dieselbe angesehen habe. Da steht sie, gleichsam wunderbar aus der Erde hervorgewachsen, 18 Faden hoch ragt der starke Turm in die Höhe mit dem christlichen hehren Siegeszeichen, vergoldet in die Lüfte sich über den mit Karnisen und Verzierungen versehen Turm emporschwingend. Die hohen Fenster, die schönen und soliden Wände fesseln das Auge. Unter der Türe stehend strahlt der Hochaltar in seiner ganzen Freundlichkeit entgegen. Die geschmückte Kanzel mit einer eisernen Aschurleiter, die eiserne Kommunikantenbank, das aus Beton auf eisernen Schienen und Balken verfertigte und mit einem schönen Eisengitter eingeschlossene Chor, der teils mit Bergenheimer Steinfliesen, teils mit Schönwalder Zementblatten belegte Boden, das von dem Frescomeister K. Fircho bemalte Plafond und die Wände bieten dem eintretenden Beter eine besondere Erhebung des Gemütes und Bewunderung. Wenn es als am Geld gebrach, hörte man Seine Hochwürden unsern HE. Pater nur sagen: „Gott ist mit uns, es wird schon wieder gehen.“ vertrauensvolles Wort, das vollständig in Erfüllung ging. Ueber 22.000 bl. einschließlich die Sammlung, die persönliche Beihilfe des uns über alles lieb gewordenen Priesters und unser eigenes Kapital, abgetragen und nur ca. 5½Tausend sind wir an Privatpersonen schuldig. Gott war und ist mit uns. Um dieses uns tief ins Gedächtnis einzuprägen, ließ unser HE. Pater das Auge über dem Hochaltare anbringen, das sich auch sofort dem Eintretenden repräsentiert. Dieses allsehende Auge sah unseren großen Schmerz beim zweimaligen Kirchenbrande. Dieses fürsorgende Auge wandte sich nicht von uns ab, als wir in den verschiedensten Winkelt Jamburgs das öffentliche Gebet verrichteten, dieses rettende Auge sah die Verlassenheit eines jungen Priesters, der mit den stärksten Gegengeistern allzeit zu kämpfen hatte. Am 17. Oktober 1902 wurde die neuerbaute Kirche vom Dekan J. Schamné im Beisein von noch sieben Priestern und einer großen Menschenmenge aus allen Teilen des Südrußlands eingeweiht, wobei P. Kuhn die Festrede hielt. Er erinnerte in der unvergeßlichen Rede an das Glück der Jamburger, die in ihrer Mitte ein so prächtiges Gotteshaus in so kurzer Zeit nach dem Brande befäßen. Aus dem Altar, Beichtstuhl und Taufstein der Kirche fließen ihm die größten Gnaden des Lebens zu. Er gedachte auch der vielen und fast übermenschlichen Sorgen des HE. Paters und der Energie des Baumeisters und forderte uns zum Danke auf, was wir nie unterlassen werden, so lange warmes Blut in unsern Adern fließt. Schließlich wünschte er dem Hause noch den letzten Schmuck, welchen es auch am 21. September 1905 durch die geweiten Hände des hochwür. HE. Bischof I. Kepler erhielt, bei Gelegenheit der Firmungsweise, wovon im „Klemens“ seiner Zeit behandelt wurde. Nach der Feierlichkeit folgte ein Mittagmahl, bei welchem auch drei russische Geistlichen erschienen, von denen einer einen Toast auf unseren Herrn Pfarrer hielt, der allgemein enthusiastisch mit Hurrah beantwortet wurde. Er sagte, daß es die mißliche Lage der hiesigen Kolonie zur Genüge kannte und nie dachte, daß hier eine Kirche gebaut werden könnte. Und doch machten die schwachen Hände eines katholischen Priesters es möglich, daß in so kurzer Zeit ein Prachtgebäude dasteht. . .  Die liebenswürdige Aufnahme des Pfarrers und aller kath. Priester und ihr offenes Benehmen den orthodoxen Priestern gegenüber bringe ihm den Wunsch auf seine Lippen: „Es möge doch endlich ein Schafstall und ein Hirte werden!“

Nach einigen herzlichen Toasten von Priestern, Landvögten, Baumeistern und anderen – endete das Mal.

Wir alle konnten anfänglich uns nicht recht zu Hause dünken, wenn wir uns in der neuen Kirche versammelten; denn alles kam uns vor als wäre es immer noch nicht das Unsrige.

Danken müssen wir dem lieben Gott und unserem guten Priester, dessen Energie uns geholfen hat, so prüfungsvolle Wege zu gehen und durch den endlich unsere Leiden in unsägliche Freude verwandelt wurde. Ich meinesteils, trotzdem mir die Macht der Feder gebricht, und ich das erste Mal in die Oeffentlichkeit trete, konnte es nicht länger mehr in meiner Brust verbergen, meinen innigsten Dank öffentlich vor den Lesern des geschätzten Kalenders Hausfreund“ auszusprechen. Ich denke dabei, daß die vielen Bekannten, die mich schon so oft zu dem nun getanen Schritt angespornt, meine Meinung ganz teilen werden.

Eduard Schmidt, Redakteur

Hausfreund, Kalender 1907, p.90
Barch R57 7329 p. 230 Pastor Simon
  1. Artikel im Original entnommen dem: Hausfreund, Kalender für Neu-Rußland. Begründet 1892 von Kanonikus Rudolf Reichert. Herausgeber und Verleger: Edmund Schmidt; Druck von A. Schultze, Odessa. 1907 p. 82-90 ↩︎
  2. Es ist der altbayrische Dialekt ↩︎

Pfälzer Geschichten

Der hingerichtete Ahne.

Der gemeinsame Ahnherr der Familien Käfer und Littig aus Taurien lebte in Pirmasens, einem kleinen Dorf im Amt Lemberg.

Dieses Amt gehörte zur Grafschaft Hanau-Lichtenberg mit der Hauptstadt Buchsweiler (Bouxwiller, Bas-Rhin).

Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) lebten in Pirmasens 59 Familien mit rund 235 Einwohnern. Als im Jahre 1622 Spanier und kroatische Reiter der kaiserlichen Truppen durch die Pfalz zogen, litt die Bevölkerung unter den Lasten der erzwungenen Einquartierungen. Die Truppen nahmen alles mit, was in irgendeiner Weise brauchbar war, von den wenigen Nahrungsmitteln in den Vorratskammern, über Vieh, Pferde, Wagen. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, die Männer malträtiert, und wenn es nichts mehr zu holen gab, folgten Brandschatzung.

Daher setzten sich die Pirmasenser Bürger Hanß Seegmüller, Johannes Krämer, Hans Krämer und Jacob Jost gegen die einfallenden Soldaten zur Wehr und töten vier von ihnen, weshalb das Dorf aus Rache von den Soldaten in Brand gesetzt wurde.

Heinrich Bürkel: „Brand in einem Dorf“, 1826, Öl auf Holz, Münchner Kunstverein. Q.: Stadt Pirmasens, Museum für zuhause

Die vier wurden gefangen genommen und nach Buchsweiler geschafft, um sie der Gerichtsbarkeit zu überstellen. Üblicherweise war eine öffentliche Hinrichtung ein Volksspektakel, häufig in Verbindung mit Jahrmärkten, um eine hohe Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen.

Grausamkeiten sorgten bei Hinrichtungen für ein Exempel und waren an der Tagesordnung, so wurden die vier Delinquenten nach Verhör und Geständnis zum Rad und Verbrennen verurteilt.

Holzschnitt aus der Schweizer Chronik des Johann Stumpf (Ausgabe Augsburg 1586) Wolfgang Schild –- Die Geschichte der Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München: Verlag Georg D. W. Callwey, 1980. Lizenzausgabe für Nikol Verlagsgesellschaft mbh, Hamburg 1997 S. 202 (Scan), gemeinfrei

Dieser Tod war wenig ehrenvoll, mit gebrochenen Gliedern auf dem Rad den Flammen übergeben zu werden. Daher baten die vier Pirmasenser um Gnade und Ehre für ihre Familien, das Schwert galt als ehrenvoll, würde ihren Namen nicht beschmutzen, weshalb die Art ihres Todes äußerst wichtig war. Dieser Bitte wurde nachgegeben und so traten sie am 8. Oktober 1622 den Weg zum östlichen Gipfel des Bastberges, dem Galgenberg, an.

Galgenberg, Bouxwiller, Bas-Rhin, France, Wiki-Shacke – Eigenes Werk, 2010, CC BY-SA 3.0

Man brachte die Gefangen meist mit dem Wagen von Buchsweiler in das Dorf Imbsheim, dort wurden sie mit Ketten gebunden und vor dem Rathaus an den Pranger gestellt. Anschließen führte man sie zur Richtstätte. Der Weg auf den Galgenberg hieß der Urteilsweg. Nach der Hinrichtung versammelten sich die Richter in einem Hause nahe bei der Ratsstube und nahmen einen Imbiss ein. Daher soll nach alter Überlieferung der Name Imbsheim kommen.1

Franz Schmidt bei der Hinrichtung von Hans Fröschel, 1591. Die Zeichnung gilt als einzige verlässliche Darstellung des Scharfrichters. Foto von Staatsarchiv Nürnberg, Gemeinfrei

Der Scharfrichter waltete seines Amtes und beförderte die Männer vom Leben zum Tode. Der Pfarrer, welcher offensichtlich ein Verständnis für die Tat hatte, beerdigte alle auf dem Kirchfriedhof in Buchsweiler, nicht, wie es zumeist geschah, außerhalb der Friedhofsmauern, oder, was häufiger geschah, auf dem Galgenberg.

Bouxwiller – Registres Paroissiaux (Avant 1793) – Paroisse protestante (Avant 1793) – Registre de baptêmes mariages sépultures 1614-1638 – Original en mairie ad67_ec_061001600181

freitags d 4. 8tbris, Wurd alhir vff d kirchoff begrab, Hanß Segmüller, Johann Krämer, Krämer Hanß, Vnd Jacobs Jost, alle 4. Burger Zu Pirmensensß, Lemburger Ampts, so mit dee Schwerd gricht Word, weil sie in Ihrem Dorff, 4. Keyserliche Soltat erschoß Vnd Vmbgebracht.

Bouxwiller – Registres Paroissiaux (Avant 1793) – Paroisse protestante (Avant 1793) – Registre de baptêmes mariages sépultures 1614-1638 – Original en mairie ad 67_ec_061001600219

Freitags d. 4. 8tbris, 1622. Wurd nachfolgende Vier Perßonas, Hanß Seegmüller, Johannes Krämer, Krämer Hanß, Vnd Jacobs Jost, alle Bürger von Pirmensenß, Lemburger Ampts, weil sie in Ihre Dorff, 4. kayserliche Soldat wehrlos gemacht, erschoß vnd erschlagen. Vnd nachgehends darauf, ds Dorff, Von der kayserlichen Armada teils in Brandt gestecket word, mit Vrtheil Vnd recht, Zum rad Vnd feuer erkandt, nachgehends aber, vff Ihr Demütige Bitt mit dem Schwerdt gericht, Vnd vff d Kirchoff alhir begrab, sind alle Christlich Vnd standhaft gestorb. Gott Verleihe Ihnen ein fröhliche Aufferstehung. Amen.

Der Krieg unterdessen brachte weiteren Plünderungen und Brandschatzungen, so lebten 1657 noch 40 Einwohner in Pirmasens.

Hanß Seegmüller starb, jedoch wissen wir von drei Kindern, Arbogast (um 1603-9.3.1683), Georg (* um 1608) und Eva (* um 1610).

Auf der linken Seite ist die Nachkommenschaft des Arbogast, diese geht in die Littig über und zur Baroness von Gottesheim. Auf der rechten Seite die Nachkommenschaft von Eva, welche in der Linie der Käfer mündet. Beide Familien werden wir als Einwanderer in Taurien wiederfinden.

Sterbeeintrag Arbogast 1683 im Mischbuch Pirmasens 1640-1721

Schwester Eva war verehelicht mit Nicolaus Claß (um 1601-19.12.1666), beide lebten ebenfalls noch in Pirmasens, hier war er 15 Jahre der Glöckner der Kirche.

Sterbeeintrag Nicolaus 1666 im Mischbuch Pirmasens 1640-1721

Die Nachkommen verteilten sich bereits in die umliegenden Dörfer, hier hell markiert:

Herder, Benjamin: Das Koenigreich Wuerttemberg Das Grossherzogthum Baden und die Fuurstenthuumer Hohenzollern : entworfen und bearbeitet im Maasstabe 1:200 000 in 12 Blaettern von I.E. Woerl. 1838

Die Zeiten werden nicht leichter, als sich am 23. Juni 1783 ein acht Monate anhaltender Ausbruch von Vulkanen auf Island mit extremen Frostperioden in Europa ereignete. Infolgedessen trafen extreme Schneeschmelzen, massive Hochwasser und Zerstörungen im Februar 1784 ganz Europa.

Kälte und wechselhaftes Wetter hielten an und gipfelten, bedingt durch Missernten 1788, in einer extremen Teuerungskrise und Hungersnot, in deren Folge die Französische Revolution (1789–1799) ausbrach und sich ausbreitete, auch alle linksrheinischen Gebiete erreichte.

Das Amt Lemberg fiel im Jahre 1794 an Frankreich, nach 1804 wurde es Teil des Napoleonischen Kaiserreichs.

Für die leidgeprüfte Bevölkerung gab es erhebliche Umwälzungen. Aufgrund der Einführung des französischen Kalenders entfielen die Sonn- und Feiertage, ebenso alle kirchlichen Feste. Jede Art von Gottesdienst außerhalb der Kirchen wurde bei einer Geldstrafe von 500 Lire und einer Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren verboten. Kein Geistlicher durfte bei Beerdigungen im Talar oder priesterlichen Gewand erscheinen, sondern musste bürgerliche Kleidung tragen. Die Toten mussten ohne Glockengeläut und ohne Segen der Erde übergeben werden.2 Die Bevölkerung, komplett ausgeplündert von Steuern, musste den verpflichtend eingeführten Militärdienst leisten, Französische wurde Amtssprache.

Wenngleich die bisherige Leibeigenschaft aufgehoben wurde, freier wurden die Menschen unter der französischen Regierung nicht, weshalb sich viele zur Auswanderung entschieden, in der Hoffnung, im Ausland ein besseres Leben zu finden.

Quelle: Wikipedia

  1. Der Bastberg; in: Elsaß-Land – Lothringer Heimat, Monatsschrift für Heimatkunde und Touristik 1936, p.197f ↩︎
  2. Ludwig Mayer: Heimatlexikon Thaleischweiler, Französische Besetzung und Zugehörigkeit zu Frankreich ↩︎


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Rink-Wagner Odessa

Die Namen Rink (auch Rinck) und Wagner sind mit der Historie Odessas eng verbunden. Daher möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Überblick zur Familie geben.

Das „Englische Geschäft“ ist ein bis heute prägendes Gebäude der Stadt.

Wagner Geschäftshaus, 1899, Ecke Deribasovskaya- und Ekaterininskaya-Straße, alte Ansicht von Odessa1

Der württembergische Untertan Friedrich Wilhelm Wagner (12. September 1802, Dornhan – 10. Oktober 1882, Odessa) wanderte mit seinem Vater Joseph Wilhelm (*18. August 1782) nach Odessa aus und machte zunächst eine Ausbildung bei dem Kaufmann James Cortazzi (*1798, Smyrna/Türkei).2

Geburt Friedrich Wilhelm Wagner 1802, Dornhan, Taufregister 1799-1807 Bd. 2
Joseph Wilhelm Wagner *1782, im Ausland gestorben, Familienregister Dornhan 1808-1846 Bd 22

James Cortazzi war der Sohn des venezianischen Konsuls in Smyrna, Luc Tricon Cortazzi (*1766 Smyrna) und der Elizabeth Hayes (1768, Izmir/Türkei–1847, Odessa), Tochter des britischen Konsuls.3 Er leitete das englische Handelsgeschäft der Familie Cortazzi in Odessa und war von 1848 bis 1857 Bürgermeister der Stadt.

Cortazzi war bei seinen europäischen Geschäftspartnern vor allem im Weizenhandel ein hochumstrittener Handelspartner, der jedoch bestens vernetzt war und in Odessa über viel Einfluss und entsprechende Kontakte verfügte.4

Warum dieses Geschäft in den Besitz von Wagner kam, ist unklar, sicher ist, Gründungsdatum des Handelshauses Wagner war der 1. März 1833. Wilhelm Wagner handelte unter anderem mit Maschinen, Galanterie- und Manufakturwaren.

Anzeige in: Neuer Haus- und Landwirtschaftskalender für deutsche Ansiedler im südlichen Russland auf das Schaltjahr 1884, L. Nitzsche Odessa. p. 102, digitalisiert Taurien e.V.

Von 1863 bis 1873 war er Mitglied der Stadtduma von Odessa aus der Kaufmannsklasse, Kaufmann der 1. Gilde und vererbte das Geschäft an seinen Schwiegersohn Karl Jakovlevic Rink-Wagner. Dieser nahm mit der Eheschließung den Nachnamen Rink-Wagner an. Helene Wagner, die am 14. April 1906 in Berlin-Schöneberg starb, war die Tochter des Wilhelm Wagner und der Katharina geborene Stigler (1821–1901).

Helene Rink-Wagner, Sterberegister Standesamt Berlin-Schöneberg 1906

Karl Rink-Wagner besaß im Laufe der Jahre neben dem Handelshaus mehreren Häusern in Odessa und eine große „Datscha“ in der Wagnerovsky-Gasse.5 Dieser Besitz wurde unter seinen Erben aufgeteilt, nachdem er im Alter von 66 Jahren am 27. Mai 1895 gestorben war.

Sterbeeintrag Karl Rink-Wagner 1895, KB Odessa, reformierte Kirche, 1892-1895

Zu diesen Erben gehörten Karl Wilhelm (30. Juli 1868, Odessa – 26. Dezember 1954, Freiburg im Breisgau), ebenfalls Gallanteriewarenhändler. Er war seit Anfang 1893 mit Gertrud Clay (*1868), Tochter des Baumwollhändlers Thomas Campbell Clay aus Wavertree, Lancashire/England verheiratet, in zweiter Ehe mit Amalie Henriette Else Zumpft (1884–1954), Tochter des Kaufmannes Robert Zumpft;

Eduard Wilhelm Wagner (*20. Dezember 1873), der mit seinem Bruder Karl Wilhelm K. Rink-Wagner u. Eduard Wilhelm Rink-Wagner u. Co. Galanteriewaren führte;

Emilie Caroline Magdalena Wagner (15. September 1877, Odessa), verheiratet mit Karl Förster (*1867);

Richard Wilhelm Carl Wagner (26. Dezember 1880, Odessa);

und Helene Katharina Henriette Rink-Wagner (21. Juni 1871, Odessa – 28. Oktober 1961, Odessa), Frau des Professors Dr. med. Nikolaus Käfer (24.1.1864, Neumontal – 28.12.1944, Odessa). Beide heirateten am 25. Juli 1897 in Odessa.

Traueintrag Käfer & Rink-Wagner 1897, KB Odessa, reformierte Kirche 1897-1900

Nach der Befreiung Odessas am 10. April 1944 wurden Professor Dr. med. Käfer und seine Frau verhafteten und in das örtliche Gefängnis überstellt. Unter den extremen Haftbedingungen verschlechterte sich seine Gesundheit rapide und man entließ ihn zum Sterben († 28. Dezember 1944), Helene musste im Gefängnis bleiben und wurde erst nach seinem Tod am 3. Februar 1945 unter Auflagen entlassen. Sie verstarb am 28. Oktober 1961 in Odessa, beide wurden auf dem 2. christlichen Friedhofs von Odessa, Abteilung 22, beigesetzt.

Foto von Natalya Kaneva, veröffentlicht auf der privaten Homepage Одесское второе кладбище, mit vielen weiteren Daten zur Familie

Ihre Kinder waren Prof. Ing. Woldemar (14. April 1898 – 22. August 1981), außerordentlicher Professor des Kältetechnikinstituts von Odessa.

Geburt Woldemar Käfer, 1898 KB Odessa, reformierte Kirche 1897-1900

Tochter Vera (12. November 1907 – 11. Mai 1991), verheiratet mit Boris Zozulewitsch (6. Januar 1910, Lodz – 8. März 1998, Moskau).

Sie studierte zunächst am chemisch-pharmazeutischen Institut in Odessa, arbeitete dann am Institut für Ernährung, wurde Assistentin der Abteilung für anorganische Chemie des medizinischen Instituts in Odessa und später war sie im klinischen Diagnoselabor des Instituts für Augenkrankheiten in Odessa tätig.6

Ihr ebenfalls in Odessa lebender Sohn Georgy Borisowitsch Zozulewitsch (29. Oktober 1941 – 19. Januar 2024) schrieb die Familiengeschichte Professor Käfers auf, sodass 2007 eine Veröffentlichung7 erfolgen konnte.

Der zweite Sohn Dr.-Ing. Boris Kaefer (*4. Juli 1902, Odessa), blieb bereits in den 1920ern in Deutschland und studierte an der Technischen Hochschule München.

Boris Kaefer : Beitrag zur Ermittlung der Eigenschwingungszahlen ebener und räumlicher Stabwerke. (Mit 22 Textabb.) Stuttgart 1935: A. Bonz‘ Erben (51 S.) 8° München (Techn. Hochschule), Dr. – Ing. – Diss.8

Im Jahre 1936 war er dann als Bauingenieur bei der Nord-Süd-Bau Bayern G.m.b.H für Siedlungs-, Hoch-, Tief und Eisenbetonbau (Rosenheim)9 tätig, ehe er in späteren Jahren eigene Bauunternehmung Dr.-Ing. Boris Kaefer KG gründete.

Sein Name ist aber auch eng mit dem Eishockeysport verbunden.

Seine Söhne Alexander „Sascha“ (1937–2019) und Jochen Nikolai (1939–2024) spielten in früher Jugend beim SC Riessersee. Nach ihrem Umzug nach Grafing bei München gründete die Familie Kaefer 1957 den EHC Klostersee, dem sie im Vorstand und bei der Vereinsarbeit treu blieben bis ins hohe Alter. Auch heute ist ein Kaefer aktiver Spieler.

Zu den Vorfahren der Familie Käfer hier:



  1. alte Ansicht von 1899, gefunden auf Об Одессе с любовью! Проект Ю. Парамонова ↩︎
  2. THE WHITTALL FAMILY IN THE 18th & 19th CENTURIES & ASSOCIATED FAMILIES compiled by G.W.WHITTALL, Edited by John Whittall ↩︎
  3. A record of the origin and history of the Giraud and Whittall families of Turkey By Edmund H. Giraud and a short history of the La Fontaine family by James La Fontaine – 1934 ↩︎
  4. Funfzig Jahre in beiden Hemisphären: Reminiscenzen aus d. Leben eines ehemaligen Kaufmannes, Band 2, von Vincent Nolte, Hamburg, Perthes-Besser & Mauke 1853, p. 311ff ↩︎
  5. Architekturdatenbank ↩︎
  6. КК Васильев · 2007 · К. ПРОФЕССОР Н. И. КЕФЕР (1864–1944). И ЕГО ВОСПОМИНАНИЯ ↩︎
  7. Veröffentlichung durch КК Васильев ebenda ↩︎
  8. STAHL UND EISEN ZEITSCHRIFT FÜR DAS DEUTSCHE EISENHÜTTENWESEN
    Herausgegeben vom Verein deutscher Eisenhüttenleute
    Geleitet von Dr.-Ing. Dr. mont. E.h. O. Petersen unter verantwortlicher Mitarbeit von Dr. J.W. Reichert und Dr. W. Steinberg für den wirtschaftlichen Teil
    HEFT 49 5. DEZEMBER 1935 55. JAHRGANG, p.189 ↩︎
  9. Tonindustrie-Zeitung: und Fachblatt der Zement-, Beton-, Gips-, Kalk- und Kunststeinindustrie, Band 60, Chemisches Laboratorium für Tonindustrie, 1936, p.859 ↩︎
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Vorbote des Holomodor

Hunger in den deutschen Wolgakolonien

17.9.1921 Tiflis

Kaukasische Post, Nr. 24, 13. Jahrgang

Von zuverlässiger Seite wird uns hierzu geschrieben: „Die Hungersnot, die in diesem Jahre mehrere Gouvernements Rußlands betroffen hat, wütet am rasendsten im deutschen Gebiete an der Wolga. Im Herbst 1920 und im Frühjahr 1921 wurde ganz wenig ausgesät, wegen Mangel an Samen. Dazu gesellte sich in diesem Jahre noch die Dürre. Bis zum 15. Juni d. J. hat die Außerordentliche Kommission für Bekämpfung des Hungers festgestellt, daß 70 % der Aussaat verloren ist. Der andere Theil hätte bei günstiger Witterung noch 349 860 Pud geben können, was – auf eine 450 000 köpfige Bevölkerung verteilt 31 Pfund pro Seele im Jahr ausgemacht haben würde. Jedoch günstige Witterung ist nicht eingetreten, sodaß auch dieses Quantum nicht geerntet wurde. Bis zum 15.6. waren im deutschen Gebiete 30 000 (299 000) Hungernde, die Mehrzahl der Hungernden sind Bauern. Man lebt jetzt direkt vom Gemüse, wo solches vorhanden ist; die Mehrzahl nährt sich von Zieselmäusen, Pfiffern u.s.w. Hungernde Kinder laufen auf den Straßen umher und suchen verschiedene Abfälle auf, womit sie ihren Hunger stillen. In manchen Dörfern kommen täglich bis 20 Todesfälle durch Hunger vor, Zu diesem Uebel haben sich noch Cholera und Typhus eingestellt, die täglich reiche Ernte halten. Man verkauft alles, was sich verkaufen läßt, für Spottpreise, sogar ganze Gebäude mit Hof und allem möglichen werden für 15 Pud Korn verkauft, auch das alles, um nur irgendwie sein Leben zu fristen.



Голодомор „Tötung durch Hunger“

aus: Kaukasische Post, Nr. 24, 13. Jahrgang

Gut Federowka

Der alte Friedhof

Verfallener Friedhof, am einsamen Ort,
Nun geht der Pflug bald über dich fort.
Noch hüllen mit traulichem Dämmerschein
Die alten Linden dich friedlich ein.
Verwitterte Steine nur ragen auf,
Wo die Hügel versanken im Zeitenlauf.
Und alles umwuchert Gras und Strauch,
Und drüber weht des Vergessens Hauch.
Ein einziges Grab ist an diesem Ort,
Drauf blühen die Veilchen und Rosen noch fort.
Wenn Lenzluft weht um dieses Grab,
Wankt her ein Mütterlein am Stab.
Sie trauert noch dem Einen nach,
Der einst das junge Herz ihr brach.

Paul Barsch (1860 – 1931), schlesischer Mundartdichter

Kostiantyn Antonets beschäftigt sich schon länger mit der Entdeckung der Geschichte der ehemaligen deutschen Dörfer und stellte mir daher freundlicherweise seine Fotos zur Verfügung. Der Fund dieser alten Grabsteine erzählt uns die Geschichte des Missionars Wilhelm Heine (1833–1897), seines Sohnes Pastor Wilhelm Heine (1866–1938) und aller mit ihnen verbundenen Familien. Der Friedhof befindet sich auf dem ehemaligen Familienbesitz Federowka (Wesselyj Haj, Novomykolayivka, Zaporiz’ka, UKR).

Missionar Wilhelm Heine

Foto aus: Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909

Mitunter sind die Lebenswege eines Menschen ungewöhnlich, so auch im Falle des Carl Wilhelm Heine. Geboren am 12. Februar 1833 als Sohn des Schuhmachers Wilhelm Hein(e) (1849) und seiner Frau Maria Schmidt (um 1805–1865) stammte er aus recht einfachen Verhältnissen. Seine väterlichen Vorfahren sollen aus Sachsen ausgewandert sein, vermutlich aus der Meißen, wie uns die Angabe im Sterbeeintrag des Schneiders Ludwig Hein(e) verrät, der als Pate wohl Bruder des Vaters war. Der Sterbeeintrag der Mutter Maria vermutete Bayern als ihre Herkunftsregion.

Geburt und Taufe im Kirchenbuch Molotschna 1833

Unter dem Einfluss des Pfarrers Eduard Wüst (1818–1859), der als Prediger der pietistischen Brüdergemeinde in Berdjansk wirkte, fühlte auch Wilhelm Heine eine religiöse Erweckung.

Pfarrer Eduard Wüst10

Wüst und seine Anhänger, darunter auch viele Mennoniten, verfolgten das Ziel, die Disziplin in den Kirchengemeinden und ihre eigene Frömmigkeit zu stärken, Wüst bekämpfte zudem sehr aktiv den weit verbreiteten Alkoholismus und Hexenglauben unter seinen Gemeindemitgliedern. Als Prediger der Ideen der pietistischen Erweckungsbewegung nahm er Kontakt zum Begründer der Bewegung der Jerusalemsfreunde, Christoph Hoffmann, auf.

Die strenge Bibelauslegung der Pietisten hatte allerdings zur Folge, dass aus der pietistischen Brüdergemeinde heraus durch unterschiedliche Auffassungen nicht nur die neue Separatistengemeinde, sondern auch die Hüpfer- und Springersekte („die Munteren“) entstand. 1857 musste Wüst sich auf Betreiben des Evangelisch‑Lutherischen Generalkonsistoriums verpflichten, nicht mehr außerhalb seiner Gemeinde zu predigen und keine geistlichen Handlungen an Lutheranern zu vollziehen.

Zu den Gleichgesinnten, bei denen die Gemeindeversammlungen unter Wüst stattfanden, gehörten die Familien Schaad, Heinrich, Blank, Brühler, Dillmann, Schwarz und viele andere, mit denen sich Heine auch in späteren Jahren noch stark verbunden fühlte.

Der Missionsgedanke war ein fester Bestandteil der pietistischen Gesellschaft, Pfarrer Wüst bemerkte die Gelehrsamkeit und tiefe Religiosität Heines alsbald und überzeugte ihn, in die Ausbildung der Inneren Mission zu gehen. Von dieser Idee erfüllt, führte ihn sein Weg zunächst, gemeinsam mit Jakob Knauer (Neuhoffnungstal), Hermann Sudermann (Berdjansk), Heinrich Bartel (Gnadenfeld) und Johann Klassen (Liebenau) nach Reval zur Bauer’schen Rettungsanstalt. In diese wurden arme Kinder und Jugendliche aufgenommen, um sie vor der Verwahrlosung zu bewahren.

Die Reise erfolgte mit einem Dreispänner 1854 über Liebenau (20. September), Orechow, Charkow (28. September), Kursk, Fatesch (4. Oktober), Moskau (12. Oktober). Von dort nach einwöchigem Aufenthalt mit dem Zug am 19. Oktober nach Sankt Petersburg, diese Fahrt dauerte 48 Stunden. Am 6. November, sieben Wochen nach ihrer Abreise, trafen sie in Reval ein, um ein Jahr zu bleiben.

Unter dem Eindruck der Predigten und Berichte des Missionars Carl Hugo Hahn (1818–1895), welcher über viele Jahre in Afrika tätig war, entwickelte sich bei Heine und Knauer das Bedürfnis, ebenfalls in die Äußere Mission der Rheinische Missionsgesellschaft (RMG) zu wechseln. Dazu war eine drei- bis vierjährige Ausbildung in Barmen notwendig.

Am 2. Januar 1856 war es so weit, mit neuen Pässen und einem Pferdeschlitten sollte die Reise von Reval über Pernau, Riga, Königsberg, durch die Niederung bei Marienburg, Berlin und Hamburg nach Barmen gehen. Mit einem Zwischenaufenthalt von 3 Tagen in Berlin, trafen sie am 15. Februar ein. Jakob Knauer wurde für seine Missionarstätigkeit in Afrika ausgebildet, Wilhelm Heine für Sumatra.

Während Heine an Pocken erkrankte Anfang 1858, war es für Jakob Knauer so weit, er reiste nach Afrika ab. Heines Abschied kam am 29. Oktober 1860. Seine Ordination galt nur für das Missionieren, er unterlag der absoluten Gehorsamsverpflichtung gegenüber der Rheinischen Missionsgesellschaft, musste in allen wichtigen Missionsfragen eine Erlaubnis einholen und durfte fünf Jahre nicht heiraten.

Am 12. November 1860 machte er sich auf den Weg zur Einschiffung in Holland. Die Seereise sollte 3 Monate dauern und um das Kap der Guten Hoffnung nach Sumatra führen. Nach schlimmen Stürmen, die das Schiff fast sinken ließen, erreichten sie Batavia auf der Insel Java, reisten weiter nach Padang/Sumatra. Nach neun Wochen Aufenthalt ging es am 7. August 1861 nach Siboga, wo er am 17. August ankam. Am 20. August reiste er weiter, Djagodjago, Batangtoru (23. August), Paggerutan, dann Sipirok. Es ging zu Fuß und auf dem Pferderücken durch Kampferbaumwälder, Flüsse ohne Brücken, über Berghänge, durch Kaffeeplantagen. Am 20. Oktober erreichte Heine den Ort seiner Mission, Sigompulan. Hier musste alles erst geschaffen werden, am 1. Januar 1862 war Einzug und Einweihung der neuen Missionsstation.

Bild aus: Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909

Die Missionarstätigkeit, die nun vor Wilhelm Heine lag, ist heute unter dem Begriff Batak-Mission bekannt und war im christlichen Sinne sehr erfolgreich.

Grund für diese Mission war der antikolonialen Aufstand in Borneo 1859, bei dem neun Missionsangehörige ums Leben kamen, die niederländischen Kolonialregierung daher die Missionsarbeit in dem Gebiet untersagte. So wandte man sich dem Inneren von Sumatra zu, hier lebte das indigene Volk der Batak, welches aus mehreren Volksgruppen bestand, welche auch eigene Stammessprachen besaßen. Die Batak waren keineswegs unzivilisiert im heutigen Sinne, sondern besaßen eine hochkomplexe Zivilgesellschaft, die sich von den Küstenbewohnern abschottete.

Karte aus „Mission, Kolonialismus und Missionierte; Über die deutsche Batakmission in Sumatra“ 2

Schon Marco Polo brachte 1292 Gerüchten über menschenfressende Bergvölker, die er „Batta“ nannte, mit nach Europa, weshalb bis etwa 1824 kaum Kontakt mit Europäern bestand, da diese die Bergvölker mieden. Heine befragte dazu einen Radja, der ihm erklärte, Verbrechen wie Ehebruch, Landesverrat usw., wurden mit Gefressenwerden bestraft. Auch Kriegsgefangene und Spione wurden verzehrt, an diesen Bestrafungsmahlzeiten nahmen nur Männer teil.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die islamischen padri-Krieger aus Westsumatra Silindung mit Krieg überzogen und waren sogar bis an den Tobasee vorgedrungen, wo sie den Priesterkönig Singamangaraja X. töteten. Seit den 1840ern war die niederländische Regierung in kriegerischen Auseinandersetzungen mit den padri verwickelt, einer militanten, über Mekkapilger wahhabitisch beeinflussten islamischen Bewegung aus Westsumatra. So sollte das Gebiet der Batak zur Befriedung und Stabilität in der Region beitragen, die Christianisierung Verbündete schaffen.

Die Missionare brachten nicht nur die Bibel und öffentliches Bildungswesen mit, sie hatten die Sprache der Einheimischen erlernt und beachteten ihre Traditionen, sodass die Batak ihre kulturellen Eigenheiten bewahren und mit christlicher Tradition verbinden konnten. Die so entstandene Huria Kristen Batak Protestan ist heute die größte evangelische Kirche Indonesiens.

Zunächst galt es, das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen, was nicht so einfach war, da man Heine unterstellte, ein Spion der holländischen Regierung zu sein, der die Battas dazu bringen solle, für das Gouvernement Kaffee anzubauen und Wege anzulegen. Dann hieß es, er würde die Kinder behexen, mit seinem Fernrohr die edlen Metalle im Innern der Erde erspähen, in seiner Uhr einen Geist bei sich führen u.a.m.

Weil die RMG die Idee hatte, auch Fotografien anzufertigen zu lassen, waren die Missionare mit Apparaten und Fotochemikalien ausgestattet. Nachdem Heine ein Landschaftsfoto entwickelte, hieß es: „Seht, der fremde Mann bringt mit Hilfe der Geister, die in dem Kasten stecken, unser Land aufs Papier und trägt’s davon.“ Kein Einheimischer war daher bereit, sich fotografieren zu lassen. Als kurz darauf das tropischen Klima die mitgebrachten Chemikalien zersetze und für eine gewaltige Explosion derselbigen sorgte, riefen die Battas: „Haben wir’s nicht gesagt, dass der Mann ein großer Zauberer ist und viele Geister ihm zu Diensten stehen? Seht ihr, jetzt sind alle Teufel los.“8

Nachdem die 1864 für eine Reise nach Indien vorgesehene Lehrerin Therese Wilhelmine Barner (1842–1909)6, jüngsten Tochter des Hausvaters und Schulmeisters der Rettungsanstalt in Korntal/Württemberg, Andreas Barner (1773–1859) und seiner Ehefrau Maria Regina geborene Metzger (1806–1848), nach Sigompulan entsendet wurde11, fand sich auch für Wilhelm Heine eine Gefährtin.

Eintrag der Therese Wilhelmine Barner im Familienregister Blatt 7 Korntal17

Im Dezember 1865 reiste Heine der ihm aus Europa gesandten Braut nach Padang entgegen. Die Ehe wurde im Februar 1866 geschlossen unter den Gewehrschüssen der Volksmenge , er mußte dann einen Stier schlachten und mit den Vornehmen verzehren. Hatten bisher nur Männer die Station besucht, so bestürmten nun die Frauen und Mädchen das Haus um die njonnja (europäischen Frau) zu sehen und ein kleines Geschenk zu erhalten.

Die eigentliche Aufgabe der Missionarsfrauen bestand vorrangig darin, den einheimischen Frauen und Mädchen das Nähen und Singen christlicher Lieder beizubringen. Sie kümmerten sich um die Haushaltsführung und ihre Kinder. Sobald diese schulpflichtig wurden, mussten sie nach Deutschland in die Obhut der Rheinischen Missionsgesellschaft zur Ausbildung gegeben werden.

Heines Ehefrau fand sich ziemlich schnell zurecht. Sie wurde eine wichtige Person in Sigompulan. Befreundete Battas brachten Hühner und Reis zum Gruß, und aus verschiedenen Dörfern kamen Einladungen zu einer Mahlzeit, denen Heine sich nicht entziehen konnte und wollte, weil er darin eine Gelegenheit sah, den Leuten näher zu kommen. Besonders feierlich wurden die Neuvermählten im Dorfe Lumbandolok empfangen. Selbst der datu (Gelehrte des Dorfes) ehrte das Paar mit Reis, Siri, inländischem Brot und Segensgebeten.14

Es gab zwar zahllose Rückschläge, da den ersten getauften Einheimischen der traditionelle Familienrückhalt entzogen wurde und diesen eigene Dörfer und Felder für die Lebensgrundlage geschaffen werden mussten, damit sie von der Familie unabhängig leben konnten, aber die Schar der christlichen Gemeinde wuchs beständig.

Als es 1866 über mehrere Monate eine Pockenepidemie in Silindung gab, sich einer der Einheimischen infizierte und die Erkrankung nach Sigompulan brachte, zeigte sich der Vorteil, entweder gegen diese geimpft oder die Pockenerkrankung überstanden zu haben, um den isolierten Erkrankten betreuen zu können. Leider wurde Heine zu seinem Totengräber, als dieser letztlich starb.

Am 25. November 1866 kam Sohn Wilhelm Heine, zur Welt, er sollte später ebenfalls Pastor werden. Insgesamt kamen 4 Kinder in der Missionsstation zur Welt, Therese (*1868), die später den Gutsbesitzer Andreas Müller (1858-1911) ehelichte, Hugo (1870–1899), Chemieingenieur, nach kurzer Ehe heiratete sein Witwe Pauline Müller (*1873) im Jahre 1913 seinen Bruder Wilhelm und Friedrich (*1872), ebenfalls jung, ledig, in Russland verstorben.

Geburt und Taufe von Wilhelm und Therese Heine 1877 im KB Neustuttgart
Geburt und Taufe von Hugo und FriedrichHeine 1877 im KB Neustuttgart

Im März 1868 erlaubte der Radja Wilhelm Heine und einigen Begleitern, den bis dahin mit einem Tabu für Nichteinheimische belegten Tobasee zu besuchen. Dieser Besuch war hochgefährlich, weil die hier lebenden Bergstämme vermuteten, es handle sich um padri und wollten sich an den Eindringlingen rächen für die 1831–1832 ermordeten Bewohner ihrer Dörfer. Als sich herausstellte, dass es sich um Missionare handelte, welche große Unterstützung unter den Einheimischen fanden, wendete sich das Blatt nach Verhandlungen zum Guten.

Tobasee, größter Kratersee der Erde, 87 km lang und 27 km breit3

Im Jahre 1868 ging über Pfarrer Jakob Heinrich Staudt (1808–1884) aus Korntal das Gesuch des Missionars Heine und seiner Ehefrau im O.A. Kirchheim ein, Therese Wilhelmine aus dem Württembergischen Untertanenverhältnis zu entlassen unter Verzicht des Bürgerrechtes, da er von dem Angebot, das dortige Bürgerrecht zu erhalten, keinen Gebrauch machen wolle. Er war bereits russischer Untertan und wollte das auch bleiben. Das Amt bestätigte daher ihren Bürgerrechtsverzicht am 9. Juni 1868 und entließ Therese Wilhelmine als ausgewandert nach Russland.

Bürgerrecht-Verzichts-Urkunde Therese Wilhelmine Barmer18

1873 nahm die Familie Heine ihren Abschied und schiffte sich ein, die Reise ging durch den am 17. November 1869 eröffneten Suezkanal, über den Indischen Ozean, das Rote Meer und durch den Kanal ins Mittelmeer nach Jaffa. Von dort aus landeinwärts nach Jerusalem. Es folgten Besuche von Bethanien, Bethlehem, dem Jordan und des Toten Meeres, alles Orte, die in der christlichen Welt von hoher Bedeutung sind. Nach einem Monat Aufenthalt bestieg die Familie erneut ein Schiff und reiste über Konstantinopel nach Südrußland.

In Folge des für die Kinder ungewohnten Klimas und des extrem strengen Winters 1873/1874 in Russland bekamen sie alle eine Lungenkrankheit, welche Tochter Therese nur mithilfe eines Luftkurortes in Deutschland überwand, ihre beiden Brüder starben daran jung.

Im Mai 1874 trafen alle in Korntal/Württemberg ein, hier war Heine für die Mission unterwegs, ehe er im Herbst 1874 gänzlich nach Russland zurück kehrte und im Chutor Andrejewsk überwinterte, weil seine Frau hochschwanger war, Tochter Maria kam am 3. Dezember zur Welt.

Marias Geburt und Taufe im KB Neustuttgart 1877

Im Frühjahr 1875 nahm er seine Tätigkeit als Pastor des Kirchspiels Neustuttgart-Berdjansk7 auf und bezog das Pfarrhaus in Neustuttgart.

Bild aus: Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909

Hier traf er auf eine recht zersplitterte Gemeinschaft, die sich unter Pastor Wüst trennte und über die Jahre getrennt blieb. Die Bewohner des Kirchspiels lebten in Neustuttgart, Neuhoffnungstal und Rosenfeld und gehörten entweder der lutherischen Kirche oder der schwäbischen Brüdergemeinde (Separatisten) an. Die Neu­stuttgarter waren im Verhältnis 1:1 geteilt, in Neuhoffnungstal und Rosenfeld waren es überwiegend Mitglieder der Brüdergemeinde, Berdjansk dagegen hatte keine Anhänger der Brüder­gemeinde.

In Neustuttgart entstanden aus dieser Glaubensverschiedenheit zwei Bethäuser, Pastor Zeller, der 1867 das Kirchspiel übernahm, gelang es nicht, eine Einigung der zwerstittenen Parteien zu erzielen, weshalb er sich letztlich von seinem Amt entbinden ließ. In Neuhoffnungstal und Rosenfeld besuchten man zu diesem Zeitpunkt abwechselnd den Gottesdienst der Glaubensgemeinschaften im selben Bethaus gegenseitig.

Diese Kluft zu überbrücken, gelang Heine auf Grund seiner großen Erfahrungen aus Sumatra, er entschärfte die Glaubenszwistigkeiten, näherte die verstrittenen Kirchengemeinden einander an, um im Januar 1876 eine öffentliche Einigung der Separierten und Lutheraner zu erzielen.

Die Bedingungen sind folgende:
„Vereinigungspackt der freien evangelischen Gemeinde und der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Neustuttgart.
Die freie evangelische Gemeinde in Neustuttgart hat nach eingehender Beratung in ihrer Mitte den Beschluß gefaßt, mit Beginn des Jahres 1876 sich mit der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Neustuttgart auf die unten genannten Bedingungen hin zu vereinigen. Es kann dies Ereignis nur mit Freuden begrüßt werden – denn so nur kann für Zucht und Ordnung in der Gemeinde, für die Erziehung der Jugend, für Kirche und Schule zum Segen des Ganzen gewirkt werden. Welches von den beiden am Ort befindlichen Bethäusern zur Kirche erweitert und welches zur Schule eingerichtet werden wird, das bleibt einer späteren Beratung Vorbehalten.

  1. Die kirchliche Gemeinde kommt den Gliedern der freien Gemeinde entgegen, ihnen die Mitbenutzung ihres Bet­hauses bereitwillig zu gestatten.
  2. Das heilige Abendmahl soll gemeinschaftlich gefeiert werden.
  3. Bei Taufen und Trauungen bedient der Pastor die Glieder der freien Gemeinde nach der alten württembergischen Agende.
  4. Die Konfirmation soll bei den Kindern der freien Gemeinde im 14. Jahr stattfinden dürfen.
  5. Der Pastor übernimmt die Führung der Kirchenbücher der freien Gemeinde.
  6. Im Fall eines Sterbefalles bei Abwesenheit des Pastors soll dem Kirchenvorsteher der freien Gemeinde gestattet sein dem Sterbenskranken das heilige Abendmahl reichen zu dürfen – freilich nur im dringendsten Fall.
  7. Die Vereinigung soll für die ganze Zeit, die Pastor Heine in Neustuttgart im Amte steht, als bleibend und unlöslich betrachtet werden: im Fall eines Pfarrwechsels soll jedoch unter Umstanden der freien Gemeinde die Freiheit gewahrt bleiben, sich wieder loszulösen – was Gott verhüten wird.
  8. Die freie Gemeinde tritt beim Zahlen des Pfarrgehalts und bei der Übernahme anderer Verpflichtungen mit der kirch­lichen Gemeinde von: 1. Januar 1876 ab in gleiche Reihe.
  9. Die Kirchenvorsteher der freien Gemeinde und die Kirchenvormünder der kirchlichen Gemeinde treten unter Vorsitz des Pastors und unter Hinzuziehung des Schulzenamts zusammen, um die Ordnung in der Gemeinde, der Kirche und Schule aufrecht zu halten.

Der dreieinige Gott gebe seinen Segen zu dieser Ver­einigung, ihm zur Ehre, zum Wohl der Gemeinde!

Zur Bekräftigung und zu gegenseitiger Beobachtung dieses Bereiniguugsvertrages unterzeichnen heute:
Neustuttgart, den 12. Januar 1876.
seitens der freien Gemeinde: seitens der Kirchengemeinde:
Andreas Bihlmeier Adam Erlenbusch
Jakob Klotz Immanuel Bauer.“

Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909, p. 157f

Wie wohlwollend die Kirche das Wirken von Pastor Heine aufnahm, zeigte sich im folgenden Schreiben:

Schreiben des St. Petersburger Konsistoriums an Propst Behning vom 27. Februar 1876, wo diese Behörde sich folgendermaßen über die Bereinigung der Separierten und Kirchlichen äußert.
„…….. Ein anderes aber ist es, wenn man den in Rede stehenden Antrag aus Neustuttgart in dem Sinne auffaßt, daß die freie evangelische Gemeinde daselbst gar nicht gesonnen ist zu der evang.-lutherischen Kirche in Rußland über- und in unsern Konsistorialbezirk einzutreten, sondern daß sie nur das Zugeständnis begehre, sich unter Beibehaltung ihrer bisherigen bürgerlichen wie kirchlichen Stellung und ihres bisherigen inneren Glaubensstandes der Person und des Amtes des Herrn Pastor Heine bedienen zu dürfen, so daß also die ganze Vereinigung mit der evang.-luth. Gemeinde in Neu­stuttgart nichts als ein Akt persönlichen Vertrauens zu Herrn Pastor Heine wäre. Ja dies scheint auch in der Tat die Meinung
und der Wille der Petenten zu sein, die ja die „Bedingungen der Vereinigung“ klar und deutlich in Punkt 7 aussprechen, daß die Bereinigung „nur für die Zeit, da Pastor Heine in Neustuttgart im Amte steht, als bleibend und unumstößlich betrachtet wird, im Fall eines Pfarrwechsels jedoch – der freien Ge­meinde die Freiheit gewahrt werden soll, sich wieder loszulösen.“
In diesen! Sinn den Antrag verstanden trägt das Konsi­storium kein Bedenken, die vorgestellten Bedingungen zur Vereinigung der Gemeinde in Neustuttgart zu genehmigen und dem Herrn Pastor Heine die Autorisation zu erteilen, auch an den Gliedern der freien Gemeinde seines Amtes, aber in­ soweit, zu warten, als er bei aller Treue in Ausübung seines geistlichenHirtenamts mit seinem Gewissen wird verantworten können.
Das Konsistorium erteilt diese Genehmigung um so lieber, als es sich aufrichtig der Annäherung zwischen beiden Gemeindeteilen in Neustuttgart freut, welche durch den Beschluß ihrer Ver­einigung bezeugt ist, und in derselben eine starke Bürgschaft künftigen dauernden Friedens und gottgefälliger Einigkeit sieht.
Von den Gliedern der sogenannten freien Gemeinde aber erwartet das Konsistorium, daß sie ihrem nunmehr selbsterbetenen Seelsorger fortwährend alle Liebe und Ehrfurcht be­weisen, und allem, was er in geistlichen Dingen zu ihrem eigenen Heil vorschreiben oder anordnen wird, pünktlich Ge­horsam leisten werden. Nur so wird sich die Gemeinde des göttlichen Segens trösten dürfen, den wir von dieser Ver­einigung hoffen.

Präsident: Frommann.
Sekretär: Fabricius.“

Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909, p. 158f

Diese Einigung wurde bei einigen Mitgliedern der Brüdergemeinde jedoch alles andere als positiv aufgenommen. So unterstellte man ihm nur auf Betreiben Zellers die Stelle bekommen und die Separatisten in eine Falle gelockt zu haben mit seinem Einigungsvertrag, aus der sie nun nicht mehr entkommen könnten, zumal es einigen egal wäre, ob im Gottesdienst ein Bruder oder Pastor auf der Kanzel steht.4

So schreibt Kröker:

Als Jüngling kam er von seinem Heimatdorfe Prischib an der Molotschna oft nach Neuhoffnung, wurde hier bekehrt, und weil er Lust und Begabung zur Missionsarbeit zeigte, schickte Wüst ihn nach Barmen ins Missionshaus, wo er auf Kosten der Separatisten ausgebildet wurde. Nach seiner Rückkehr wurde er als Bruder und Gesinnungsgenosse mit offenen Armen aufgenommen. Gleichzeitig wurde ihm die vakante Predigerstelle der Separatisten, wie auch vom Konsistorium das Pastorat in Neustuttgart angetragen. Er entschied sich für letzteres. Das Vertrauen der Separatisten hat er schnöde mißbraucht, und für die genossene Liebe und Wohltaten hat er sich sehr undankbar erwiesen. Durch Anwendung von Mitteln, die eines gläubigen Christen unwürdig sind, ist es ihm gelungen, den größten Teil der vier Dörfer, halb gegen ihren Willen, zur lutherischen Kirche und unter das Konsistoriums zu bringen

Kröker, Abraham: Pfarrer Eduard Wüst, der grosse Erweckungsprediger in den deutschen Kolonien Südrusslands, Spat bei Simferopol, Selbstverlag, H.G. Wallmann Leipzig, Central Publ. C,. Hillsboro Kansas, 1903, p. 107

Heine sah sich als Bindeglied und Vermittler zwischen den Lutheranern und Mennoniten, zumal er mit dem Mennoniten Ältesten Dirks von Gnadenfeld, ebenfalls ehemaliger Missionar in Sumatra, eng befreundet war.

Für das Schulwesen war seine einstigee Tätigkeit ebenfalls von Vorteil, da er dafür sorgte, das in Neustuttgart das separierte Bethaus zum Schulhaus wurde, Neuhoffnungstal ein neues, zweistöckiges Schulgebäude errichtete, diese und die Lehrerwohnungen nun beheizbar waren. Es wurden Lehrer angestellt und besoldet, Schulbücher angeschafft.

Mit dem Ende seine Tätigkeit als Pfarrer im Frühjahr 1894 gab Heine öffentlich bekannt, wie im Vertrag geregelt, daß jeder Separierte, der sich der Kirche angeschlossen hatte, sich nun zu entscheiden habe, ob er bei der Kirche bleiben oder wieder zum Separatismus zurücktreten wolle.

Er zog dann mit seiner Frau zur Tochter Therese nach Michailowsk, um noch einmal im Auftrag der Mission zu reisen. Am 5. Juli 1895 traf er in New York/USA ein. Am 15. Juli reiste er nach Buffalo und zu den Niagarafällen, dann Erie (19. Juli), Brooklyn/Ohio (23. Juli), Sandwich (29. Juli), Amboy/Minnesota (13. August), Mountain Lake – hier lebten ehemalige Berdjansker, weiter nach Canada – Gretna/Manitoba (27. August). Es folgten Junkton/Dakota (9. September), Sutton/Nebraska (24. September), Scotland (29. September). In Scotland besuchte er die Witwe von Pastor Karl Bonekemper (1827-1903). In Menno traf er auf den 1887 ausgewanderten Gebietsschreiber Münch aus Zürichtal und besuchte auf dem Weg nach Sutton (1. Oktober) weitere Auswanderer. Traf in Ferberg auf Mennoniten der Molotschna und kam in Denver/Colorado an (14. Oktober). Besuchte den Pikes Peak, Colorado Springs, Newton und St. Louis/Illinois. Hier traf er seinen alten Freund Hermann Sudermann wieder, mit dem er in Reval war. Weiter ging es nach Chicago (18. November), Sandwich (27. Oktober) und 8 Monate nach Beginn dieser Reise traf er am 31. Dezember 1895 zu Hause ein. Pünktlich zum Jahreswechsel.

Das viele Reise begünstigte sein Steinleiden, am 25. Januar 1897 starb Missionar Wilhelm Heine an den Folgen einer Steinoperation in Michailowsk, seine Frau folgte ihm am 13. November 1909.

Mennonitische Rundschau9

Orte, die Wilhelm Heine in seinem Leben bereiste15

Sohn Wilhelm, als erstes Kind in Sigompulan 1866 geboren, trat in die Fußstapfen seines Vaters und nahm am 17. August 1884 ein Theologiestudium in Dorpat auf.5

Am 1. Mai 1891 in Tiflis/Kaukasus ordoniert, wurde er von 1892-1893 Pastor-Adjunkt in Batum-Kutais/Kaukasus, ab1893-1895 Adjunkt bei seinem Vater in Neu-Stuttgart, der im Frühjahr 1894 nach 19 Jahren im Amt in den Ruhestand ging.

1895 legte er das Gymnasiallehrerexamen ab und nahm eine Hauslehrerstelle in Sankt Petersburg an. Von dort kehrte er als Konsistorialvikar für die Kreise Bachmut und Slawjanoserbsk, Gouv. Jekaterinoslaw (1898–1899) zurück, wurde dann Pastor in Schidlowo (1899-1907) und scheidet aus dem geistlichen Amt aus.

Erneut im Dienst in Schidlowo (1914–1928), anschließend Pastor in Katharinenfeld/Kaukasus (1928–1930). In Katharinenfeld wurde er am 14. August 1931 wegen der angeblichen Bildung eines „antisowjetischen Agitationsnetzes16 verhaftet und bis 1934 nach Tymsk am Ob, Gebiet Tomsk (Westsibirien) verbannt.

Nach der Rückkehr lebte er in Feodosia/Krim und wurde am 4. Juli 1937 wurde er erneut verhaftet.12 Nach kurzem Aufenthalt im Simferopoler im Gefängnis wurde er nach Verurteilung zur Hinrichtung am 2. Januar 1938 erschossen. Offiziell wurde Wilhelm Heine am 9. Oktober 1989 rehabilitiert.13

Die Familienmitglieder, die auf dem kleinen Friedhof ruhen:

Andreas Müller, geboren am 17. Juli 1858 als Sohn des Kaufmannes und Gutsbesitzers Friedrich Michael Müller (1837-1860) und der Dorothea Heine (1835-1860). Dorothea Heine war eine Schwester des Missionars Wilhelm Heine.

Geburt und Taufe KB Hochstädt 1858
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911

Verstorben ist Andreas Müller am 28. August 1911 in Charkow, beigesetzt am 31 August.

Johanne Elisabeth Blank wurde am 8. Juli 1845 in Molotschna als Tochter des Schullehrers Friedrich Blank (1820-1878) und seiner Ehefrau Margaretha Brühler (1824-1850) geboren.

Geburt und Taufe KB Molotschna 1845

Ihr Ehemann, der Gutsbesitzer Friedrich Müller (*1841), war der Neffe des Andreas Müller (1858-1911). Hier treffen wir auf die Verbindung zu Ludwig Hein(e) (1789-1854). Dessen Tochter Maria Magdalena Heine (1844-1929) war verheiratet mit dem Cousin von Johanne – Lehrer Friedrich Blank (1841-1889)

Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1907

Verstorben ist sie am 16. Mai 1907 auf dem Gut Federowka und wurde am 19. Mai beigesetzt.

Michael Müller, beider Sohn, geboren am 29. November 1877 auf dem Gut Federowka

Geburt und Taufe KB Molotschna 1878
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1899

Er starb am 30. April 1899 auf dem Gut Federowka an einer Entzündung des Abdomens und wurde dort am 2. Mai des Jahres beigesetzt.

Olga Müller war die Tochter von Friedrich Müller (*1870), ebenfalls ein Sohn des Gutsbesitzers Friedrich Müller (*1841), Olgas Mutter war Bertha Mathilde Ottilie Petersenn (*1874). Olga wurde auf dem Gut Federowka am 23. November 1904 geboren.

Geburt und Taufe KB Friedenfeld 1905
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911

Ihr kurzes Leben endete durch Scharlach und Diphterie auf dem Gut am 12. November 1911, beigesetzt am 14. November.

Friedrich Müller, genannt Fritz, ihr Bruder, wurde am 28. Juli 1907 auf dem Gut geboren.

Geburt und Taufe KB Friedenfeld 1907
Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911

Auch sein Leben wurde von der Erkrankung dahin gerafft, er starb am 24. November und wurde am 26. November beigesetzt.

Vielleicht gehören die Bruchstücken auf dem Friedhof zu den Resten des Grabsteines der Schwester Margarethe Müller, sie starb bereits am 19. November im Alter von 10 Jahren ebenfalls an der Kinderkrankheit und wurde am 21 November beigesetzt. So entstanden innerhalb einer Woche drei Kidnergräber der selben Familie.

Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1911

Dr. med. Alexander Friedrich Gustav Petersenn, Arzt, war der Bruder der Bertha Mathilde Ottilie Petersenn (*1874) und verehelicht seit dem 12.11.1896 mit Johanne Heine (*1878), Tochter des Missionars Wilhelm Heine (1833-1897)

Geboren und getauft wurde er in Riga19, sein Vater Karl Johann Georg (1832-1892) war ebenfalls Arzt, seine Mutter Karoline Wilhelmine geborene von Erbe (1846-1907) ist ebenfalls auf dem Gut Federowka versotben und beigestezt worden.

Dr. med. Petersen verstarb am 5. Januar 1905 auf dem Gut an einer Auszehrung, beigesetzt wurde er am 8. Januar.

Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1905

Der Stein seiner Mutter ist nicht aufgefunden worden. Jedoch belegt ihr Sterbeintrag vom 21. Januar 1907 die Beisetzung am 24. Januar daselbst.

Sterbeeintrag KB Friedenfeld 1907

1Missionar Wilhelm Heine: ein Lebensbild aus Briefen und Berichten zusammengestellt von seinem Sohn; Wilhelm Heine, Druckerei Schaad, Prischib 1909

2Hans Angerler: Mission, Kolonialismus und Missionierte; Über die deutsche Batakmission in Sumatra in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2/93, 23. Jahrgang Nr. 2, April bis Juni 1993, p53-61

3lekuk keindahan pemandangan danau Toba dari pulau samosir. PL 05 SIGIT – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0 File:Danau Toba dari Samosir.jpg, 22. April 2017

4Prinz, Jakob; Die Kolonien der Brüdergemeinde: ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Kolonien Südrusslands. Prinz, Pjatigorsk, 1898, p.163f

5National Archives of Estonia Heine Wilhelm; EAA.402.2.9133; 17.08.1884

6Dorothee Rempfer: Biografisches Verzeichnis von Missionaren, Missionarsfrauen, Missionsschwestern und lokalen Mitarbeiter*innen der RheinischenMissionsgesellschaft (RMG ) in der Herero- und Batakmission. Stand Juli 2021 p.5

7Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland
begründet von Bischof Dr. E. E. Ulmann, gegenwärtig redigiert von J-Th. Helmsing, Oberlehrer in Riga, unter Mitwirkung der Pastoren: E. Kaehlbradnt in Neu-Pebalg, R. Räder in Goldingen, A.H. Haller in Reval u. A. 32. Band Neue Folge. Neunter Band. Jahrgang 1876. Riga 1876. Verlag von Brutzer & Comp., p.281

8Allgemeine Missions-Zeitschrift. Monatshefte für geschichtliche und theorethische Missionskunde. In Verbindung mit einer Reihe Fachmänner unter specieller Mitwirkung von D. Th. Christlieb, Professor d. Theologie zu Bonn und Dr. R. Gundemann, Pastor zu Mörz. herausgegeben von Dr. G. Warneck, Pfarrer in Rothenschirmbach bei Eisleben. Vierter Band. Gütersloh 1877. Druck und Verlag von C. Bertelsmann. p.12

9Mennonitische Rundschau. herausgegeben von der Mennonite Publishing Company, Elkhart, Ind. 21. Jahrgang 7, Februar 1900 No. 6, p.2

10Kröker, Abraham: Pfarrer Eduard Wüst, der grosse Erweckungsprediger in den deutschen Kolonien Südrusslands, Spat bei Simferopol, Selbstverlag, H.G. Wallmann Leipzig, Central Publ. C,. Hillsboro Kansas, 1903

11Dorothee Rempfer: Gender und christliche Mission; Interkulturelle Aushandlungsprozesse in Namibia und Indonesien. Global- und Kolonialgeschichte Band 11.Dissertation am Institut für Geschichte der FernUniversität Hagen. transcript Verlag, Bielefeld 2022. p.54

12Erik-Amburger-Datenbank für Ausländer im vorrevolutionären Russland ID 94848

13Dr. Viktor Krieger: Verzeichnis der deutschen SiedlerKolonisten, die an der Universität. Dorpat 1802-1918 studiert haben

14Evangelisches Missions-Magazin, Neue Folge. Herausgegeben im Auftrag der evangelischen Missionsgesellschaft von Dr. Hermann Gundert. Dreizehnter Jahrgang. 1869. Basel im Verlag des Missions-Comptoirs. In Commission bei J.F. Steinkopf in Stuttgart udn Bahnmaiser Verlag (E. Detloss) in Basel. Druck vomn E. Schulze. p.70ff

15Karte erstellt Jutta Rzadkowski, Nutzungsbedingungen für Google Maps/Google Earth

16Litsenberger, Olga, Evangelical Lutheran Church in the USSR in the 1930s (2007). Deutsche in Russland und in der Sowjetunion 1914-1941. Alfred Eisfeld, Victor Herdt, Boris Meissner (Hg.). Lit. Verlag Dr. W. Hopf. Berlin, 2007 p. 424

17Familienregister Blatt 7 der Gemeinde Korntal/Württemberg, Kopie freundlicher Weise überlassen von B. Arnold, Korntal

18Verzichtserklärung und Entlassung aus dem Württembergisschen Untertanenverband 9.6.1868, O.A. Kirchheim, Auswanderergesuche Bd. 69-71 1855-1890

19Kirchenbuch der St. Petris Kirche Riga 1867

Jutta Rzadkowski

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Zur Geschichte Süd Russlands VI

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1

6. Fortsetzung und Schluss

7. Der Berdjansker und Mariupoler Kolonistenbezirk

Ausschnitt aus der Karte der Postämter im Russischen Reich 18782

Unter d. gleichen Bedingungen mit Hoffnungsthal wurden von solchen württembergischen Chiliasten, die weder im Chersonschen Gouvernement geblieben sind, noch auch nach Grusien mitzuziehen sich entschlossen haben, im Jahre 1882 die Kolonieen Neuhoffnung, Rosenfeld und Neuhoffnungsthal gegründet.

Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18555

Später, im Anfang der dreißiger Jahre, kam noch Neustuttgart gleichzeitig mit Gnadenthal und Lichtenthal bei Sarata in Bessarabien hinzu. Die Gründer der letztgenannten drei Gemeinden waren ebenfalls württembergische Einwanderer mit chiliastisch-separierter Richtung. Während Gnadenthal und Lichtenthal sich an das Kirchspiel Sarata angeschlossen, wie auch Neustuttgart und ein Theil von Neuhoffnungsthal und Rosenfeld ein eigenes evangelisch-lutherisches Kirchspiel bildeten und sich damit unter dem Schutz des St. Petersburgischen Konsistoriums stellten, blieb Neuhoffnung und der übrige Theil der benachbarten Gemeinden Neuhoffnungsthal und Rosenfeld separiert. Ihr geistlicher Vorstand war Pfarrer Wüst, ein Mann des Volkes von seltener Energie und Beredsamkeit, erfüllt mit frischem Glaubensleben. Wüsts Aussaat artete jedoch unter dem kolonistischen Laienprediger Hottmann in ein Sektenwesen aus, welches große Verbreitung selbst in einigen Gemeinden des damaligen Grunauer Kirchspiels fand. Springer oder Hopfer3 wurde die neue Sekte genannt, welche die separierten Gemeinden im Berdjanskschen Kreise einer völligen kirchlichen Auflösung nahe brachten. Obwohl gegenwärtig eigentliche vom „heiligen Geist“ zu ausgelassener Freude gestimmte „Springer“ nicht mehr vorhanden sind, so leiden diese Gemeinden bis heute unter den Nachwirkungen des Springerthums. Nur das für das koloniale Verhältnisse ausgezeichnete Schulwesen dieser Gemeinden läßt hoffen, daß das, was noch krankt, bald einem gesunden, nüchternen Wesen wird Platz machen müssen

Ganz anders als diese zu religiöser Schwärmerei hin neigenden Separatisten des bei Berdjanskschen Kreises sind die preußischen Einwanderer des Mariupoler Kolonistenbezirks geartet. Gegen 500 Familien langten in den Jahren 1818 und 1819 aus Preußen, theilweise zu Fuß, in dem Molotschaner Mennoniten- und Kolonistenbezirken an, wo sie vorläufig einquartiert wurden. Die neuen Ankömmlinge konnten vermöge ihres Fleißes durch verschiedene Handarbeiten und Gewerbe sich dort theils ihren Unterhalt erwerben, theils noch etwas Geld ersparen. Mit einigen Ausnahmen hatten sie wenig oder gar kein Vermögen vom Auslande mitgebracht. Ueber ihre Ansiedlung berichtet das „Unterhaltungsblatt“ im Jahre 1853:

„Im Märzmonat 1820 erwählten sich viele Einwanderer auf Befehl des Vormundschaftskomptoirs der ausländischen Ansiedlungen zu Jekaterinoslaw drei Deputierte: Christian Klaaßen, Nikolaus Dodenhöft, beide später in der Kolonie Grunau, und Johann Majewsky, später in der Kolonie Eichwald angesiedelt, welche auch vom Komptoir bestätigt wurden und für die Sache der Ansiedlung sich bemühten, bis im Herbst 1822 den Ansiedlern das Land angewiesen und die äußeren Grenzen von Griechen und Russen, im Gegenwart des Herrn Gouverneurs und des Herrn Mitglieds vom Komptoir Babiewsky, abgepflügt wurden.

Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1853 Nr. 13

„Die hilfsbedürftigen Ansiedler erhielten auf jede Familie 300 bis 450 Rbl. Banko Vorschuß zum Anbau der Häuser und zur ersten wirthschaftlichen Einrichtung, welche Gelder im zweiten Jahrzehnt der Ansiedlung rückstandslos abgetragen worden sind.“

Im Jahre 1823 haben diese preußischen Einwanderer 18 Kolonieen gegründet und zum Andenken an ihre heimathlichen Ortschaften in Westpreußen mit Genehmigung der russischen Behörden nachfolgend benannt: 1 Kirschwald, 2 Tiegenhof, 3 Rosengart, 4 Schönbaum, 5 Kronsdorf, 6 Grunau, 7 Rosenberg, 8 Wikkerau, 9 Reichenberg, 10 Kampenau, 11 Mirau, 12 Kaiserdorf, 13 Götland, 14 Neuhof, 15 Eichwald, 16 Tiewenort, 17 Schönwald 18 Thiergart. Eine zweite Einwanderung geschah in den Jahren 1823 und 1824; eine dritte im Jahre 1841. Aus Württemberg, Baden, Hessen und vom Niederrhein kamen über 100 Familien und begründeten die vier Kolonien: Elisabethdorf 1825, Ludwigsthal 1828, Darmstadt und Marienfeld 1842. Von diesen haben nur 19 Wirthe der Kolonie Ludwigsthal Geldvorschuß erhalten, die anderen hatten eigene Mittel. Im Jahre 1832 entstanden die fünf Kolonien: Bellowesch, Kaltschinowka, Rundewiese, Großwerder und Kleinwerder.

Darüber schreibt das „Unterhaltungsblatt“:

„In den Jahren 1768 bis 1782 hatten sich deutsche (wahrscheinlich preußische) Einwanderer im Romenschen Kreise des Governements Tschernigow niedergelassen und dort die fünf Kolonien: Bellowesch, Kaltschinowka, Rundewiese, Groß- und Kleinwerder angelegt. Die dort ihnen zu theil gewordenen Kronsländereien waren für die zahlreiche Nachkommenschaft nicht mehr hinreichend, weshalb die landlosen Familien sich bei der Regierung die Erlaubnis ausbaten, im südlichen Rußland Land zu Uebersiedlung aussuchen zu dürfen. Das Gesuch wurde ihnen gewährt, um geeignete Stellen ausfindig zu machen. Diese Bevollmächtigten wandten sich an das Jekaterinoslawische Vormundschaftskomptoir und erhielten von demselben die Anweisung, die neben Mariupol liegenden noch unbesetzten Ländereien in Augenschein zu nehmen. Sie befolgten dieses, und da sie hier einen fruchtbaren Boden in der Nähe einer Seestadt fanden, so kehrten sie mit dem festen Entschluß, sich hier niederzulassen, und mit Zeugnissen der örtlichen Obrigkeit versehen zu ihren Gemeinden zurück und erklärten, daß sie dieses Land an Ort und Stelle als das zweckmäßigste zur Ansiedlung befunden hätten, worauf die Gemeinden um die allerhöchste Genehmigung baten, welche ihnen Allergnädigst ertheilt wurde. Dann begaben sich im Herbst 1831 in allem 122 Familien nach dem Mariupoler Kolonistenbezirk, wo sie von den schon früher angesiedelten Familien als christliche Glaubensgenossen und künftige Nachbarn mit Liebe aufgenommen und beherbergt wurden, bis sie im Frühjahr 1832 ihren eigenen Herd begründeten und ihre Ansiedlungen nach denen im Gouvernement Tschernigow benannten.

„Unterstützung zur Ansiedlung haben diese Ansiedler nicht erhalten denn jede Familie hatte ihre gehörigen Ackergeräthe und Zugvieh, zum Bauen aber wenigstens zu 400 Banko bares Geld mitgebracht.“

Der Kolonist der Kolonie Grunau Christian Klaaßen, Mitglied des landwirthschaftlichen Vereins und seit 1848 Oberschulz im Mariupoler Kolonistenbezirk, hat die Pläne zur Anlage dieser Kolonien und der Häuser entworfen und ausgemessen, überhaupt diese Übersiedlung geleitet und dadurch unvergessliche Verdienste um diese Kolonien erworben.

„Seit dem Jahre 1849 ist durch Ansiedler aus der Stadt Jamburg Gouvernement St. Petersburg eine neue Kolonie, Neujamburg, diesem Bezirke hinzugefügt worden.“

Im Mariupoler Kolonistenbezirk befinden sich zwei evangelisch-lutherische Kirchspiele: 1 Gronau, zu welchem in den sechziger Jahren noch Taganrog, Nowotscherkask und Berdjansk gehörten, und 2 Ludwigsthal. Grunau, welches eine der größten Kirchen in den südrussischen Kolonieen besitzt und in üppiges Grün buchstäblich eingehüllt ist, wurde im Jahre 1823 als Kirchspiel bestätigt. Von ihm zweigte sich nächst Taganrog das Kirchspiel Ludwigsthal ab.

Schluß.

Wir haben uns bei der gegenwärtigen Schilderung fast ausschließlich im Rahmen der Entstehungsgeschichte der im Anfang des vorigen Jahrhunderts gegründeten Kolonien im Chersonschen, Taurischen und Jekaterinoslawschen Gouvernement bewegt. Der Raum gestattet uns nicht, hier auch nur einen oberflächlichen Überblick dessen zu geben, was im Laufe von kaum einem Jahrhundert aus diesen Kolonien geworden ist. Das müssen wir für eine andere Gelegenheit aufsparen. Doch darauf soll zum Schluß noch hingewiesen werden, daß innere Kraft der deutschen Kolonialbevölkerung Südrußlands in diesem Zeitraum sich augenfällig bewährt hat. Die Kolonisten haben es verstanden, sich den hiesigen Lebensbedingungen anzupassen und trotz bedeutender Schwierigkeiten sowohl in der Kultur vorzuschreiten, als auch dem rapiden Wachsen ihrer Volksziffer entsprechend sich zu dem von der Regierung ihnen angewiesenen Areal immer neue Ländereien zu erwerben.

Was die Schwierigkeiten anbelangt mit denen sie bei der Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, in der landwirthschaftlichen Bearbeitung des süddrussischen Bodens, zu kämpfen hatten, so sei nur beispielsweise auf den westlichen und östlichsten Theil der ursprünglichen Kolonien hingewiesen, den Großliebenthaler und Mariupoler Bezirk.

In der für die Kultur der Kolonie so hochbedeutsamen „Odessaer Zeitung“ haben wir in Nr. 95 und 96 das Jahrgangs 1903 unter der Überschrift „Ungünstige Einflüsse auf die Entwicklung der Landwirthschaft im Großliebenthaler Kolonistenbezirk“ berichtet, daß die Freudenthaler Kirchenchronik nicht weniger als 29 Fehljahre in Folge von Mißwachs aufzählt. Das sind, da es sich um den Zeitraum von 1806 – 1902 handelt, über 30 Prozent oder fast der dritte Theil aller Ernten. Doch das sind noch lange nicht alle Mißernten, außerdem Mißwachs haben auch Heuschrecken, Käfer, Mäuse, Hessenfliegen und Hagel die Zahl der Mißernten bedeutend erhöht. „Es ist unglaublich,“ so lesen wir in einem kirchlichen Bericht vom Jahre 1884, „welche Heimsuchungen über das Kirchspiel Grunau seit seiner Gründung in fast ununterbrochener Reihenfolge ergangen sind.“ Außer den Steppenplagen: Heuschrecken, Getreidekäfer, Rinderpest usw., hatte der Bezirke sieben Mal furchtbare Viehseuchen, ein Mal von der Cholera zu leiden.

Hessenfliege, Getreideverwüster (Cecidomyia destructor)6

Wiederholt verwüsteten orkanartige Hagelstürme nicht nur die Felder, sondern auch die Gebäude, 21 Tage hielt der Schneesturm an, der im Jahre 1848 mit seinen Schneemassen das Dach das Pastoratsgebäudes und andere Häuser zum Einsturz brachte.

Nikolai Sverchkov, Troika in Winter7

Viel Energie, Muth und Ausdauer hat dazu gehört, alle diese elementaren Schwierigkeiten zu überwinden und in erbittertem Kampfe dem Boden denjenigen Ertrag abzuringen, auf welchem der gegenwärtige Wohlstand sich gründet. Leider sind die alten Kolonien im allgemeinen bereits seit einer Reihe von Jahren in ihrer Entwicklung stehen geblieben, wo nicht gar zurückgegangen, weil die rationelle Bearbeitung des Bodens mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt gehalten hat. Jene glänzenden Erträge, womit in früheren Jahren der jungfräuliche Boden mit einem Schlage, den Landmann für eine ganze Reihe von Mißernten entschädigte, gehören jetzt bereits in das Gebiet der Sage. Und doch will der Kolonist immer noch nicht mit dem alten Zopf der Raubwirthschaft aufräumen. Bessere Bearbeitung des Bodens, sorgfältige Düngung, gründliches Studium der Landwirthschaft, gemeinnützige Bestrebungen, Einmüthigkeit im Ordnen aller Gemeindeverhältnisse, bessere Ausbildung der Söhne und namentlich auch der Töchter – das sind die Aufgaben der Kolonieen für das zweite Jahrhundert ihres Bestehens. Daß so etwas nur auf dem Grunde der Gottesfurcht und milder christlicher Sitten möglich ist, muß die Ueberzeugung aller werden. Es giebt jetzt schon nicht wenige intelligente Landwirthe, die energisch eine bessere Bewirtschaftung ihres Landes mit Erfolg anstreben und den Säumigen ein Beispiel geben, welches wie wir hoffen, seine gute Wirkung nicht verfehlen wird.

J.S. 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 26.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Karte der Postämter im Russischen Reich, Iljin, Alexis Afinogenovich. Sankt Petersburg: A. Iljins kartografische Einrichtung, 1878. – mit 3 Einschüben: Asiatisches Russland mit der Region Turkestan, Umgebung von Moskau, Umgebung von Sankt Petersburg, KBR Kartensammlung

3Busch theilt in seinen ,,Materialien zur Geschichte und Statistik der evangelischen Gemeinden Rußlands“ über diese vier leztgenannten Kolonien Folgendes mit:

Die Bewohner derselben sind würtembergische Separatisten, die sich hier im Jahre 1822 niederließen und eben wie die Kolonisten in Grusien durch den damals in Würtemberg herrschenden Rationalismus aus ihrem Vaterlande getrieben wurden. Etliche von ihnen ließen sich in Bessarabien in den Kolonien Sarata, Gnadenthal und Lichtenthal nieder und stellten sich unter den Schutz des Consistoriums; jene vier Kolonien wollten aber eine Art Brüdergemeinde bilden und erbaten fich dazu das Privilegium, ihre kirchlichen Angelegenheiten selbst ordnen und verwalten zu dürfen. Mit dieser Selbstverwaltung wollte es aber nicht gehen und schon im Jahre 1843 waren diese Kolonien einer völligen kirchlichen Auflösung nahe, vor welcher sie nur durch die Berufung des Pastors Wüst als „geistlichen Vorstandes“ sich retten konnten. Wüst war ein Mann des Volkes von seltener Energie und Beredtsamkeit und frischem Glaubensleben. Er hatte sich bald die Liebe und Achtung aller Parteien erworben und dieselben wurden einig in der Anhänglichkeit an seine Person.

Wüst’s Eigenthümlichkeit sagte auch deßwegen jenen Leuten so zu, weil er sein geistliches Amt ganz in den Hintergrund stellte und nur als Bruder unter ihnen weilte und wirkte. Er that dies nicht aus Politik, sondern aus eigener Ueberzeugung; er hatte in dieser Beziehung sehr freie Ansichten und sprach dieselben auch unverhohlen gegen seine Gemeinde aus. Die Folge war, daß das Parteiwesen gegen Ende seines Lebens sich doch wieder erhob, und als kurz vor seinem Tode ein gewisser Hotmann, ein Kolonist aus der Krim, in seine Gemeinde kam und daselbst für die Hopfer- und Springersekte wirkte, vermochte er der Bewegung nicht mehr Herr zu werden und starb im Jahre 1859 an gebrochenem Herzen.

Er hatte in seiner Gemeinde, wie es scheint, anstatt der gehaltenen Choralmelodien oft Arienweisen singen lassen, und daran knüpfte Hotmann an. Die Leute klopften erst den Takt mit den Fingern zum Gesang, wurden aber mehr und mehr elektrisirt und fingen an in geistlicher Freude zu hopfen und zu springen. Besonders soll sich dieses Unwesen zeigen, wenn sie zusammenkommen, das heilige Abendmahl zu feiern, wo sie auch von dem Weine etwas mehr zu trinken scheinen, als ihnen gut ist, und dann vom heiligen Geist zu ausgelassener Freude gestimmt werden.

Matthäi, F.: Die deutschen Ansiedlungen in Rußland. Ihre Geschichte und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung für die Vergangenheit und Zukunft. Studien über das russische Kolonisationswesen und über die Herbeiziehung fremder Kulturkräfte nach Rußland. / Von Friedrich Matthäi, Offizier der Königl. Sächs. Armee, corresp. Mitglied der Keiserl. freien ökonomischen Gesellschaft, sowie der Gartenbaugesellschaft zu St. Petersburg. – Leipzig: Hermann Fries; Gera: C. B. Griesbach, 1866, p96f:

4 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1853 Nr. 1, auf Mikrofilm, CMBS

5 Die Kolonien in Bessarabien und in dem Gouvernement Cherson. Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland. St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1855

6 Hessenfliege, Getreideverwüster (Cecidomyia destructor), Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 453-455 (zeno.org), gemeinfrei

7 Troika im Winter, Nikolai Sverchkov,(1817–1898), the-athenaeum.org, public domain

Zur Geschichte Süd Russlands V

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1

(5. Fortsetzung)

4. Die Kolonistenbezirke Neusatz und Zürichthal in der Krim

Gleichzeitig mit der Ansiedlung des Großliebenthaler Kolonistenbezirks und mit der Ankunft der ersten Molotschnaer Kolonisten in den Jahren 1804 und 1805 langten im wesentlichen aus denselben Stammgebieten die Krimer Ansiedlerpioniere an.

Karte Großliebentaler Kolonien2

Der ehemalige Neusatzer Kolonistenbezirk bestand aus den Kolonien Neusatz, Friedenhal, Rosenthal und Kronenthal, der ehemalige Zürichthaler Kolonistenbezirk aus Zürichthal, Heilbrunn und Sudak, welches erst 1812 gegründet wurde.

Karte Ausschnitt Krim aus der Karte Die Kolonien in den Gouvernements Jekaterinoslaw und Taurien 18553

Auch von ihnen kann im allgemeinen leider nicht gesagt werden, was den Kolonisten der zweiten Molotschnaer Ansiedlung nachgerühmt wird, daß sie genügende Kenntnisse vom Ackerbau hatten. Während die übrigen Kolonisten fast alle 60 Dessjatinen4 Landes auf die einzelne Wirthschaft erhielten, begnügten diese sich mit 30 bis 40 Dessjatinen, und selbst das war ihnen zu viel. So haben die Liebenthaler Kolonisten vermöge der Abneigung gegen einen größeren Landbesitz es dahin zu bringen gewußt, daß sie statt 60 nur 48 Dessjatinen Land auf die Wirthschaft besitzen.

Vierzig Schweizerfamilien waren es welche sich im Herbst 1803 unter der Leitung eines gewissen Herrn von Escher5 in Konstanz am Bodensee versammelten. Seidenweben und Baumwollspinnen war in der Heimath ihre Beschäftigung gewesen. Von Konstanz setzten sie per Boot über den Bodensee nach Mörsburg, um sich in Ulm den Wellen der Donau anzuvertrauen. In Wien rasteten sie 14 Tage. Von Preßburg begaben sie sich nach Rosenberg in Oberungarn, um da selbst Winterquartier aufzuschlagen. Als sie im Frühjahr 1804 aufbrachen, waren sie bereits 30 Personen weniger; diese waren infolge von Krankheit und Armuth ins Grab gesunken. Unterwegs gesellten sich noch neue Auswanderer zu ihnen, und auf diese Weise verstärkt, langten sie in der Umgegend von Feodosia an.

Reiseweg6

Ihren ersten Aufenthalt fanden sie auf einem dem Herrn General von Schütz gehörigen Gute, namens Karakoos. Das tatarische Dorf Oschailan, welches die Krone für sie erstand, wurde ihre Heimath, wohin sie zu Ostern 1805 übersiedelten. Zürichthal nannten sie ihr junges Nest zur Erinnerung an die alte Heimat. Wenn der Schweizer singt:

„Ist auch schön im fremden Lande, doch zur Heimat wird es nie,“

so ist darin alles Leid, alles Sehnen, alles ängstliche Bangen ausgedrückt welches die einsamen Pioniere in der ersten Zeit ihrer Ansiedlung unter den Krimischen Tartaren durchzukosten hatten. Bereits die Hälfte von ihnen war in einigen Jahren in jenes Land gegangen, wo der Christenglaube keinen Trennungsschmerz mehr kennt. Nicht einmal die letzte Ehre konnten die Hinterbliebenen ihren verstorbenen Lieben erweisen: in Lumpen gehüllt wurden diese ohne Bahre und Leichenzug unter bitteren Thränen der fremden Erde anvertraut. Sprache und Landessitten waren ihnen vollständig fremd, Lehrer und Seelsorger nicht vorhanden. Nicht einmal einen Brief verstanden sie in ihre alte, liebe Heimath zurückzubefördern.

Erst im Jahre 1822 traf der erste Pfarrer, Heinrich Dietrich7 aus der Schweiz, bei ihnen ein, und mit ihm begann das Aufblühen des hübschen Schweizerdorfes in den taurischen Bergen.

Kurz vor der Ankunft des ersten Pastors war auch der Bau des ersten Kirchleins vollendet worden. Zürichthaler und Neusatzer, sowie auch einige Molotschnaer, Mariupoler und Berdjansker Kolonisten sind es gewesen, welche in hervorragender Weise dazu beigetragen haben, die Halbinsel Krim, welche ihnen längst zu einer lieben Heimath geworden auf jene Stufe der Kultur zu heben, deren sie sich gegenwärtig erfreut.

Krim und Molotschna scheinen sich in letzter Zeit die Hand gereicht zu haben, um in rastlosem Vorwärtsstreben die Kultur und Ertragfähigkeit des südrussischen Bodens zu heben, den Absatz der Produkte zu erleichtern, die Intelligenz durch ein verbessertes Schulwesen zu fördern und so Gott und dem Vaterlande mit gutem Gewissen zu dienen. Glückauf zu diesem edlen Streben! Der Erfolg wird nicht ausbleiben!

5. Die ehemaligen Kolonistenbezirke Glücksthal Kutschurgan und Beresana.

Ausschnitt mit dem Kolonien im Gouvernement Cherson 18558

Wie mag es den drei schwäbischen Familien wohl zu Muthe gewesen sein, welche im Jahre 1803 in dem armenischen Städtchen Grigoriopol am Dnjestr zunächst angesiedelt wurden!  So hilflos und verlassen wie etwa die Zürichthaler Kolonisten in der Krim waren sie unter den sesshaften Armeniern freilich nicht, doch wird die Freude groß gewesen sein, als zwei Jahre darauf (1805) noch 67 württembergische Familien und 1807 24 Familien aus Ungarn sich zu ihnen gesellten. Diese Nachzügler waren mit den Goßliebenthaler und Freudenthaler Kolonisten zusammen in Rußland angekommen. 1808 und 1809 kamen die ersten Bewohner der Chersoner Kolonisten Rohrbach, Worms, Gücksthal, Neudorf, Bergdorf, Kassel, Selz, Kandel, Straßburg, Baden, Landau, Speier, Karlsruhe, Sulz, Mannheim und Elsaß in Rußland an. Auch von ihnen gesellten sich einige Familien zu den Kolonisten in Grigoriopol. Zwischen diesen Kolonisten und den Armeniern Grigoriopols entstanden Streitigkeiten, und der Generalgouverneur, Herzog von Richelieu, dem die Sache vorgestellt worden war, hielt es für gut, die Deutschen von den Armeniern zu trennen und sie mehr in der Mitte des ihnen angewiesen Areals anzusiedeln. Zu diesen Zweck wurden sie 1808 in das Moldovanerdorf Linoi überführt, während die Moldovaner aus Linoi an ihrer Stelle in Grigoriopol rückten. Die Deutschen, welche nach dem Plan der Regierung sich mit den Armeniern in Grigoriopol verschmelzen sollten, selbstverständlich als ein großes Glück angesehen und infolgedessen ihre neue Heimath Glücksthal genannt.

Im Jahre 1811 wurde Glücksthal mit Neudorf, Bergdorf und Kassel zusammen als Kirchspiel bestätigt. Der erste Pastor hieß Krusberg; er wurde bereits im Jahre 1816 wegen Unmoralität abgesetzt. Vom Jahre 1825 an jedoch besaß Glücksthal Prediger, die für das Wohl der Gemeinde ernstlich sorgten und im Verein mit den Ortsvorstehern viele Mißbräuche durch die Einführung von Zucht und guten Sitten abschafften. Das erste Kirchlein hatten die Glückstaler von den Moldowanern geerbt. Es wurde aber im Jahre 1832 wegen Baufälligkeit versiegelt und 1840 abgerissen. Anno 1843 wurde der Grundstein zu einer neuen Kirche gelegt, welche 1845 eingeweiht werden konnte.

Kirche Glücksthal, neu erbaut 1843-1845

Pastor Johann Bonekemper (1795-1857)9

Im Jahre 1824 wurde das Kirchspiel Worms-Rohrbach von Großliebenthal abgezweigt. Der erste Pastor war der bekannte „alte Bonekemper“, der Beförderer des kirchlichen Pietismus in den südrussischen Kolonien. Von Haus aus reformirt, führte er einen feindlichen Gegensatz zwischen den in Frieden nebeneinander lebenden und zu einer Kirche gehörenden Lutheranern und Reformierten herbei. Auch artete unter seinem bedeutenden Einfluss die pietistische Richtung in einigen Gemeinden des Gouvernements Cherson in ein ungesundes, schwärmerisches Wesen aus. Die konfessionellen Streitigkeiten führten endlich dahin, daß eines Tages ein ministerieller Befehl das Kirchspiel Rohrbach-Worms für reformiert erklärte, was zur Folge hatte, daß Johannisthal und Waterloo ein lutherisches Kirchspiel bilden. Dadurch waren aber die Lutheraner in Worms, unter welchen eine maßlose Propaganda zu Gunsten der reformierten Kirche getrieben wurde, nicht befriedigt, und sie traten zu einem besonderen Kirchspiel zusammen. Der Streit wurde, wenigstens äußerlich, erst dadurch geschlichtet, daß der Minister des Innern im Jahre 1885 erklärte, die beiden bisherigen Kirchspiele Johannisthal-Waterloo und Worms-Rohrbach sollen hinfort nur ein lutherisches Kirchspiel unter dem Namen Worms-Johannisthal bilden. Das reformierte Kirchspiel Rohrbach-Worms ist in seinem Bestande dadurch gesichert, daß ihm sämmtliches Kircheneigenthum, darunter auch 120 Dessjatinen Land, zugewiesen worden ist.

Während die östlichen Kolonieen an der Molotschna und in der Krim sowohl, als auch bei Mariupol und Berdjansk sich mehr auf wirtschaftlichem und zum Theil auf dem Gebiet der Schule hervorgethan haben, zeichnen die westlichen Ansiedlung der Bezirke Großliebenthal und Glücksthal, namentlich aber diejenigen der Beresana durch religiöse Bestrebungen oft recht unfruchtbarer Art aus. Immernoch hat sich die Religiosität dieser Leute nicht geklärt, obwohl den diesbezüglichen Streitigkeiten und Reibereien manches im Wirthschaftswesen und vorzugsweise auf dem Gebiet der Schule bereits zum Opfer gefallen ist. Es ist unglaublich, wohin der im kirchlichen und religiösen Gewande einherschreitende Oppositionsgeist hier in vielen Fällen geführt hat. Möge auch hier die aus einem ernsten Vorwärtsstreben erwachsene Selbsterkenntnis und Demuth bald zu einer besseren Aera führen. Möge die äußerlich so strenge Religionsausübung einem lebendigen Gottvertrauen und die Kehrseite der Selbstgerechtigkeit: Rohheit Trunksucht und Sauflust, bald milderen, wahrhaft christlichen Sitten Platz machen, dann wird Landwirthschaft und Schule, Gemeinde und Kirche in edlem Wetteifer jene herrlichen Früchte zeitigen, nach welchen die besten und edelsten Köpfe gerade unter diesen Kolonisten von jeher so ernstlich getrachtet haben.

6. Kolonie Hoffnungsthal im Chersonschen Gouvernement.

Wenn wir im nachstehenden die Entstehungsgeschichte der Kolonie Hoffnungsthal kurz behandeln, so folgen wir dabei im wesentlichen dem Bericht des Herrn Pastors M. Fr. Schrenk in seinem Büchlein: „Aus der Geschichte der Entstehung und Entwicklung der evangelisch-lutherischen Kolonien in den Gouvernements Bessarabien und Cherson“, welches im Jahre 1901 im Selbstverlage des Verfassers erschienen ist.

Nicht weniger als 1400 Familien machten sich im Frühling des Jahres 1817 auf, um aus Württemberg, ihrer bisherigen Heimath, auszuwandern. Ihr Ziel war weiter, als das aller anderen Ansiedler Südrußlands. Sir wollten nämlich, durch die Schriften Jung Stillings angefeuert, in Grusien vor den Drangsalen der antichristlichen Letztzeit einen sicheren Bergungsort suchen, wo sie ungestört ihres Glaubens leben könnten. Ein längeres Verbleiben in ihrer Heimath schien ihnen deshalb unmöglich, weil der Nationalismus im Kirchenregiment und der Unglaube in den Gemeinden immer weiter um sich griffen. Sie kamen bei der russischen Regierung mit der Bitte ein, ihnen in ihren weiten Gebieten eine Heimath mit dem Recht der kirchlichen Selbstverwaltung und der Wahl und Berufung ihrer Geistlichen zu bieten. Die Bitte wurde gewährt und der Beschluß zur Auswanderung endgültig gefaßt. In 14 Kolonien oder Abtheilungen reisten sie, wie alle südrussischen Auswanderer, von Ulm in vollgepfropften Ruderböten donauabwärts. Die Cholera und andere epidemische Krankheiten rafften viele schon auf der Reise dahin. Als sie in Odessa angekommen waren, sollten sie von dem damaligen Oberfürsorger für die ausländischen Kolonisten, General von Insow, veranlaßt werden, sich in der Nähe von Odessa anzusiedeln. Doch beharrten die meisten bei ihrem Vorsatz, nach Grusien zu ziehen, nur 300 Familien beschlossen zu bleiben. Einige von diesen 300 Familien gründeten im Jahre 1818 die Kolonie Töplitz in Bessarabien und Johannisthal und Waterloo im Chersonschen, während die übrigen, namentlich die zur Eßlinger, Walddorfer und Weissacher Kolonie gehörenden, sich auf dem ihnen angewiesenen Landgute „Zebricko“ im Tiraspoler Kreise niederließen und die Kolonie Hoffnungsthal bildeten. Im nächsten Jahre schon verließen jedoch nicht wenige Familien den eben erwählten Wohnsitz, um ihren Brüdern nach Grusien zu folgen. Die Zahl der Zurückgebliebenen erwies sich als zu gering, um das ihnen zugedachten Landgut in Besitz und Bearbeitung zu nehmen. Deshalb wurde ihnen die Erlaubnis ertheilt, von den angekommenen und in den Kolonien hin und her verteilthen Einwanderern so viele anzuwerben, bis die erforderliche Anzahl von Familien sich wieder zusammenfand, was im Jahre 1819 schon der Fall war. Diese Familien wurden unter der Bedingung aufgenommen, daß sie die religiösen Anschauungen der Hoffnungsthaler theilten.

Auf dem Landgut Zebriko befanden sich, wie in Nr. 7 des Jahrganges 1851 des „Unterhaltungsblattes“ berichtet wird, 17 baufällige Häuschen ohne Dach und innere Einrichtung und zu 15 anderen waren Steine und etwas Holz vorhanden. Diese unvollendeten Bauten hatte die Krone für bulgarische Ansiedler errichten lassen. Jedem der ersten 64 Wirthe wurden 500 Rbl. Banko zu Bauholz, Vieh und landwirthschaftlichen Geräten von der Krone vorgeschossen. Die später da dazukommenden 30 Wirthe erhielten einen abermaligen Vorschuß von 3000 Rbl. Banko. Außerdem standen den Ansiedlern 10.000 Rbl. Silber an zusammengebrachtem eigenem Vermögen zu Gebote. Da der Kolonie in früheren Jahren viel fremdes Land in der Umgehend zu Gebote stand, so hat der Ackerbau hier steht ihren Blüthe gestanden. Gute Ernten und Getreidepreise haben den Wohlstand sehr befördert.

Unterhaltungsblatt Nr. 7/185110

Die Kolonie hat dank ihren tüchtigen Prediger, Pöschel von 1837 – 1856 und Becker 1863 – 1887, welche sich aus dem Auslande berief, das Verdienst, inmitten der religiösen Wirren der übrigen Chersonschen Kolonien einen gesunden christlichen und kirchlichen Sinn nebst guten Sitten und Ordnungen sich bewahrt zu haben. Wohl hat es auch hier einige Aufregung gegeben, als die Gemeinde im Jahre 1888 unter das Ressort des St. Petersburgischen  evangelisch-lutherischen Konsistoriums trat, aber die Wellen haben sich gelegt und der alte nüchterne evangelische Glaube ist in vielen Gliedern unerschüttert geblieben.

Kirche Hoffnungsthal 1926, rechts hinten die Schule. Der Glockenturm mit drei Glocken unterschiedlicher Größe, wurde je nach Bedarf mit unterschiedlichen Glocken geläutet. Das Dach war aus grün gestrichgenem Blech, die Wände, Kirchhofmauer weiß gekalkt, auf der Spitze des Daches ein sich drehender Hahn als Wetterfahne.11

Hier sehen wir, wie wohlthätig nüchternes Christenthum und bürgerlicher Fleiß sich gegenseitig zum Wohl des Menschen beeinflussen. Das Gebet befördert die Arbeit und die Arbeit das Gebet. So lange in einer Gemeinde beides in nüchternem Ernst geübt wird, bleibt jener lähmende Oppositionsgeist fern, welcher das Lebensmark und die Zufriedenheit des Bürgers verzehrt, und es herrscht stattdessen jene Liebe und jenes Vertrauen unter Gleichgestellten, Vorgesetzten und Untergebenen, zwischen Gemeinde, Lehrer, Seelsorger und Beamten, welches zu froher Arbeit belebt, die Freude am Dasein erhöht und die Gesundheit in jeder Hinsicht befördert. Möge es in Hoffnungsthal stets also bleiben und an anderen Orten, wo es dringend noth thut, bals so werden!

Fortsetzung folgt 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 19.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Großliebenthaler Kolonien bei Odessa mit dem Dorf Josephsthal, dem heutigen Jossypiwka Ersteller Snipermatze • CC BY-SA 3.0

2 Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland.“ St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. 1855.

4 1 Dessjatine = 2400 Saschen² = 10.925,3975 m² ≈ 1,1 ha

5 Caspar Escher vom Glas (1755-1831), Kaufmann, Stetrichter und Rittmeister, wanderte nach der Liquidation seiner Handelsfirma mit drei Söhnen 1789 nach Russland aus – Zürcher Taschenbuch, Band 118, Beer, 1997, p300ff

6 Reiseweg J. Rzadkowski, Nutzungsbedingungen google maps

7 die Basler Missionsgesellschaft schickte Pfarrer Heinrich Dietrich (4.9.1794-4.9.1827) aus Schwerzenbach nach Zürichtal. Bild QS-30.001.0025.01, Reference: BMA QS-30.001.0025.01 Title: „Dietrich, Heinrich. “ Creator: unknown Date: 1822 “Dietrich, Heinrich. ,” BMArchives, accessed January 10, 2024, https://www.bmarchives.org/items/show/100206818.

8 Die Kolonien in Bessarabien und in dem Gouvernement Cherson. Atlas der Evangelisch – Lutherischen Gemeinen in Russland. St. Petersburg. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Buchdruckerei der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, 1855.

9 Reference: BMA QS-30.001.0030.01; Title: „Bonekemper, Johann. “ Creator: unknown Date: 1824; “Bonekemper, Johann. ,” BMArchives, accessed January 10, 2024, https://www.bmarchives.org/items/show/100206822.

10 Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Russland 1851 Nr. 7, auf Mikrofilm, CMBS

11 Georg Leibbrandt: Hoffnungstal und seine Schwaben: die historische Entwicklung einer Schwarzmeerdeutschen Gemeinde, als Beispiel religiös bestimmter Wanderung und Siedlung und als Beitrag zur Geschichte des Rußlanddeutschtums; Bonn 1980, p133

Zur Geschichte Süd Russlands IV

Original von 1912 bearbeitet und ergänzt: J. Rzadkowski

(eingesandt von Jakob Sommerfeld Karlsruhe im Kaukasus)1

(4. Fortsetzung)

„Der gute Herr Betmann2“ – so berichtet Ernst Walther weiter – „hatte Tag und Nacht zu thun mit Ertheilung der Reisepässe nach Südrußland und, dank ihm! es war ihm keine Mühe zu viel und er machte den Armen keine überflüssige Stunde Aufenthalt. Begleitet von seinen Glückwünschen betraten wir, in Kolonnen getheilt, hoffnungsvoll den Weg, wie uns der Zufall zusammenführte. Wer kein Fuhrwerk hatte, lud seine Habe auf einen Schubkarren; die Mutter band ihren Säugling oben darauf und spannte sich selbst mit einer Zugleine vor den Karren, während ein kleiner 7- bis 8jähriger Knabe, sich am Rocke der Mutter haltend, nebenher trabte und dieselbe mit den Worten tröstete: „Mutter, muscht nit heule, kommer bald zum Russema, der hat viel Brot und Salz. Gelt Mutter, dort finde uns d´ Franzose nit, der Russema stot vor Thüre na und lasst se nit rei, derno dersemer unser eins selber esse.“

Abschied – deutsche Emigranten auf dem Kirchhof3

Jenseits Offenbach bei Frankfurt a. M., am sogenannten Wäldel, sah man unter dem Schatten der Bäume alltäglich mehrere Reisefertige gelagert, Fußgänger zu Fußgängern, Karrenschieber zu Karrenschiebern, Fuhrwerke zu Fuhrwerken gruppierten sich gesellschaftlich zusammen. Württemberger, Badener, Hessen, Pfälzer und Elsässer ein gemeinsames Ziel verfolgen; jede Stunde erschallten die Begrüßungen hinzukommender und sich dem Zug anschließender, alle von Herrn Betmann mit Pässen versehener Auswanderer: „Woher? Wohin? Schließen wir uns euch an, um mit euch eure Hoffnungen zu theilen! Brüder! Wischt den Staub aus den Augen und laßt uns gemeinschaftlich ziehen! Holla! Holla! Vorwärts!“

Titelbild des Buches „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau“ : die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“4

Grodno war der erste Sammelplatz dieser Ansiedler auf russischem Boden. Hier kamen die Wohlhabenden etwas früher in der besten Stimmung transportweise an, während die Armen mühselig und allmählich nachfolgten. Im Auffahrtshofe bei Ivan Kulikowsky feierten sie dem Geber alles Guten ein Dankfest. An einem fröhlichen Abend wurde die Gesundheit Sr. Majestät des Selbstherrschers aller Reußen ausgebracht und am anderen Morgen die Einwanderung angetreten. Der Empfang der Nahrungsgelder bis Jekaterinoslaw hatte ihnen sehr wohlgethan. Sie waren in mehrere Kolonnen getheilt, von welche jede einen Obmann oder Anführer hatte. Im Verlauf der Herbstmonate des Jahres 1809 trafen sie allmählich in die Jekaterinoslaw ein, wo das Vormundschaftskomtoir für ausländische Ansiedler seinen Sitz hatte. Manche waren unterwegs dem Einfluß der ungewohnten Lebensweise und der Strapatzen der Fußtour erlegen. Der Vormundschaftskomptoir sorgte nun für die bestmögliche Einquartierung der Ankömmlinge in den bereits bestehenden deutschen Kolonien Josefsthal, Rybalsk, Großweida, im Chortitzer und Molotschnaer Mennonitenbezirk und in den ersten Ansiedlungen der Molotschnaer Kolonisten. „Die durch Sterbefälle entstandenen Lücken wurden zwischen Witwern, Witttwen und Jungfrauen größtenteils ausgefüllt, so daß im eigentlichen Sinne sehr wenig Verwaiste übrig blieben.“

Diese zweite Ansiedlung von Molotschnaer Kolonisten bestand aus etwa 600 Familien. Der größte Theil von ihnen besaß in ganz richtige Begriffe von der Landwirtschaft. Bei der Ansiedlung wurde leider keine Rücksicht auf den Unterschied der Konfession und Nationalitäten genommen, so daß die verschiedensten deutschen Landsleute, sowie Lutheraner, Kalvinisten und Katholiken nebeneinander und durcheinander zu wohnen kamen, was dem Frieden und der gedeihlichen Entwicklung sehr hinderlich war. Es wird diesen Pionieren der zweiten Ansiedlung zum Vorwurf gemacht, daß sie bei der Ansiedlung eben weiter nichts im Auge hatten, als möglichst schnell und an einem möglichst bequem gelegenen Platze Land zu bekommen. Doch für die damalige Zeit war das in gewissem Sinne entschieden ein Vorzug und bedeutete einen nicht geringen Fortschritt in der Geschichte der Kolonisation, denn viele der anderen Kolonisten hatten zu schwache Begriffe vom Landbau, als daß sie den Besitz des Landes überhaupt hätten schätzen können.

Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897.5

Die ersten Jahre der Niederlassung beschreibt Ernst Walther folgendermaßen: „Die Steppe über dem Thalufer war gänzlich unbewohnt und wurde nur von herumziehenden tatarischen Hirten (Nomaden) jährlich einige Male besucht, die den üppigen Wuchs des Grases nicht hemmten.“ „Noch bei der zweiten Ansiedlung haben solche Schäfer die Gegend besucht und mit Verwünschungen über Pflug, Grabscheit und Baumzucht durchzogen. Nach ihrem Bedürfniß ist ihnen eine lange Reihe von Jahren hindurch diese Gegend vom Urgroßvater her als Paradies vererbt gewesen und nun erschien ein in ihren Augen abscheuliches Volk, dessen Sprachlaute ihren Ohren widerlich berührten, um in diesem „gesegneten Lande“ das Unterste nach oben zu kehren.

Tatarische Steppe6

Weder ihre Gebete, noch ihre Verwünschungen wurden erhört, der Pflug zog Grenzen und zur Ansiedlung wurde im Frühjahr 1810 rasch geschritten. Jeder Familie wurden 60 Dessjatinen7 Landes zugetheilt und von Seiten der Behörde ein Vorschuß von 200 Rubel Banko gezahlt zu Anschaffung zweier Pferde, eines Wagens, einer Kuh, und für Saatfrucht, die zum Theil aus weiter Ferne geholt wurde. Damals kaufte man für 200 Rbl. mehr, als heute für 600 (das ist geschrieben im Jahre 1849! Anmerkung des Verf.); Bauholz zu einem 8 Faden8 langen und 4 Faden breiten Wohngebäude zur Stelle geschafft, bestand in dem Werthe von etwa 105 Rbl. Banko.“

Beispiel eines einfachen Pfluges, Foto von 1922, Kreis Mariupol 1922 (World ORT)

Die erste Ernte dieser neuen Siedler fiel schlecht aus. Wildheit des Bodens, schlechte Ackergeräthe, mangelhafte Aussaat, trockener Sommer waren die Ursachen. Der fünfte Theil der Ansidler erntete nur das Brot. Darauf folgte der „französische Winter“ des Jahres 1812. Sechs Wochen unausgesetzt Schneegestöber, 20 bis 26 Grad Kälte, große Armuth – das alles war nicht gerade geeignet, die in Erdhütten eingeschneiten, durchs Kamin aus- und einkletternden, landesfremde Westeuropäer in ihren leichten Zwilchkitteln zu ermuthigen. Den langen, bangen Winter hindurch wurden Ermangelung von Mühlen das Getreide zum Theil roh gegessen. Der Gedanke, daß der Feind endlich bei Moskau sein Ende gefunden, war die schönste Genugthung, und als endlich der späte Frühling ins Land zog, ging man frisch ans Werk für Gott, Kaiser und das neue Vaterland.

Postkarte mit Erdhütte in Antonowka am Styr9

Trotzdem das Molotschnaer Klima gesund ist, erkrankten im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte doch viele deutsche Ansiedler und manche mußten in ein frühes Grab gesenkt werden. Aus Mangel an Geld war man auf Tauschhandel angewiesen. Wie gering die Preise der landwirthschaftlichen Erzeugnisse damals waren und wie theuer der Landmann diejenigen Waaren bezahlen mußte, die er brauchte, beweist die von Ernst Walther berichtete Thatsache, daß man für ein Maß10 Kalkerde ein ebensolches Maß Roggen, für ein Pud11 Salz zwei Pud Weizen gab. Bei einer Fahrt von 100 bis 200 Werst12 erhielt man für ein Pud Weizenmehl den damals hohen Preis von einem Rubel Banko. Roggenmehl mengte man unter den Kalk zum Tünchen der Wohnung.

In Bezug auf die Ackergeräthe jener ersten Zeit erzählt Ernst Walther folgendes: „Die Ackergeräthe waren in einem elenden Zustande. Pflüge und Wagen waren zuweilen von der lächerlichsten Zusammensetzung, z. B. ein kleinrussischer Unterflug auf einem deutschen Karren, sogenannte Tschumackenräder am deutschen Wagengestell und umgekehrt. Die neuen Geräte waren theils aus über Uebereilung, theils aus Mangel an geschickten Handwerkern schlecht geraten. Am besten waren noch die von Mennoniten erhandelten Ackergeräthe. Weil dieselben aber alt und abgängig waren veranlaßten sie bald eine zweite Ausgabe.“

Wie hoch die Mennoniten in ihrem Wohlstande damals über ihren Nachbarn aus Süd- und Mitteldeutschland standen, zeigt folgende Anmerkung Walthers:

„… Man muss gestehen, daß hinsichtlich des Ackerbaus die Kolonisten von den Mennoniten manchen Handgriff erlernt und vielseitige Hilfe genossen haben; denn jene theils schon vor Ablauf des vorigen und beim Beginn dieses Jahrhunderts als geschlossene und bemittelte Brüdergemeinden auf noch günstigem Vorrechte hin aus Preußen eingewanderten Leute, reich an mancherlei Erfahrungen, waren zu jener Zeit schon an Wirtschaftsgeräthen und Gebäuden zu vortheilhaft eingerichtet, daß die Wünsche eines armen, so zu sagen vereinzelt dastehenden Kolonisten sich nicht von ferne erkühnten, einst auch diesen Standpunkt erreichen zu können.“

Der Molotschnaer Kolonistenbezirk bildete zunächst ein lutherisches Kirchspiel unter dem Namen Molotschna. Auf Verfügung der Kolonialbehörde traf im Jahre 1812 der erste Pastor, namens Sederholm, ein und ein Jahr darauf wurde der Grundstein zu der von der Krone erbauten Kirche gelegt, welche aber erst 1823 eingeweiht werden konnte. Dieses auf einem Hügel gelegene Kirchlein ziert heute noch den schmucken wohlhabenden Vorort Prischib, dessen städtischer Anstrich keine Erinnerung mehr an die Zustände jener Entstehungszeit aufkommen läßt.

Kirche Prischib13

Die Kolonistendörfer an der Molotschna stehen gegenwärtig wohl überhaupt unter den deutschen nicht mennonitischen Ansiedlungen im Süden Rußlands in der Kultur am höchsten. Möchte dieser Ruhm der Molotschna zum Sporn aller deutschen Brüder in unserem Vaterlande stets erhalten bleiben! Möchten Hochmuth und Selbstüberhebung verpönt sein, Fleiß aber und nüchterner Sinn im Verein mit unentwegtem Vertrauen zu Gott im Gehorsam gegen alle Obrigkeit zu einem solchen Fortschritt führen, daß alle die einst auf sie gesetzten Hoffnungen der Regierung sich auf das schönste erfüllen!

Fortsetzung folgt. 

1 Zeitungsartikel, erschienen in „Der Staats-Anzeiger, Bismarck, N.D.“ 12.12.1912, Abschrift wie im Original und kommentiert: J. Rzadkowski

2 Simon Moritz von Bethmann, *31.10.1768 Frankfurt am Main, † 27.12.1826 Frankfurt am Main, evangelisch, Bankier, Abgeordneter, Hessische Biografie 4234

3 Carl Wilhelm HübnerNationalmuseum Oslo  – German Emigrants at the Churchyard – NG.M.00159 – National Museum of Art, Architecture and Design Erstellt: 1846 Gemeinfrei

4 „Er zog anno 1816 mit seinen Kindern nach Polen ohnweit Warschau : die pfälzische Auswanderung nach Mittelpolen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, ISBN 978-3-00-026821-2, kann zum Preis von 22,50 Euro beim Autor Norbert Gottlieb, Auf der Mauer 3, 76831 Ilbesheim, Tel. 06341/30403 er­worben werden

5 Paul Langhans – Deutsche Kolonisation im Osten II. Auf slavischem (slawischem) Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonial-Atlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897

6 Руслан Селезнёв Таврийская степь – panoramio 25. Juni 2009 Standort: 47° 23′ 33,66″ N, 34° 27′ 14,03″ E CC BY 3.0

7 1 Dessjatine = 2400 Saschen² = 10.925,3975 m² ≈ 1,1 ha

8 altes deutsches Maß für Brennholz, 1 Faden = 1,74 – 4,07m3

Der Saschen (auch russischer Klafter oder Faden) ist ein altes russisches Längenmaß. Er wurde 1116 als „dreifache Elle“ erwähnt und mindestens ab 1493 als großer Saschen bezeichnet. Der Abstand der Handspitzen der waagerecht zu den Körperseiten gestreckten Armen wird als »geschwungener Saschen« oder Machovaja Saschen bezeichnet und betrug etwa 1,76 Meter. Nach einer Verordnung vom 3. Januar 1843 hatte 1 Saschen ab 1. Januar 1845 die Länge von 3 Arschin oder 2,13356 Meter.

Das o.g. Gebäude wäre also ca. 17 x 8,5 m gewesen.

9 Feldpostkarte Ertser Weltkrieg (1914-1918) mit Erdhütte in Antonowka am Styr, Druck und Verlag Julius Kreß, Hoflieferant Kassel

10 Maß, ursprüngliches Hohlmaß, je nach Region 1-2, heite 1 Liter entsprechend

11 1 Pud = 40 Pfund (russisch) = 16,38 Kilogramm
Bei Getreide rechnete man 8 bis 10 Pud und bei Mehl brauchte man 9 1⁄3 Pud für ein Kuhl oder Sack.

12 1 Werst = 500 Saschen = 1,0668 Kilometer

13 Illustrierten Molotschnaer Volks-Kalender für die deutschen Ansiedler in Süd-Rußland

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Deutsche Kolonisten

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