Zur Erinnerung an unsere Vorfahren, die als Migranten aus Süddeutschland in die Welt zogen

Kategorie: Dobrudscha

L. Rode: Aus der Dobrudscha – 1877

Aus der Dobrudscha von L. Rode

Es ist ein eigenthümliches Stück Erde, welches den Namen "Dobrudscha" führt. Seit dem Beginn der jüngsten orientalischen Wirren wieder häufig genannt, und vielleicht dazu bestimmt, in den nächsten Monaten der Schauplatz des doch wohl unvermeidlichen türkisch-russischen Entscheidungskampfes zu sein, dürfte die Dobrudscha wohl einigen Anspruch haben, auch der deutschen gebildeten Welt vorgestellt und, wenn auch nur in kurzen Zügen, geschildert zu werden.
 Indem ich mich anschicke, dies auf den folgenden Blättern zu thun, will ich nur die Bemerkung vorausschicken, daß ich nicht nach Hörensagen beschreibe und schildere, sondern aus eigener Anschauung, da ich fast zwei Jahre hindurch an Ort und Stelle gelebt und Gelegenheit gehabt habe, Menschen und Dinge, Zustände und Verhältnisse kennen zu lernen.
 Bekanntlich ist die Dobrudscha der nordwestlichste Theil der europäischen Türkei und der Provinz Bulgarien. Die Grenze bildet im Westen und Norden die Donau, im Osten das schwarze Meer; als Südgrenze darf man wohl die nördlich der Eisenbahnlinie Rustschuk-Varna sich erhebenden letzten Ausläufer des Balkan bezeichnen. Den äußersten Nordrand bildet das mehr als 70 Quadratmeilen große Donaudelta. Ehedem gehörte die Dobrudscha zur römischen Provinz Moesia inferior mit dem Hauptorte Tomi (später Konstantia, jetzt  Küstendje). Hierher ward der Dichter Ovid verbannt; hier, unter dem wilden Getenvolke hausend, hatte er Zeit und Muße, über die Metamorphosen des menschlichen Glückes nachzudenken, von hier aus sandte er seine rührenden Trauergesänge und Klageepisteln über das Meer nach Rom; hier starb er im Jahre 17 nach Christi Geburt, hier wird noch heute sein Grabhügel gezeigt.
 Der bei weitem größere südliche Theil der Dobrudscha ist ein ödes, unfruchtbares wasserarmes Steppenland; mageres Gras bedeckt die weite Fläche, auf welcher sich kaum hier und da ein verkrüppeltes Bäumchen erhebt. Während im Sommer eine glühende Hitze den Aufenthalt in dieser Wüstenei unerträglich macht, fegen im Winter furchtbare Schneestürme darüber hin und erstarren alles Leben zu Eis. Selbst die im Frühjahr sowie im Herbst herniederrauschenden Regengüsse, von deren Gewalt man sich im Abendlande keine Vorstellung machen kann, vermögen den Boden nicht zu befruchten, da derselbe bei seiner eigenthümlichen Beschaffenheit alle Feuchtigkeit sofort einzieht. Kein Wunder, daß diese Einöde so gut wie gar nicht bewohnt ist. Nur Schaf- und Ziegenherden fristen hier ein kümmerliches Dasein, und ihre Hirten sind die einzigen Menschen, denen der Reisende begegnet. Wilde rauhe Gestalten diese Hirten. Auf dem Haupte eine große schwarze Pelzmütze, den Körper eingehüllt in einen weiten Schafpelz, dessen Fell an heißen Tagen nach auswärts gekehrt ist, während die eigenen schwarzen Haare in wirren Strähnen weit über die Schulter herabhängen, in dem breiten Gürtel Messer und Beil, so schlendern sie hinter der Herde her, oder stehen gestützt auf ihren Stab da, oder liegen auch schlafend im Grase, unbekümmert um die Sonne, die auf sie herniederbrennt, auch unbekümmert um die Herde, die der treue Hund besser bewacht, als sein Herr.
 Diese wüste Dobrudscha war es, in welcher zur Zeit des letzten orientalischen oder Krimkrieges eine französische Heeresabtheilung kläglich zu Grunde ging. General Espinasse unternahm im August 1854 von Varna aus mit 5000 Mann eine Expedition nach Norden, um die Russen aus ihren Stellungen bei Tultscha und Babadagh zu vertreiben. Ohne Kenntniß der Gegend, ohne auf die Warnungen Kundiger zu achten, ging es vorwärts. Bald aber trat die höchste Noth und Erschöpfung ein. Die Lebensmittel gingen aus, das Wasser fehlte bald gänzlich; die wenigen Wüstenbrunuen waren von den Türken selbst verschüttet und zerstört worden, und dazu brannte bei Tage die Sonne sengend hernieder, während bei Nacht empfindliche Kälte eintrat. Die Disciplin ging völlig aus den Fugen, die Soldaten verweigerten den Gehorsam, Espinasse mußte zurück; aber nur so viel hunderte wie tausende ausgezogen waren, zogen in Varna wieder ein. Ja, eine solche Wuth hatte sich der Soldaten bemächtigt, daß sie den sonst so beliebten General in den Straßen der Stadt vom Pferde rissen und mißhandelten. Noch nach Jahren sah man die Gebeine der umgekommenen Franzosen in der Steppe bleichen.
 Einen Abschnitt bildet die die Dobrudscha auf ihrer schmalsten Stelle durchschneidende Eisenbahnlinie Küstendje-Czernawoda. Etliche Stunden nordwärts von dieser Eisenbahnlinie verändert sich das Land gänzlich. Die Ebene, die Steppe hört auf, ein welliges Hügelland beginnt und erhebt sich allmählich zu jenem romantischen Waldgebirge, welches fast den ganzen Norden der Dobrudscha, d. h. die Gegend zwischen Babadagh, Tultscha und Matschin erfüllt. "Ein romantisches Waldgebirge," so sagt’ ich, und sag’ es im wohlbewußten Widerspruch gegen alle diejenigen, welche gerade den Norden der Dobrudscha als ein mit Fiebern und allen möglichen Krankheiten geplagtes Sumpfland und die Einwohner als hohläugige bleichwangige, vom Fieberfrost geschüttelte Menschenkinder darstellen. Das gilt höchstens von den wenigen Bewohnern des Donaudeltas, auf welches ich noch zurückkommen werde, aber in der nördlichen Dobrudscha selbst, d. h. in ihrem bewohnten Theile wohnt ein so gesunder Menschenschlag wie irgendwo auf Erden, und die zwei Jahre, die ich selbst dort mitten im herrlichsten Urwalde zugebracht, haben meinem durch Stubenluft angekränkelten Körper so wohl gethan, daß ich nur mit größter Freude an jene Zeit zurückdenken und die Erlebnisse und Eindrücke derselben mir vergegenwärtigen kann.
 Etwa 200 - 300 Meter hoch, stellenweise noch höher, ziehen sich die Bergketten von Westen nach Osten, bis zum Gipfel bestanden mit den prächtigsten Eichen und Linden, zwischen welche Rüstern, Eschen und andere Bäume eingestreut sind. Hier und da treten auch kahle spitze Felsenkuppen hervor. Zwischen den Bergketten zeigen sich schöne nicht allzubreite Längsthäler durchrauscht von klaren Bächen und sprudelnden Quellen. Blumen der mannigfaltigsten Art und Farbe bedecken den grünen Boden, unter ihnen dunkelrothe Päonien und schlanke Kaiserkronen. Bunte Vögel beleben die grüne Wildniß, und zwar besonders häufig die Mandelkrähe, deren farbiges Gefieder an das der Papageien erinnert, so daß der Reisende sich in Tropenländer versetzt glauben kann.
 Der größte Theil dieses Waldgebirges ist wohl noch von keiner Axt berührt worden, ist wirklicher Urwald. Hin und wieder aber ist das Dickicht ein wenig gelichtet, menschliche Wohnungen erheben sich, üppige Ackerfelder dehnen sich aus, und wunderbar! unter den grünen Kronen der Eichen wächst und reift der goldene Weizen, an sonnigen Abhängen auch ein schmackhafter Wein.
 Bekanntlich ist die Dobrudscha diejenige Provinz der europäischen Türkei, in welcher die eigentlichen Türken am dichtesten gesäet sind; dies hindert jedoch nicht, daß Abkömmlinge der verschiedensten Nationalitäten sich gleichfalls in diesem schönen Erdenwinkel angesiedelt haben, der in der That nach dieser Hinsicht einer wahren Musterkarte gleicht, sowohl was die Städte, als was das freie Land betrifft, aber immer nach dem Wahlspruch: schiedlich - friedlich! In den Städten gibt’s ein Türkenviertel, ein Bulgarenviertel, ein Russenviertel u. s. w. Auf dem Lande trifft der Reisende hier ein Dorf, in welchem nur Türken hausen, dort ein Bulgarendorf, eine Stunde weiter ein Russendorf, nicht weit davon eine moldauische Kolonie. Weiterhin glaubt man in eine Ansiedelung von Troglodyten zu gerathen, denn nur Strohdächer und Schornsteine sieht man aus dem Boden hervorragen, während die Wohnungen unter der Erde liegen. Die schiefgeschlitzten Augen, die stark hervortretenden Backenknochen der Bewohner gestatten keinen Zweifel: es sind Tartaren, die sich hier niedergelassen haben, Krimtartaren, die nach der Eroberung ihres schönen Vaterlandes durch die Russen auswanderten und hier eine neue Heimat fanden, übrigens ein fleißiges, friedliches, wenn auch unsauberes Völkchen.
 Ganz anders die jüngsten Ansiedler der Dobrudscha, die Tscherkessen. Auch sie wollten sich der Herrschaft des Zaren nicht beugen. Ergrimmt, daß sie nicht mehr Herren sein sollten in ihren Bergen und daß ihren Raubzügen ein donnerndes Halt zugerufen wurde, fluchten sie ihrer Heimat und ihren Unterdrückern und folgten den Lockungen des Padischah, der ihnen neue bessere Wohnsitze verhieß, der aber gar bald die Erfahrung des Zauberlehrlings machen mußte: "Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los!" In Armenien und Kleinasien, wohin sie zuerst verpflanzt wurden, setzten diese geborenen Räuber natürlich ihr Handwerk fort zum großen Schaden von Land und Leuten. Man suchte sie daher durch Trennung und Vereinzelung zu zähmen. Etliche tausend Familien wurden nach Europa übergeführt, und zwar hauptsächlich in die Donaugegenden, wo sie zugleich nöthigenfalls Vorpostendienste gegen ihre Erbfeinde, die Russen, thun konnten — und vielleicht bald thun werden. Am besten aber gefiel’s ihnen in den Bergen der nördlichen Dobrudscha, die sie wohl an ihr Vaterland erinnern mochten. Es wurden ihnen Plätze zur Anlegung von Dörfern angewiesen, die Einwohner der benachbarten Ortschaften mußten sogar auf Befehl der Regierung ihnen helfen die Häuser zu bauen, mußten ihnen auch Mais zur ersten Aussaat und andere Lebensmittel liefern, aber Art läßt nicht von Art. Das Stillsitzen war nichts für die wilden Gäste; hinter oder gar vor dem Pfluge herzugehen schien ihnen eines freien Mannes unwürdig, in wenigen Wochen war das Saatgetreide verzehrt, verthan, verkauft, und als der Mangel an ihre Thüren klopfte, als auch der Verkauf ihrer Frauen und Töchter die Noth nicht zu stillen vermochte, da griffen sie zu ihrem gewohnten Handwerk, und Raub und Plünderung waren an der Tagesordnung.
 Die ganze Provinz gerieth in eine leicht erklärliche Aufregung. Klagen über Klagen erfüllten den Konak des Gouverneurs Achmed Rassim Pascha in Tultscha. Niemand war ja seines Eigenthums, seines Lebens mehr sicher. Was halfen die halben Maßregeln der Behörde? In den Wäldern und Bergen fanden die Tscherkessen Schlupfwinkel genug, und die gegen sie ausgesandten Baschibozuks machten wohl gar mit ihnen gemeinsame Sache. Weshalb sollte man sich auch zu sehr erhitzen? Waren’s doch die Giaurs , die ausgeplündert wurden, und die erst ganz frisch zu Bekennern Mohameds umgewandelten Söhne des Kaukasus mußten doch geschont werden. Ganz besonders schlimme Subjekte wurden wohl eingesteckt oder mußten, an den Füßen gefesselt, die Straßen Tultschas ausbessern oder bei Neubauten Schutt wegräumen, Steine tragen und dergleichen; aber eine Besserung der unsicheren Zustände trat nicht ein, selbst dann nicht, als sogar türkische Ansiedelungen beraubt und verwüstet wurden. Daß es auch in jüngster Zeit nicht besser geworden ist, bedarf kaum der Erwähnung. Und doch sind es herrliche Gestalten, diese kaukasischen Männer, ein tadelloser schlanker Wuchs, eine Taille, um die ein Gardelieutenant sie beneiden könnte, kleine weiße Hände, kleine fast frauenhafte Füße, ein Kopf von den schönsten Proportionen, und in diesem Kopf zwei Augen, die von einem tiefen unheimlichen Feuer glühen! Dabei bewaffnet vom Wirbel bis zur Zehe. Nicht selten trugen sie zwei Flinten über die Schulter gehängt und einen langen Schleppsäbel um den Leib, auf der Brust die Patrontäschchen, im Gürtel stecken in der Regel zwei Pistolen, auch wohl ein großes Messer, ja sogar in der kolossalen Pelzmütze waren Dolche verborgen. Nimmt man dazu das bekannte phantastische Kostüm, das bei den Häuptlingen aus einem scharlachrothen Rock und weiten weißen Beinkleidern bestand, so ist es begreiflich, daß die Tscherkessen Leute waren, die man lieber gehen als kommen sah, und die man am liebsten gar nicht sehen mochte. Obgleich ich persönlich stets unangefochten geblieben bin, so faßte ich doch immer den Revolver fester, wenn mir auf einsamem Waldwege ein Tscherkesse begegnete.
 Und nun inmitten dieses Völkergewirres und inmitten des vorhin geschilderten Urwaldes liegt auch eine deutsche Kolonie versteckt. Ja, deutsche Landsleute sinds, die dort in stiller friedlicher Arbeit leben und für die ich gerade jetzt in dieser entscheidungsschweren Zeit, da aller Augen nach der Türkei gerichtet sind, die Theilnahme der Leser dieses Blattes in Anspruch nehmen möchte. Ich, der ich fast zwei Jahre hindurch in ihrer Mitte geweilt, kann es bezeugen, daß sie diese Theilnahme im höchsten Maße verdienen.
 Atmatscha, das ist der Name der Hauptkolonie, liegt ganz im Walde und zählt etwa 400 Einwohner und zwar nur Deutsche. Eine Stunde davon, gleichfalls im Walde, liegt Tschukurowa mit vielleicht 120 Seelen. Will man die Lage dieser beiden Kolonien auf der Karte bestimmen, so suche man den Punkt, der von Tultscha, Babadagh und Matschin ungefähr gleich weit (d. h. sechs Stunden) entfernt ist. Unmittelbar südlich von Atmatscha erhebt sich die höchste Spitze der nördlichen Dobrudscha, der sogenannte Goldberg, auf dessen kahlem Scheitel man noch Spuren von alten Bergwerksanlagen entdeckt, und von welchem aus man wie von einer höheren Warte hinabschaut auf die niedrigeren Bergzüge und in die grünen Waldthäler; zugleich erblickt man gegen Morgen den Spiegel des Rasimsees, eines Busens vom schwarzen Meere, während gegen Abend und Mitternacht sich die Donau wie ein feiner Silberfaden hinschlängelt.
 Außerhalb des Hochwaldes, aber immer noch von dichtem Eichengestrüpp umgeben, auch näher an Tultscha, liegen noch zwei deutsche Kolonien, Katalui und Malkotsch, letztere von Katholiken, erstere sowie auch Atmatscha und Tschukurowa, nur von Protestanten bewohnt.
 Fragt der Leser, wie diese Deutschen in jenen einsamen Erdenwinkel gekommen sind - ach, dann könnt ich ihm eine lange Leidensgeschichte erzählen. Heute nur so viel: Gekommen sind sie aus dem Kolonienreichen südlichen Rußland, wohin ihre Väter zu Anfang dieses Jahrhunderts ans Deutschland (Würtemberg, Mecklenburg. Westpreußen) eingewandert waren. Als im Jahre 1844 sich das Gerücht verbreitete, Zar Nikolaus I wolle den deutschen Kolonisten ihre Vorrechte nehmen, wolle ihre Söhne gleichfalls auf 25 Jahre unter seine Soldaten stecken u. s. w., da verließen mehr als 100 Familien ihr zweites Vaterland und zogen zunächst über den Pruth in die Moldau, wo man ihnen zwar Wohnsitze versprach, aber nicht gab, dann in die Walachei bis vor die Thore Bukarests, wo es ihnen nicht besser erging. So von Christen getäuscht, wollten sie’s einmal bei den Türken versuchen und setzten über die Donau. Außerdem war einmal der Wandertrieb erwacht und so leicht nicht wieder zu bändigen. Bei Silistria erhielten sie Land, aber das gefiel ihnen nicht - sie zogen weiter. Einen anderen Fleck Landes, auf welchem sie sich niederließen, beneideten ihnen die umwohnenden Türken, und wieder ging’s weiter donauabwärts dem schwarzen Meere zu. Nach den furchtbarsten Entbehrungen und nach ganz unsäglichem Jammer fanden sie endlich in Atmatscha eine Stätte, wo sie bleiben konnten und wollten.
 Aber was war Atmatscha, zu deutsch: Sperberhaus? Ein wildes Waldthal ohne jede Kultur, mit Ober- und Unterholz dicht bestanden. Wohl muß früher hier schon einmal ein Dorf gestanden haben; wenigstens deutete ein mit Grabsteinen bedeckter alter Friedhof darauf hin, aber aus den Gräbern wuchsen mehr als mannesstarke Eichen hervor. Da galt es, den wilden aber äußerst fruchtbaren Boden urbar zu machen. Wochenlang arbeitete die Axt, der Spaten, das Feuer. Die gelichteten Stellen wurden schnell umgepflügt und mit Mais und Weizen bestellt; dann erst schritt man zum Aufbau der Wohnungen. So entstand mitten im türkischen Urwalde ein deutsches Dorf, deutsche Lieder erklangen aus der Kirche, aus der Schule, aus den Häusern und rothbackige Flachsköpfe mit hellblauen Augen tummelten sich lustig umher. Bei angestrengtem Fleiße brachten es diese Ansiedler bald zu einem gewissen Wohlstande und fingen an sich glücklich und heimisch zu fühlen, zumal sie von ihren türkischen Nachbarn keinerlei Anfechtungen zu erdulden hatten.
 Da brach 1853 der türkisch-russische Krieg aus. Die Russen überschritten bei Tultscha die Donau und rückten in die Dobrudscha ein. Schon fürchteten die Kolonisten, von neuem zum Wanderstabe greifen zu müssen; aber das Ungewitter verzog sich nach der Krim, und sie konnten wieder frei aufathmen. In Folge reichen Kindersegens so wie in Folge verschiedener Nachschübe wurde es nun in Atmatscha zu enge, und so siedelten sich etliche Familien in Tschukurowa, etliche in Katalui an. Malkotsch war gleichzeitig mit und unabhängig von Atmatscha gegründet worden. Jetzt aber brachte die Einwanderung der Tscherkessen eine neue größere Gefahr. Oft genug kam es vor, daß diese Räuber einem friedlichen Deutschen die Pferde vom Wagen gespannt, einem anderen das Geld, das er vom Markte heimwärts trug, gestohlen hatten, und ich vergesse den Abend nicht, da mein alter Kirchvater Adam Kühn mit seiner bejahrten Eva blutrünstig, weinend und klagend ins Dorf hineingehinkt kam. Die Hallunken hatten sich nicht begnügt, ihm drei Pferde nebst Wagen und werthvoller Ladung zu rauben, sie hatten auch noch ihn und seine arme Frau mehr als halbtodt geschlagen. Neue Aufregung im Dorfe und Erwägung der Frage, ob man nicht lieber wieder wandern solle! Aber wohin? Man hatte denn doch zu trübe Erfahrungen gemacht und entschloß sich, was auch das beste war, zu bleiben, und ist geblieben bis auf den heutigen Tag, zwar mit viel Angst und Sorge, aber auch mit Hoffnung und Gottvertrauen. Was die kommenden Tage diesen unseren deutschen Brüdern bringen werden, ob der entfesselte mohamedanische Fanatismus seine Brandfackel auch in ihr stilles Thal schleudern wird - Gott allein weiß es! Er nehme diese Verlassenen in Seinen heiligen und sicheren Schutz! Es bewahre sich auch an ihnen das Sprichwort, das man so oft in der Fremde hört: "Gott verläßt keinen Deutschen!"
 Als Hauptstadt der Dobrudscha gilt gegenwärtig Tultscha mit etwa 30 000 Einwohnern. Amphitheatralisch an der Donau aufgebaut, mit einer ganzen Anzahl hellglänzender Kirchthürme geschmückt und umgeben von einem wahren Walde lustig klappernder Windmühlen, gewährt die Stadt von dem Strom aus einen freundlichen Anblick, ist jedoch im Innern so häßlich und schmutzig wie alle Türkenstädte. Als Sitz des Gouverneurs und des Generalinspektors der unteren Donau so wie als Sitz vieler Konsuln und anderer Beamten hat die früher ganz unbedeutende Stadt, namentlich seit der Bildung der europäischen Donaukommission, die hier ihre Bureaux und Magazine hatte, in den letzten zwanzig Jahren einen hohen Aufschwung genommen, namentlich am Hafen herrscht ein überaus reges Leben. Das Kommen und Gehen der Schiffe, das Aus- und Einsteigen der Personen, das Aus- und Einladen der Waaren, die ab- und zuströmende Volksmasse in den buntesten Trachten - alles das gibt ein bewegtes Bild, auf welchem das Auge des Fremden nicht ungern ruht. Wenn man dann hundert Schritte davon eine Schar wilder Hunde den Leichnam eines gefallenen Pferdes zerreißen sieht und zehn Schritte davon wahrnimmt, wie ein alter Türke mit größter Gelassenheit sich das Ungeziefer vom Körper absucht und dasselbe, ohne es zu tödten, auf die Straße wirft, so regt sich freilich der Ekel; aber dergleichen gehört nun einmal zu den berechtigten Eigenthümlichkeiten in der Türkei.
 Den Hauptbestandtheil der Bevölkerung von Tultscha bilden Türken, Bulgaren und Russen, letztere besonders von der Sekte der Lipowaner; auch etliche deutsche Familien fehlen nicht. Die Stadt gilt zudem als Festung, vermuthlich wegen einiger alten Schanzen, die zu meiner Zeit sich in einem höchst kläglichen Zustande befanden, die aber auch ausgebessert einem den Donauübergang forcirenden russischen Heere wenig Widerstand leisten dürften. Die in den Schanzen hausenden türkischen Zuaven machten indessen keinen üblen Eindruck. Es waren kräftig gebaute Leute, meist aus Kleinasien gebürtig. Bescheiden in ihrem Auftreten, lebten sie mit Jedermann in Frieden; von Rohheiten habe ich nie gehört. Jeden Abend versammelten sie sich auf ihrem Exerzirplatz, verrichteten, auf den Mänteln knieend, ihre Abendandacht und schlossen dieselbe mit dem weithin schallenden Rufe: "Padischahmus tschok jaschah!" d. i. unser Padischah lebe lange!
 Etliche Stunden östlich von Tultscha erheben sich die letzten kahlen Ausläufer des Gebirges, die sogenannten Beschtepe, d. h. fünf Hügel. Der östlichste derselben trägt die Trümmer eines alten genuesischen Kastells, das wohl zum Schutz der Donaueinfahrt errichtet war. Die am Fuße der Beschtepe neu gegründete Stadt Mahmudieh kann nicht recht zum Leben kommen. Die übrigen Städte der Dobrudscha, außer Tultscha, sind ohne rechte Bedeutung. Babadagh am Rasimsee ist eigentlich nichts als ein schmutziger Trümmerhaufen.
 Im Norden schließt sich an die Dobrudscha das großartige Donaudelta an. Etwa eine Meile oberhalb Tultscha gabelt sich die Donau zum ersten Male. Von kompetenter Seite ist berechnet worden, daß von der ganzen Wassermasse des Stromes 15/27 in den nördlichen Arm, die Kilia, fließen, so daß für den Hauptstrom nur noch 12/27 übrig bleiben. Unterhalb Tultscha gabelt sich die Donau zum zweiten Male und zwar derart, daß 10/27 in den St. Georgsarm, den eigentlichen Hauptstrom, nach Südost weiter gehen, so daß für den mittleren Arm, die Sulina, nur 2/27 übrig bleiben. Und doch ist’s gerade die Sulina, welche, hauptsächlich wohl aus politischen Gründen, von der europäischen Donaukommission für die Schifffahrt hergerichtet worden ist. Von den Regulirungsarbeiten Kenntniß zu nehmen, gewährt das höchste Interesse. Als die Donaumündungen sich noch im russischen Besitz befanden, waren sie versandet und somit für größere Schiffe unzugänglich. Vor der Kilia und dem St. Georgsarm befinden sich noch kolossale Sandbänke, die tief ins Meer hineinreichen und jede Einfahrt unmöglich machen. Vor dem Ausfluß der Sulina hat man gegen 500 Schiffsleichen aufgefischt und mächtige Dämme und Molen tief ins Meer hinein gebaut, um das Versanden zu verhüten. Großartige Baggermaschinen arbeiten im Flusse selbst, um den erforderlichen Tiefgang herzustellen; außerdem sind verschiedene Durchstiche bei den Krümmungen des Stromes gemacht worden, so daß für Handel und Schifffahrt sich die größten Vortheile ergeben haben.
 Unmittelbar an der Mündung liegt das etwa 2000 Einwohner zählende Städtchen Sulina, ehemals berüchtigt als Sammelpunkt des rohesten Gesindels aus aller Herren Ländern und verrufen wegen der dort herrschenden Unsicherheit für Leib und Leben, so daß sich endlich der türkische Präfekt zu dem Erlasse genöthigt sah, es solle, bei strenger Strafe, "nicht alle Tage gemordet werden". Das Städtchen ist ganz auf Pfählen und eigentlich in Sumpf und Rohr hineingebaut. Auf der Spitze der großen Südmole erhebt sich der Leuchtthurm, an dessen Fuße die Wellen des schwarzen Meeres sich brechen, und von dessen Galerie man eine weite Rundschau genießt, östlich über das Meer, das noch meilenweit die gelbe Färbung des Donauwassers zeigt, westlich über das unabsehbare grüne Schilfmeer, das nur im Südwesten durch Beschtepe und die anderen Berge der Dobrudscha begrenzt wird.
 Das Delta selbst ist, wie schon angedeutet, ein fast undurchdringlicher Wald von haushohem Schilf und Rohr, nur daß hier und da auf einer erhöhten Stelle ein elendes russisches Dorf liegt, um welches sich nasse Kukuruz=(Mais-)Felder lagern. Da ist denn auch wohl ein Weg durch das Rohr geschlagen, der indessen nur bei trockenem Wetter passirbar ist. Bevölkert ist dies Delta mit Millionen von Pelikanen, wilden Gänsen, Enten und anderen Wasser- und Sumpfvögeln; doch fehlt es auch nicht an Rohrwölfen, die im Winter bei hohem Schnee, vom Hunger gepeinigt, selbst den Dörfern gefährlich werden können. Während des Winters wird an verschiedenen Stellen das Rohr angezündet, so daß man, auf der Höhe von Tultscha stehend, das Biwak eines großen Heeres oder gar eine Reihe brennender Ortschaften vor sich zu haben glaubt - ein Anblick, der namentlich des Abends an Großartigkeit seinesgleichen sucht. Nebenbei sei bemerkt, daß das getrocknete Rohr in dem holzarmen Bessarabien als einziges Feuerungsmittel gebraucht wird. Eine Fahrt durch das Delta wird mir unvergeßlich sein. Ich hatte - es war am 6. Januar 1867, nach altem Stil am 25. Dezember, also am orthodoxen Weihnachtsfeste - in Ismail, jener alten Türkenfestung an der Kilia (jetzt zu Rumänien gehörig), bei der dortigen deutschen Kolonie Gottesdienst gehalten, war am folgenden Tage unter den Nachwehen eines schrecklichen Schneesturmes mit Lebensgefahr im kleinen Kahn über die wild aufgeregte Kilia gesetzt und fuhr nun auf dem halbverschneiten Rohrwege quer durchs Delta auf Tultscha zu, nicht wenig beunruhigt durch das ferne Heulen der Wölfe und durch die schnell hereinbrechende Nacht. Plötzlich sah ich mich sammt Kutscher, Pferden und Wagen in eine dichte Rauchwolke eingehüllt, und kaum fünfzig Schritte seitwärts schlug eine helle Flamme empor, die sich mit rasender Geschwindigkeit näherte. Ausweichen war unmöglich wegen des dichten Rohrs; so mußte ich mich der Schnelligkeit meiner Pferde überlassen, die denn auch, mehr springend als laufend, durch den tiefen Schnee davonjagten; aber wenige Schritte hinter mir schlugen die Flammen über dem Wege zusammen.

in: Daheim: ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, vom 21.4.1877, S. 473-476

Leprosorium Tichilești

Mariborer Zeitung, 6.7.1932 Nr. 177 S. 2

Ein Zeitungsartikel über die Leprakranke in Bessarabien 1932 rückte die Orte  Tichilești  in der Dobrudscha und Lărgeanca (Larschanka) im Budschak in meinen Focus.

Man könnte meinen, bei Lepra handelt es sich um eine „ausgestorbene“ Krankheit in Europa und es gäbe vielleicht noch Einzelfälle irgendwo in Afrika oder Indien. Doch weit gefehlt.

Die Erkrankung, die unsere Vorfahren nicht nur im Mittelalter plagte, oder Auswanderer nach Russland, ist noch heute in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion verbreitet. 25 % aller Leprakranken der ehemaligen Sowjetunion leben in Kasachstan.1

Endemisch rund um den Aralsee vorhanden, gründete man südöstlich des Aralsees am Fluss Syrdarja das Kas-Leprosorium. In Usbekistan sind südlich des Aralsees Erkrankte im Krantau-Leprosorium am Fluss Amudarja untergebracht und im Bachmal-Leprosorium bei Samarkand. Die Stadt Astrachan besitzt ebenfalls ein Leprazentrum.

Ein weiteres Lepra-Endemiegebiet ist Pamir, ist rund 500 km entfernt, dort befindet sich das Leprosorium Hanaka. Ukrainer nutzen das Leprosorium Kutschurgan, an der Grenze zu Moldawien. Im Nordkaukasus befinden sich das Abinski-Leprosorium und das Terski-Leprosorium. Bei Moskau findet sich das Leprosorium Sielonaja Dubrawka in Siergiev Posad.

Zudem war und ist die Lepra im Baltikum endemisch, auch dort bestanden und bestehen zahlreiche Leprosorien, wie Talsi Lettland, Kuuda/ Estland oder Memel (Klaipeda) Litauen.

Diese kurze Aufzählung sollte genügen, um uns bewußt zu machen, wie aktuell diese Erkrankung in dieser Region noch immer ist.


In einer medizinischen Fachzeitschrift 1827 wurde Folgendes geschrieben:

„Dr. Chr. Heiberg über die Spedalskhed, eine Norwegische Ausschlagkrankheit. Sie kommt nur in der Gegend von Bergen, doch sehr verbreitet, vor, wurde von Fabricius irriger Weise Aussatz (Lepra) genannt. Sie ist nicht mit der im Stift Christiansand herrschenden Raudenseuche, (Radesyge) zu verwechseln. Dr. H. hält sie für eine Species der Elephantiasis, und unterscheidet 3 Abarten, die schuppige, die knollige und die glatte. Die Monate, ja Jahrelang dauernden, mehr oder minder zunehmenden Vorboten sind: Gefühl von Mattigkeit, Schwere, innere Kälte, Schlaflosigkeit, Jucken der Haut, später vollkommene Fühllossigkeit der Gliedmaassen. Die, die Krankheit selbst charakterisirenden Erscheinungen sind nach den Abarten verschieden, doch dauern die Vorboten während der Krankheit fort. Bei der Schuppigen trocknet im Anfang die Haut von Füssen und Händen aus zusammen; nach einiger Zeit erscheint auf den Extremitäten ein trockner, flechtenartiger Hautausschlag mit kleienartiger Abschuppung, öfters verschwindend, und wiederkehrend, heftig juckend, sich ausbreitend, und endlich bleibende, breite, beinahe zolldicke Borken bildend. Zugleich entstehen Drüsengeschwülste, chronische Conjunctivitis, später Pannus und Leucoma; die Augenbraunen fallen aus, der Kranke bekommt eine ganz eigenthümliche Physiognomie; Finger und Zehengelenke schwellen an, die unterliegenden Knochen werden cariös und ganze Glieder, mitunter alle Finger und Zehen fallen ab. Selten klagen die Kranken über eigentliche Schmerzen, und befinden sich im Winter besser als im Sommer. Die 2te Art kündigt sich durch kleine, allmählig sich vergrössernde Flecken an, die entweder in Knollen oder in Geschwüre übergehen. Oft jedoch bemerkt man beide letztern ohne vorhergegangene Flecken. Die Knollen zeigen sich gewöhnlich zuerst an den Augenbraunen und verbreiten sich von da weiter; aber immer sind der behaarte Theil des Kopfes und der Rumpf frei davon. Sie sind veilchenblau, braun, oder grau, immer glänzend, von der Grösse einer Haselnuss bis zu der eines Eies. Lippen und Gesicht, Finger und Zehen, mitunter Beine und Vorderarm, sehr selten Schenkel und Oberarm, sind geschwollen; die angegriffenen Theile gefühllos; Geruch und Geschmack gehen, verloren, das Gesicht, leidet wie bei der vorigen Art, Schlucken und Athmen ist erschwert, letzteres bis zum Ersticken, die Sprache wird unverständlich, Husten kommt dazu, Geschwulst und Knollen breiten sich bis in die Luftröhre aus, und der Kranke stirbt durch Erstickung oder aus Marasmus. Die Geschwüre, welche bisweilen auch bei der schuppigen Art vorkommen, sind von besonderer Gestalt; man bemerkt sie am häufigsten an den Gliedmaassen. Bei der glatten (seltnern) Abart ist die Haut eben, trocken, wie verhärtet. Geschwüre und Caries kommen auch hier vor. Auf eigene Art leiden hierbei die Augenlider, so dass ein sonderbares Hasenauge entsteht. Das untere Augenlid wird verkürzt, nach aussen gekehrt, das Schliessen der Augenlider dadurch unmöglich und der Augapfel beim Schlafen unter das obere Augenlid gebracht, wodurch das Auge begreiflich sehr leidet, und der Kranke bald blind wird. – Ein eigenthümlicher widerlicher Geruch des ganzen Körpers, besonders der Geschwüre und des Athems lässt die Krankheit auch leicht erkennen.“2

Tatsächlich handelte es sich um Lepra. Die übliche Behandlung der „Aussätzigen“ war das Verstoßen aus der Gemeinschaft. Zerlumpt und bettelnd zogen die Erkrankten durch das Land. Als Zeichen ihrer Erkrankung war es üblich, neben der dunklen Kleidung einen Stock, eine Betteltasche und eine Klapper oder ähnliches mitzuführen, um andere Menschen zu warnen, wenn man sich näherte.

Um das Umherziehen und eine Verbreitung zu verhindern, wurden Leprosorien eingerichtet. Hier lebten die Erkrankten, meist dürftigst versorgt und isoliert.

In Rumänien und Bessarabien war die Lepra nicht nur verbreitet, die Zustände für die Erkrankten waren elendigst. Sie waren nach Lărgeanca verbannt und wurden sehr schlecht versorgt, ärztliche Behandlung fand praktisch nicht statt. Vor Hunger in die Umgebung auf den Feldern nach Nahrung suchend, wurden sie von den Bauern mit Dreschflegen und Heugabeln vertrieben. Oft flüchteten sie zurück nach Hause und steckten dort weitere Familienmitglieder an.

Victor Babeș3

Der Arzt Victor Babeş (1854-1926) befasste sich mit der Krankheit intensiv und veröffentlichte einige Schriften in seiner Heimat Rumänien. Da ab 1898 vom rumänischen Staat ein Zwang zur Registrierung eingeführt wurde, erstellte Babeș eine Karte zur Verbreitung der Erkrankung.

Das im Jahre 1900 offiziell gegründete Leprosorium Tichilești wurde von den Bulgaren im ersten Weltkrieg bombardiert, als sie die Region Dobrudscha übernahmen.

Das ehemalige Kloster Tichilești war seit 1875 bereits eine inoffizielle Leprakolonie und erhielt 1928 ein eigenes Krankenhaus. Zudem entstanden in den 1930ern kleine Häuser und ein Innenhof.

Möglich machte das der Bericht des Reporters Filip Brunea-Fox „Fünf Tage unter Leprakranken“4, der die skandalösen Zustände in Lărgeanca offen legte und die Bevölkerung für das Drama sensibilisierte, das sich 8 km von Ismail gelegen in der Steppe abspielte.

Die Zustände in Lărgeanca wurden derartig unzumutbar, da sich durch die Zerstörung Tichileștis immer mehr Erkrankte dort einfanden. Im Jahre 1924 überfielen die hungernden Kranken ein Lipowanerdorf am Weihnachtstag11, da sie bei 30°C unter Null bereits die Grabkreuze ihres Friedhofes als Feuerholz nutzen mussten und nun vor dem Erfrieren standen, da ihnen von den Behörden keinerlei Unterstützung zuteil wurde. Durch diesen Überfall wurden Dorfbewohner infiziert und erkrankten ebenfalls.

2. Beiblatt der Danziger Volksstimme 19325
Mariborer Zeitung 19336

Brunea-Fox besuchte die Kolonie im August 1928 und musste sehen, wie wenig sich das Gesundheitsministerium um die Versorgung der Patienten kümmerte. Die Rationen sollten täglich aus 1 kg Brot, 250 g Tee oder Milch, zwei Suppen und zwei Stücken Fleisch (250g) bestehen. Der Satz für einen Patienten wurde von 1918 bis 1928 von 16 auf 20 Lei angehoben, der Brotpreis lag jedoch bereits bei 12 Lei/kg, das Kilogramm Fleisch bei 30 Lei. Gemüse, Obst, Zucker, all das war ebenso wenig in der Ration, wie tägliches Fleisch, die ärztlichen Empfehlungen lagen bei 2.500 kcal, wurde jedoch weit unterschritten.

Wirksame Medikamente wurden aus Kostengründen nicht verabreicht, die hygienischen Umstände waren katastrophal. Der Kostensatz zur Unterbringung von 40 Patienten pro Haus musste nun für 60 reichen.

Dr. Ion Tuchel erklärte dem Reporter, dass die Kranken ein Ansteckungsrisiko darstellen würden. Seine Empfehlung war Tichilești, da der Ort vollständig isoliert liegt und die Lebensbedingungen für die Patienten besser wären, als in der Steppe bei Ismail.

Tatsächlich gab es Wasser, Obstbäume, günstige klimatische Bedingungen, was in Lărgeanca fehlte.

Natürlich wären die Behörden, in deren Zuständigkeit die Versorgung dieser Patienten fällt, verpflichtet, entsprechende Bedingungen zu schaffen. Der Staat verwies daher die Kranken letztlich 1928 nach Tichilești.

In Tichilești wurde die Isolierung strenger durchgeführt, die Lage der Verbannten verbesserte sich jedoch nicht. Als erneut Lebensmittellieferungen aus blieben, entwichen Insassen und lösten 19325 und 19336 in Bessarabien eine Panik unter der Bevölkerung aus, als sie vor dem Bezirksamt erschienen, um zu protestieren.

Mariborer Zeitung 19357
Mariborer Zeitung 19388

Das Anwachsen der Erkrankungsfälle durch das ständige Entweichen der Erkrankten sorgte dafür, das ein neues Leprosorium geschaffen werden sollte, diesmal in Siebenbürgen. Die Stimmung in der dortigen Bevölkerung war nach Bekanntwerden dieser Pläne 1935 entsprechend ablehnend.7

Daher änderte sich auch weiterhin nichts an der Lage der Leprakranken, wie man an einem weiteren Hungermarsch 1938 sehen konnte.8

Mit dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges 1939 und der veränderten politischen Lage ab 1945 geriet die Leprakolonie Tichilești immer mehr in Vergessenheit. Im sozialistischen Rumänien schlicht nicht „existent“ und mit dem Ende der Volksrepublik bis heute als „Schandfleck“ Rumäniens angesehen, weiß kaum jemand um die letzten verbliebenen Bewohner. Sie haben in den letzten Jahrzehnten und ärmlichen Bedingungen gelebt, geliebt, Familien gegründet, ihre Toten begraben.

Von ihrer kleinen Invalidenrente könnten die Bewohner heute nicht an einem anderen Ort überleben, in Tichilești sind Essen und Behandlung gesichert, auch aus diesem Grund bleiben die letzten Bewohner.

Quelle: youtube Mike Mihai „The only Leprosy Hospital from Europe (singura leprozerie din Europa)“


Anlässlich des Welt-Lepra-Tags, ein internationaler Gedenk- und Aktionstag, welcher jährlich am letzten Sonntag im Januar begangen wird, berichtete die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe im Epidemologischen Bulletin 4/2017 über die aktuelle Situatin weltweit. Lepra wird durch Mycobacterium leprae hervorgerufen. Während der langen Inkubationszeit (9 Monate – 20 Jahre) können unterschiedliche klinische Symptome mit Hauterscheinungen und Nervenschädigungen auftreten, die zu Sensibilitätsstörungen und Lähmungen führen können.

Pro Jahr werden über 210.000 Lepra-Erkrankungen an die Weltgesundheitsorganistaion9 gemeldet, wobei nicht alle Länder die tatsächlichen Zahlen melden. Auch in Deutschland10 wird die Erkrankung in einzelnen Fällen eingeschleppt. Aufgrund fehlender Erfahrung und Unsicherheiten im Umgang mit dieser Erkrankung wird die Diagnose oft zu spät gestellt, damit die Behandlung verzögert.


1Romana Dabrik: Ehemalige Sowjetrepubliken: Lepra – eine Krankheit der Gegenwart, PP 1, Ausgabe Oktober 2002, Seite 454 in Ärzteblatt Oktober 2002

2Hrsg.: Carl Ferdinand Kleinert: Allgemeines REPERTORIUM der gesammten deutschen medizinisch – chirurgischen Journalistik. III. Heft. März. Leipzig, 1827. Bei Ch. E. Kollmann. S. 50f

Bild Fig. 20 aus: Victor Babeş, Die Lepra, Alfred Holder, Vienna, 1901 (available through the Bucharest City Library DacoRomanica archive public domain

Karte Verbreitung Lepra in Rumänien 1897 in:  Victor Babeş, Lepra in Rumänien, Berlin, 1904 (available through the Bucharest City Library DacoRomanica archive public domain

3Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 66-68 poblic domain

4Filip Brunea-Fox: Cinci zile printre leprosi in Reportajele mele. 1927-1938

5.2. Beiblatt der Danziger Volksstimme 18.8.1932

6.Mariborer Zeitung 8.8.1933 S. 3

7Mariborer Zeitung 14.11.1935

8Mariborer Zeitung 11.8.1938

9WHO Epidemiological situation, burden and distribution 2015

10Situation in Deutschland: RKI Jahresstatistik nach Bundesland für 2016 (PDF, 3 MB, Datei ist nicht barrierefrei)

11Mariborer Zeitung, Weihnachten 1929

Dobrudscha

Eine fast vergessene Minderheit mit 100 Jahren deutscher Siedlungsgeschichte


Karte Paul Langhans 18972

Um dem inzwischen immer knapper werdenden Böden zu entfliehen, der den Nachkommen der ersten Kolonisten nicht mehr ausreichte, um sie zu ernähren, kamen zwischen 1840 und 1856 die ersten Siedler aus Bessarabien und den südrussischen Gouvernements Cherson, Ekaterinoslav und Taurien in die damals osmanische Dobrudscha, einer fruchtbaren Landschaft zwischen dem Unterlauf der Donau und dem Schwarzen Meer, in der Antike von Römern besiedelt, 1396 osmanisch besetzt, bevölkert von den verschiedensten Ethnien wie Tataren, Türken, Rumänen, Bulgaren und Roma.

 „Eine durch Landmangel verursachte Notlage, die durch wirtschaftliche Rückschläge mannigfacher Art wie Fehlernten, Viehsterben und Heuschreckenplage sich bedeutend verschärft hatte, zwang vom Jahre 1841 an zahlreiche deutsche Bauern, meist jüngeren Alters, ihre in Bessarabien und im Gouvernement Cherson gelegenen Wohnsitze zu verlassen und sich auf Wanderschaft zu begeben, um Land zu suchen, ohne allerdings zunächst zu wissen, wo solches zu finden sei.“ 1

Meist reisten einzelne Familien, die der „Mund – zu – Mundpropaganda“ folgten, sich hier und da umsahen und einen ansiedlungswürdigen Ort auf ihrer Wanderschaft suchten. Auf ihrer Suche, die auf die bulgarischen Seite der Donau, in die Moldau und die Große Walachai (Muntenia) ebenso führte, wie in die Steppen Ungarns, durchquerten sie immer wieder die Dobrudscha.

Im Herbst 1841 erreichten einige Siedler aus Beresina und Leipzig (Bessarabien), die Region, überwinterten in Mecin und ließen sich 1842 für etwa 6 Jahre in dem türkischen Dorf Akpunar nieder.

Im Reglement der türkischen Regierung betreff der Kolonisten in der Türkei war in Artikel 3 folgendes verordnet:

“Wie allen übrigen Untertanen des Reiches ist den Kolonisten die freie Ausübung ihrer Religion ohne irgendeine Beeinträchtigung gestattet. Sie sollen ohne Unterschied in denselben Genuss religiöser Privilegien treten, den alle übrigen Untertanenklassen des Reiches geniessen. Wenn sich in den Ortschaften, die ihnen von der Regierung zur Ansiedlung angwiesen werden, genug Kirchen ihres Ritus befinden, so werden sie in diesen ihre Andacht halten. Diejenigen, welche sich neue Ortschaften gründen, werden nach einem Bittgesuch an die Regierung von derselben die Erlaubnis erhalten, die nötigen Kirchen zu bauen”. 3

Die deutschen Einwanderer mussten sich schriftlich verpflichten, dieses Reglement anzuerkennen und sich allen darin enthaltenen Bedingungen zu unterwerfen.

Rund 6.0004 Bessarabiendeutsche kamen 1842, bald entstanden weitere kleine Dörfer wie 1843 das katholische Malkotsch (Malcoci) bei Tultscha (Tulcea), gegründet von Siedlern aus den Cherson oder 1848 das evangelische Atmadscha (Atmagea). Die größte Siedlung war Karamurat, heute Mihail Kogălniceanu bei Konstanza.

Die Kolonie Jakobsohnstal bei Braila in der Muntenia wurde ab 1850 eine wichtige Station auf diesem Weg, die Gründung wurde durch einen Balten, in rumänischen Staatsdienst stehend, möglich.

Nach dem Ausbruch des Krim-Krieges im Jahre 1854, zogen vermehrt Siedler in die Dobrudscha, um sich vor dem drohenden Militärdienst in Sicherheit zu bringen. Zu dieser Zeit erreichten auch viele Ansiedler aus Jakobsohnstal Cataloi und Ciucurova (1850), welche durch schwere Überschwemmungen vertrieben worden waren.

Mit der Rücknahme der Privilegien und der Auflösung des Fürsorgekomitees für die Kolonisten Südrusslands im Jahre1871 wurden die Kolonisten auf die gleiche Stufe wie alle anderen Untertanen des russischen Reiches gestellt, dem nun abzuleistenden Militärdienst versuchten viele zu entfliehen durch Umsiedlung in die Dobrudscha. Im Süden entstanden so Cogealac, Tari Verde, und Fachria.

Im Frühjahr 1876 kamen etwa dreißig Familien aus der bessarabischen Kolonie Krasna, sie wurden in dem tatarischen Dorf Karamurat (Ferdinand I) angesiedelt. Familien aus dem Cherson gründeten Anfang der 1880er Jahre Cololia.

Nach dem Krieg von 1878 bis 1879 kamen Familien aus den nördlichen Kolonien der Dobrudscha, um in Anadolchioi bei Constanta zu siedeln. Die Dobrudscha war jetzt Teil Rumäniens, durch diese Gebietsänderung gab es ein neues Hindernis, Land konnte nur erwerben, wer rumänischer Staatsbürger war. Im Jahr 1880 wurde ein ehemaliges Tatarendorf neu besiedelt und nannte sich Horoslar (Cocos). Die Siedler kamen aus Bessarabien und Jakobsohnstal. Zu diesen Siedlern gehörte auch David Gäckle mit seiner Familie, dessen Vorfahren um 1803 ihren Heimatort – und Herkunftsort meiner Geckle Vorfahren – Bernbach verließen, um über Westpreußen nach Russland auszuwandern.

Ein weiteres Tatarendorf bekam eine deutsche Kolonie, Cogealia, die Bewohner waren schwäbischen Familien aus dem Cherson. Diese Einwanderungswelle hielt etwa bis 1883 an.

Mit dem Zwang zur Unterrichtung in russischer Sprache ab 1890/1891 und weiteren Einschnitten in die Unabhängigkeit der Kolonisten begann eine dritte Auswanderungswelle. Tausende von deutschen Kolonisten wanderten nach Amerika aus, andere folgten den Werbungen der rumänischen Regierung. So entstand Cobadin, Sarighiol (Albesti) wurde im Jahre 1890 gegründet, unter seinen Bewohnern ehemalige Siedler deutschen Kolonien im Kaukasus. Neue Weingärten (Viile-Noi) entstand im Jahre 1892 durch Siedler aus Russland und bereits bestehenden deutschen Kolonien in der Dobrudscha.

Rumänisches Wappen (erstellt vom Autor): im Uhrzeigersinn v.l.o. Große Walachei, Moldau, Dobrudscha, Kleine Walachei

Die Entstehung von Tochterkolonien, Karatai, Alakap, Sofular, Agemler, Mangeapunar, Telchirghiol (1907), Gross-Pallas, Bratianu, Ciobancuis, Ali-Anife, Bezargic und Karali ist auf die Jahre 1893 – 1939 zu datieren, ihr größtes Problem lag in der Beschaffung von Eigentumsland. Im Jahr 1892 zogen zwanzig Familien aus den alten Nachbarkolonien Amagea und Ciucurova auf der Suche nach Land nach Süden und blieben im türkischen Dorf Mamuslia (Caescioarele), welches während des Krieges zerstört worden war. Die meisten Bewohner waren bereits in der Dobrudscha geboren und hatten das Glück, 25 ha Land pro Familie mit einer Pachtzeit von 30 Jahren zu erhalten.

In den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war vor allem aus Bessarabien ein weiterer Zuzug in die vorhandenen deutschen Kolonien zu verzeichnen.

Salzburger Volksblatt vom 24.10.1940 S.2

Zur Umsiedlung 1940 lebten etwa 14.000 – 15.000 Dobrudschadeutschen an der Küsten des Schwarzen Meeres. Unter ihnen etwa 2.100 Deutsche, deren Vorfahren aus Bulgarien (vor allem aus Bardarski geran Region Vratsa, Tsarev brod Region Schumen und Dobrovo Region Dobritsch) zwischen 1878 und 1900 einwanderten.

Eine Volksgruppe, welche ein sehr religiöses, dafür kein entwickeltes politisches Leben führte. Erst 1931 schloß sie sich den politischen Strukturen der deutschen Minderheit in Großrumänien an.

Die Dobrudschadeutschen galten als ein wohlhabendes Bauernvolk,  4/5 der Erwerbstätigen waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Die bis 300 ha großen Höfe waren gut ausgestattet und in hohem Maße mechanisiert.5

„Trotz der günstigen Bodenverhältnisse führte der große Geburtenüberschuss unter den Dobrudschadeutschen dazu, dass die in der Region übliche Realteilung zu einer zunehmenden Verarmung unter den Siedlern führte. Die immer kleiner werdenden Grundstücke konnten ihre Besitzer nicht mehr ernähren. Sie stellten zunehmend ein soziales Problem dar. Mehr als 40 % der Dobrudschadeutschen waren im Umsiedlungsjahr 1940 landlose Bauern….Besonders problematisch erwies sich, dass die Deutschen in der Region kein Land kaufen durften, selbst wenn die finanziellen Mittel vorhanden waren…So besaß etwa ein Viertel der dobrudschadeutschen Landwirte nur zwei bis fünf Hektar Boden. Großgrundbesitzer mit mehr als 50 Hektar Boden waren unter den Dobrudschadeutschen nur selten.“ 6

Da vor allem die landlose Bevölkerung den Wunsch nach Umsiedlung hatte, war es für Gauobmann Johannes Klukas mit seiner Politik des „Heim ins Reich“ leicht, die Bevölkerung zu überzeugen, trotzdem zogen nicht alle mit, vor allem jene, die nicht mit Deutschen verheiratet waren, aber auch Alte und Kranke blieben nach 1945 in Rumänien und Bulgarien.


  1. Hans Petri, Geschichte der deutschen Siedlungen in der Dobrudscha. Hundert Jahre deutschen Lebens am Schwarzen Meere, Verlag des Südostdetschen Kulturwerks München 1956
  2. Paul Langhans – Deutsche Kolonien im Osten II. Auf slawischem Boden. Aus Langhans Deutscher Kolonialatlas, Karte Nr. 7. Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897, veröffentlicht vom Antiquariat Elke Rehder
  3. Traeger, Paul: Die Deutschen in der Dobrudscha: zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Wanderungen in Osteuropa; Stuttgart: Ausland u. Heimat Verl.-A.G., 1922
  4. Otto Freiherr von Dungern: Rumänien, Perthes‘ Kleine Völker- und Länderkunde Bd. II, Gotha 1916, S. 15 ff.
  5. Otto Klett: Die Dobrudschadeutschen, in: Jahrbuch der Dobrudschadeutschen Band 20 (1975), S. 20-34.
  6. Mitteilungsblattes der Bessarabiendeutschen Vereins 7/2013  Dr. Josef Sallanz: „100 Jahre zwischen Donau und Schwarzem Meer. Kurzer Überblick zur Geschichte der Dobrudschadeutschen.“

Weiterführend die private Geschichte der Familie Kosolowski – von Pommerellen über Bessarabien bis in die Dobrudscha

Lied: Kommt ihr Brüder, wir wollen ziehen → Edition F: Dobrudscha / BRD 1955

Heim ins Reich

Zwangsmigrationen in Europa 1938-1948


Bereits Anfang 1936 umriss Reichsbauernführer Walther Darré vor regionalen Mitarbeitern (Fachberatern) des Reichsnährstandes recht konkret die deutschen Eroberungspläne:

„Der natürliche Siedlungsraum des deutschen Volkes ist das Gebiet östlich unserer Reichsgrenze bis zum Ural, im Süden begrenzt durch Kaukasus, Kaspisches Meer, Schwarzes Meer und die Wasserscheide, welche das Mittelmeerbecken von der Ostsee und der Nordsee trennt. In diesem Raum werden wir siedeln, nach dem Gesetz, daß das fähigere Volk immer das Recht hat, die Scholle eines unfähigeren Volkes zu erobern und zu besitzen.[…] Ein solches politisches Ziel muß auf den deutschen Bauernhöfen von Mund zu Mund weitergereicht werden, muß auf unseren Bauernschulen eine selbstverständliche Grundlage des Unterrichts sein. Dann wird auch eines Tages das Volk demjenigen Staatsmann folgen, der die sich ihm bietenden Möglichkeiten ergreift, um unserem Volke ohne Raum den Raum nach dem Osten zu öffnen.“

Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. München 2008, S. 238.

Dabei plante man die Ausrottung der Intelligenz in den eroberten Gebieten und die Versklavung der übriggebliebenen Bevölkerung. Dieses Ziel wurde religiös, sozialdarwinistisch und rassistisch begründet, so äußerte der Leiter der DAF, Robert Ley, vor dem Fachamt der DAF „Der Deutsche Handel“ am 17. Oktober 1939:

„Wir können unseren Auftrag nur daher nehmen, dass wir sagen, es ist von Gott gewollt, dass eine höhere Rasse über eine mindere herrschen soll, und wenn für beide nicht genügend Raum ist, dann muß die mindere Rasse verdrängt und, wenn notwendig, zum Vorteil der höheren Rasse ausgerottet werden. Dasselbe gilt von dem Starken und dem Schwachen. Die Natur rottet überall das Schwache und Ungesunde zugunsten des Starken und Gesunden aus. Der gesunde Hirsch stößt den kranken, und der gesunde Elefant zertrampelt den kranken. Wir aber haben jedoch für 2000 Jahre aus Mitleid Kranke erhalten, das Minderwertige gepäppelt und gepflegt und zu dessen Gunsten das Höhere sich nicht entfalten lassen. Aus diesen Gedanken, aus dieser Idee kommt unser Auftrag. Deshalb verlangen wir Boden.“

Helmut Krausnick, Harold Deutsch (Hrsg.): Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940. Stuttgart 1970, S. 576

In ganz Ost- und Südosteuropa gab es deutschsprachige Bevölkerungsgruppen, deren Vorfahren teilweise seit dem Mittelalter dort gesiedelt hatten. Das Ziel der Nationalsozialisten war eine „Neuordnung Europas“, wie es im „Generalplan Ost“ (1941) formuliert wurde, um diese sogenannten „Volksdeutschen“ in einem ethnisch homogenen Deutschen Reich zusammen zu bringen, dessen  Siedlungsgebiet bis zu einer Linie von der Krim bis Leningrad gedacht war.

Um diese Pläne umzusetzen, wurden ab 1938 Territorien annektiert (Österreich, Sudetenland) und ab 1939 erobert.

Zweiter Weltkrieg in Europa, kleine Animation3

rot Alliierte und UdSSR seit 1941 grün UdSSR bis 1941  blau Achsenmächte und Vichy-Regime  grau neutral

Zugleich sollten die deutsche Minderheiten „heim ins Reich“ gebracht werden. Diese „Splitter des deutschen Volkstums“ wurden als „nicht haltbar“ (Hitler am 6. Oktober 1939) angesehen und sollten in geschlossen deutsch besiedelte Gebiete „zurückgeholt“ werden. Basis dieser geplanten Umsiedlungen („Bevölkerungstausch“) waren zunächst Verträge wie das Münchner Abkommen (1938) im Rahmen der Zerteilung der Tschechoslowakei, nach dem Einmarsch in Polen folgten Verträge mit Italien und weiteren ost- und südosteuropäischen Staaten sowie der Hitler-Stalin-Pakt. Dieser wurde um den Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag4 ergänzt, welcher die Umsiedlung der Bessarabiendeutsche, Deutsch-Balten und Bukowinadeutschen ermöglichen sollte.

Insgesamt waren über 900.000 „Volksdeutsche“ von den Umsiedlungen betroffen, die in 1.375 Lager verteilt wurden14. Der propagandistische Aufwand war gewaltig, ein spezialisierter bürokratischer Apparat (RFSS)5 wurde geschaffen, der vom „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums„, Heinrich Himmler, geleitet wurde. Anfangs waren die Betroffenen vor die Alternative gestellt, sich entweder für die deutsche Staatsangehörigkeit und damit für die Umsiedlung ins Deutsche Reich zu entscheiden oder aber in ihrer Heimat zu bleiben und damit ihr „Deutschtum“ aufzugeben, nach Kriegsbeginn nahm der Zwang zur Umsiedlung immer weiter zu.

in: Bericht über den Stand der Um- und Ansiedlung am 1.7.19426

Die geplante Ansiedlung erfolgte jedoch in den wenigsten Fällen auf dem Territorium des deutschen Reichs, die meisten kamen nach mehrmonatigen Lageraufenthalten in die dem Deutschen Reich angegliederten bzw. eroberten Gebiete, die Bessarabiendeutschen vorrangig in den polnischen „Warthegau“, wo sie die „Eindeutschung“ vorantreiben sollten. Angesiedelt wurde u.a. auf Bauernhöfe von zuvor vertriebenen Polen.

Viele der in Osteuropa angesiedelten waren mit der herannahenden Front zum Kriegsende bzw in den ersten Nachkriegsjahren ein weiteres Mal von erzwungener Migration betroffen und wurden zu Flüchtlingen, Repatriierten oder Vertriebenen.

In Gebieten, die während des Krieges zum Großdeutschen Reich gehörten und mit dem Ende des Krieges zu Territorien Polens, der Tschechoslowakei oder Jugoslawiens wurden, entstand zunächst ein verwaltungsloser Raum, in dem Willkür und Gewalt herrschten. Am 2. August 1945 wurde in Potsdam die ethnische und territoriale Neuordnung Europas beschlossen: Polen und Deutschland verloren durch die Beschlüsse der Alliierten ihre Ostgebiete. Die sich bereits in vollem Gang befindenden massenhaften Bevölkerungsverschiebungen sollten kontrolliert, organisiert und legalisiert werden. Neben dem Beschluss zum „Transfer“ der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn war die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze von Bedeutung.

Karte: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Da die Umsiedlungspläne der alliierten Großmächte bekannt waren, kam es vor allem in Polen und in der Tschechoslowakei13 zu willkürlichen gewaltsamen Vertreibungen und Misshandlungen von Deutschen, die erst zwischen dem Sommer und Winter 1945 unterbunden werden konnten.

Entsprechend dem im Herbst 1945 erstellten Plan des Alliierten Kontrollrates wurden im Jahre 1946 und zum geringen Teil zwischen 1947 und 1949 unter der administrativen Kontrolle der alliierten Regierungen Zwangsumsiedlungen von rund 4,8 Millionen Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Ungarn durchgeführt. Sie wurden in überwachten Transporten größtenteils in die amerikanische, britische oder in die sowjetische Besatzungszone gebracht, und dort zum Teil wie zu Zeiten der  „heim ins Reich“ Aktion in Lagern untergebracht.

Passauer Neue Presse vom 18.06.1946
Alltag in einem Gemeinschaftsraum im Flüchtlingslager „Schlotwiese“ in Stuttgart-Zuffenhausen; Bildquelle: Haus der Geschichte Baden- Württemberg, Sammlung Weishaupt

Über die Lager der bessarabiendeutschen Umsiedler vor 1945 ist allgemein nicht viel bekannt, es fallen durch Familienberichte einzelne Namen, die Recherche zur Historie ergibt jedoch ein perfides System der menschenverachtenden Vernichtung im Dritten Reich.

Es gab etwa 2507 „Umsiedlerlager“ die den Menschen über Monate, teilweise Jahre, Unterkunft bieten sollten. Hier wurde im Rahmen der „Schleusung“ sortiert, wer nach den Gesichtspunkten der damaligen Ideologie ansiedlungswürdig war und wer nicht. Genaueres dazu habe ich in unserer Familienhistorie zum Thema Umsiedlung berichtet.

An dieser Stelle möchte ich auf die Geschichte einiger dieser Lager verweisen, die sich u. a. in Bayern (z.B. Kloster Niederaltaich, Schloss Werneck, Dobrudschadeutsche in Burg Rothenfels, Leiders bei Aschaffenburg), der „Ostmark“ (u.a. Kloster Göttweig; Kloster St. Anna Ried im Innkreis, Österreich), für Dobrudschadeutsche in Rohrau und Gemünd  (Niederdonau), Gablitz (Wien), Feldbach (Steiermark), Obersiebenbrunn [Karamurater], Mährisch-Kromau [Mamuslier], Schloß Kranichberg oder Ybbs an der Donau 8 befanden.

Im „Sudetengau“ wurden ca 25.000 Umsiedler in Lagern untergebracht, deren größten lagen in Asch, der Schuhfabrik „Humanik“ in Saatz, Hartessenreuth und in Suchenthal.Schlackenwerth an der Eger nahm Dobrudschadeutsche auf. Da sich 88 Männer und 12 Frauen aus Malkotsch nicht einbürgern lassen, sondern in die Heimat zurück kehren wollten, wurden sie in das Konzentrationslager Flossenbürg gebracht, die Frauen schaffte man zeitgleich in das KZ Ravensbrück. Vom 2. Juli bis 17. Oktober 1942 wurden sie dort „behandelt“, am 18. Oktober erhielten sie eine „2. Chance“ und waren nun „bereitwillig“ zur Einbürgerung.

Württemberg hatte 11 Umsiedlerlager für rund 5.000 Menschen aus Bessarabien.9    In Sachsen waren Pariser in diesen Lagern:

Weitere Lager10 11 in Sachsen waren:

  • Lager 8 Possendorf, Dresden A.28
  • Lager 51 Bischofswerda
  • Lager 56 Reichels Neue-Welt, Chemnitz
  • Lager 77 Rosener Hof, Meißen
  • Lager 97 Auerbach, Vogtland
  • Lager 106 Jugendheim Glauchau
  • Lager 117 Werdau, Pleissental
  • Lager 121 Krimmitschau
  • Lager 152g Weißigstrand bei Rathen
  • Lager „Freier Blick“, Planitz, Zwickau
  • Lager Christau, Zittau
  • Lager 156 Leipzig, Park Meusdorf
  • Lager Leipzig C 1, Seeburgstr. 100
  • Hubertusburg bei Wermsdorf
  • Lager Hoeckerschule, Langenfeld, Plauen
  • Lager Katharinenhof, Großhennersdorf
  • Lager Bad Schandau
  • Lager Ostrau
  • Lager Postelwitz
  • Lager Rosenthal-Schweizermühle,
  • Lager Liebstadt
  • Lager Bad Gottleuba-Hartmannsbach
  • Lager Stolpen
  • Lager Sonnenstein, Pirna

Da die Behörden aus der Umsiedlung der Wolhynier und Galizier gelernt hatten, standen die Lager für die Bessarabier vor Abtransport bereits fest. So verschickte man den Ortsbezirk Mannsburg (Mannsburg, Sofiental, Basyrjamka, Maraslienfeld, Plotzk, Gnadental, Sarata, Friedenstal, Lichtental, Eigenfeld, Annowka und Seimeni) ins Sudetenland, den überwiegenden Teil des Bezirks  Beresina (Beresina, Borodino, Hoffnungsthal, Neu Klöstiz, Paris, Arzis, Teplitz, Katzbach, Krasna) nach West- und Ostsachsen, die Klöstitzer ins Eichsfeld/Thüringen. Albota, Eichendorf und Wischniowka kamen nach Niederbayern und Franken, Kulm, Leipzig, Tarutino, Alt Posttal, Neu Elft und Alexanderfeld hatten das Ziel Franken, Mainfranken und München/Oberbayern. Die Lager der Gaue Unter- und Oberdonau waren für Kischinew, Jekaterinowka, Neu Sarata, Fürstenfeld, Alt Oneshti, Neu Strymba, Mariewka, Mathildendorf und Kurudschika vorgesehen. 12

Bevor jedoch die Umsiedler in diese Lager aufgenommen werden konnten, wurden diese oftmals „beräumt“ von jenen, die man schlicht als „unwert“ betrachtete. Wie das vor sich ging, lesen Sie bitte in den Artikeln zu den Lagern.


1) Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. München 2008, S. 238.
2) Helmut Krausnick, Harold Deutsch (Hrsg.): Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940. Stuttgart 1970, S. 576
3) San Jose – Eigenes Werk basierend auf: Karten der Univerity of Texas Libraries
4) „Die Neuordnung Osteuropas“ in: ZAOERV 9 (1939/40) Vollständiger Text des Vertrages und der Zusatzprotokolle
5) Anordnung des RFSS über den Aufbau der Volkstumsarbeit der NSDAP und eine Abgrenzung der Zuständigkeit der Hauptämter der SS
6) Bericht über den Stand der Um- und Ansiedlung am 1.7.1942, Bundesarchiv Bestand NS 19 (Persönlicher Stab des Reichsführers SS) Akte 2743
Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung des deutschen Volkstums, 7. Oktober 1939, BArch R 43 II/604, Bl. 27-28
Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin [(„Potsdamer Abkommen“) vom 2. August 1945]
7) Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert: Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse. Vorträge der Bad Wiessener Tagung des Collegium Carolinum 21.-23.11.2003 und vom 12. -14.11.2004 , Herausgeber Collegium Carolinum Forschungsstelle für böhmische Länder, Band 28, Oldenbourg Wissenschaftsverlag (11. Oktober 2006), S. 191
8) Jahrbuch 1956 der Dobrudscha-Deutschen
9) Martin Grasmannsdorf: Die Umsiedlungslager der Volksdeutschen Mittelstelle im Gau Württemberg-Hohenzollern 1940–1945, dazu: Homepage des Autors mit Lagern der Slowenen
10) DAI Microfilm T-81; Roll #599; Serial 816; Group 1035
11) Geschichte Pirna
12) Ute Schmidt; Die Deutschen aus Bessarabien, Eine Minderheit aus Osteuropa, Bölau 2006, S. 181f
13) Zahlen der Vertriebenen nach Berichten der Sudetendeutschen Landsmannschaft vom 5.11.1955
14) Tagesbote Nr. 290 vom 6.12.1940, Mährischer Zeitungsverlag Brünn, S.3 „Heimkehr der 320.000 Volksdeutschen“

Dobrudschadeutsche

Literatur

Ein Überblick verwendeter Literatur, online verfügbare Bücher sind verlinkt und weitere Empfehlungen, die durch Neuerscheinungen nicht vollständig sein können.

Das Copyright am Buchcover liegt beim Verlag, Verfasser oder ist bereits public domain, ich stelle hier nach und nach meinen vorhandenen Bestand auch als Abbildung vor.


 Bilder aus der Dobrudscha 1916-1918, Deutsche Etappenverwaltung in der Dobrudscha, Constanza 1918
  Die Deutschen in der Dobrudscha – Traeger, Paul Stuttgart (1922) ebenfalls in der Bayrischen Staatsbibliothek und zu Recherchezwecken von Herrn Heinz-Jürgen Oertel freundlicher Weise zur Verfügung gestellt als Abschrift des Originals für all jene, denen das Lesen der alten Schrifttypen schwer fällt. In gebundener Form ist seine Neuauflage unter ISBN-13: 978-3735791559 im Buchhandel erhältlich.
   Theophil Hopp; Fachria. Die Geschichte meines Heimatdorfes. Landsmannschaft der Dobrudschadeutschen, Heilbronn 1995.162 Seiten. Ein Auszug aus dem Buch erschien im Sonderheft des „Dobrudschaboten“ 1995
   Otto Leyer; Albrecht Keller: Geschichte des deutschen Dorfes Kobadin in der Dobrudscha, 1932
  Hans Petri: Geschichte der Deutschen Siedlungen in der Dobrudscha, Hundert Jahre deutschen Lebens am Schwarzen Meer. Verlag des Südostdeutschen Kulturwerks, Band 4, Reihe B, München 1956 Abschrift
 Geschichte der evangelischen Gemeinden in Rumänien mit besonderer Berücksichtigung des Deutschtums – Teutschlaender, Wilibald Stefan Bukarest (1891)
 Heimatbuch der Dobrudscha-Deutschen, 1840-1940
Otto Rösner; Albert Stiller; Landsmannschaft der Dobrudscha- und Bulgariendeutschen. Die Landsmannschaft, Heilbronn, 1986
  Lebensweg der Dobrudschadeutschen in Bildern. 1840 – 1940 – 1990
Albert Stiller; Gerlinde Steller-Leyer; Dobrudschadeutsche Landsmannschaft e. V. 1992
 Ostdeutsches Schicksal am Schwarzen Meer; Dr. Johannes Florian Müller, Donzdorf, Eigenverlag (1981)
   
   
Dobrudscha-Bote erschienen 1916-1918 in Konstanza
 
19171918 

Jahrbuch der Dobrudschadeutschen [1956-1977] Otto Klett, Heilbronn

 
19591977 

Deportation – Verbannung – Ansiedlung

eine subjektive Betrachtung ausgewählter Bevölkerungsgruppen unter Beachtung historischer Fakten und der Einbindung von Geschehnissen, wie sie mir Zeitzeugen schilderten


Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons leben“

Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion. Um eine Begründung für die Misserfolge der Roten Armee bei dem Zurückschlagen der deutschen Truppen zu haben, wurde für die Öffentlichkeit ein Feindbild aufgebaut, dass Maßnahmen ermöglichte, um eine vermeintliche Kollaboration der unterdrückten ethnischen Minderheiten, die tatsächlich eine Zeit lang mit den Deutschen sympathisierten, aber vor allem der Russlanddeutschen mit Nazi-Deutschland zu verhindern.

Aufgrund des Befehls des Kriegsrates der Südfront und der Anweisung des Rates für Evakuierungsangelegenheiten Nr. 75s begann schon ab dem 15. August 1941, die als Evakuierungsmaßnahme getarnte Aussiedlung der etwa 53.000 Krimdeutschen, vorerst in den nordkaukasischen Raum. Der unmittelbaren Anstoß zur Auflösung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen und zur Einleitung der totalen Deportation der deutschen Minderheit war vermutlich ein Schreiben der Politbüromitglieder Shdanow, Molotow und Malenkow an Stalin vom 24. August 1941, in dem sie ihn über den vereinbarten Beschluss informierten, die Aussiedlung von 88.700 Finnen und 6.700 Deutschen aus dem Gebiet Leningrad unverzüglich einzuleiten. Zugleich wurde eine „Instruktion zur Durchführung der Umsiedlung der Deutschen, die in der ASSR der Wolgadeutschen, in den Gebieten Saratow und Stalingrad ansässig sind“ herausgegeben. Der Durchführungszeitraum wurde auf den 2. September bis 20. September 1941 festgelegt. Mit der Angelegenheit betraut wurde der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Lawrentij Berija.1

Die Klarheit des Beschlusses zeigt sich in der Wortwahl: „Überzusiedeln sind alle Einwohner deutscher Nationalität, die in den Städten und ländlichen Siedlungen der ASSR der Wolgadeutschen, der Gebiete Saratow und Stalingrad leben. Mitglieder der WKP(b) und des kommunistischen Jugendverbands Komsomol sind gleichzeitig mit den anderen umzusiedeln.“ 1

Den Familienmitgliedern von Militärangehörigen der Roten Armee versprach man „in den Ansiedlungsorten eine Vorzugsbehandlung, vor allem bei der wirtschaftlichen Einrichtung und der Unterbringung“. Einzig Frauen, deren Ehemänner nicht Deutsche waren, blieben von der Verbannung – vorwiegend nach Sibirien, Kasachstan und an den Ural – verschont.

Mit dem Beschluss des ZK der WKP(b) vom 31. August 1941 „Über die Deutschen, die auf dem Territorium der Ukrainischen SSR leben“ wurde die Mobilisierung der Männer im Einberufungsalter befohlen. Sie wurden 13 Bautrupps zugeteilt mit insgesamt 18.600 Männern und in vier GULAG-Objekte der NKVD verschickt: Iwdel’lag, Solikambumstroj, Kimpersajlag und Bogoslowstroj.

„Ich kam in das Lager Iwdel-Lag im Ural. Die letzten hundert Kilometer wurden wir mit Hunden zu Fuß durch den Wald getrieben. Dort war tiefer, tiefer Schnee und sonst nichts. Das Lager war leer, als wir ankamen. Außerdem waren dort Zäune und Wach türme. Die Baracken waren alt. Zum Teil fehlten die Fenster, wir waren 40-50 Mann in einer Baracke. Wir haben im Wald Bäume gefällt. Wenn wir von der Arbeit gekommen sind, war die ganze Kleidung nass und gefroren. Es gab eine Kammer, in der die Sachen trocknen sollten. Aber manches Mal hat das nicht geklappt. Und man hat es nass wieder angezogen und raus in die Kälte. Anfangs hatte man noch ein bisschen Kraft von zu Hause. Dann sind die Leute immer schwächer und schwäch er geworden, bis sie kaum noch laufen konnten“.2

Der Bau der Eisenbahn nach Solikamsk durch Häftlinge des Gulag 3)

Gemäß der Direktive vom 8. September 1941 wurden die etwa 100.000 russlanddeutschen Angehörigen der Roten Armee aus den regulären Einheiten zunächst in Bautrupps versetzt, vielfach jedoch erschossen. Für die Deutschen im Gulag wurde auf Anraten des NKWD Anfang des Jahres 1942 eine eigene Kategorie gefunden: trudmobilisowanny nemez, dies wurde zur offiziellen Bezeichnung für die Deutschen in der Arbeitsarmee. Zum 1. Januar 1942 befanden sich insgesamt 20.800 Deutsche in der Trudarmee. Im Oktober 1942 übertrug man die für die Deutschen geltenden Bestimmungen auf andere Minderheiten: wehrpflichtige Männer aus den Ethnien der in Russland ansässigen Finno-Ugrier, Ungarn, Rumänen und Italiener wurden ebenfalls bis zur ihrer Auflösung 1946 zur Arbeitsarmee eingezogen.

Auf Grundlage einer Verordnung des Staatliche Verteidigungskomitees vom 8. Oktober 1941 „Über die Aussiedlung der Deutschen, die das Gebiet der Georgischen, Armenischen und Aserbaidschanischen Sowjetrepubliken bewohnen“ wurden mehr als 45.000 Kaukasiendeutsche zwischen dem 15. Oktober und 12. November 1941 deportiert.

Unter ihnen 4193 namentlich bekannte Katharinenfelder.4 , deren Wagons an der Verladestation Sandar standen, um sie nach Sibirien zu schaffen.

Zahlenmaterial zu den deportierten Menschen aus Courtois, Stéphane; Werth, Nicolas; Panné, Jean L.; Paczkowski, Andrzej; Bartosek, Karel; Margolin, Jean L.: Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror [С., Верт Н. Черная книга коммунизма, М.: Три века истории, 2001 г., с.216 -217.]a

 Die Verbannung der anderen Gruppen der deutschen Bevölkerung, die keinen Autonomiestatus besaßen, so u. a. aus der Ukraine, dem Trans- bzw. Nordkaukasus, sowie aus Großstädten, erfolgte in den darauf folgenden Wochen und Monaten mittels geheimer Beschlüsse des Politbüros der WKP(b), des Staatlichen Verteidigungskomitees GKO, des NKWD und der Kriegsräte einzelner Armeefronten. Gleichzeitig wurden ihnen ihre staatsbürgerlichen Rechte aberkannt und ihr Eigentum bis auf ein geringes Handgepäck eingezogen.

Betroffen waren auch Deutschen aus den Gebietszentren und Industriezonen Kasachstans. So beschloss das ZK der Kommunistischen Partei Kasachstans am 16. Oktober 1941 die Aussiedlung, bereits Ende des Monats begannen die Erfassung, das Zusammentreiben und schließlich die Verbannung in die ländlichen Siedlungen der Gebiete Molotow/Perm, Tscheljabinsk, Swerdlowsk und Tschkalow/Orenburg im Ural.1

Kasachstan hatte bereits zwischen 1929 und 1933 erhebliche Bevölkerungsverluste hingenommen. Die Zwangskollektivierungsmaßnahmen nahmen den nomadisch lebenden Hirten ihre bisherige Lebensweise, die Herden starben mangels Nahrung in der Steppe und entzogen so der Bevölkerung die Lebensgrundlage. Rund 2 Millionen Menschen verhungerten und etwa 1 Million Menschen verließen das Land. Sibirien sollte daher für viele Deutsche nicht die Endstation sein, die Menschen wurden mit Viehwaggons weiter transportiert und irgendwo in den leeren Steppen Kasachstans zur „Ansiedlung“ abgesetzt. 5

Hier mussten die Ankömmlinge nicht nur für sich selbst sorgen, sondern wurden für schwerste und unqualifizierte Arbeiten beim Bau von Eisenbahnlinien, Industriebetrieben, in der Öl- oder Kohleförderung oder beim Holzfällen eingesetzt.

Da die Versorgung mit Lebensmittelmarken nur für die arbeitende Stadtbevölkerung galt, die Landbevölkerung überwiegend von eigenen Nutzgärten und vom privat gehaltenen Vieh lebte, waren vor allem Hunger und Krankheiten Ursache für ein massenhaftes Sterben der Deportierten. Die Propaganda gegen die Deutschen sorgte für weitere Repressalien und sie hörten nur zu oft: „Ernährt euch, wovon ihr könnt, ihr seid keine sowjetischen Menschen“, „Alle Deutschen mögen vor Hunger verrecken“

Nur die Hilfe der einheimischen kasachischen Bevölkerung, die zuvor unter der Zwangskollektivierung bereits gelitten hatte, rettete Zehntausenden das Leben.5

Mit dem Kriegsende 1945 wurden etwa 200.000 Russlanddeutsche aus dem Warthegau als so genannte Repatriierte nach Sibirien und Mittelasien deportiert.

Unter ihnen viele der etwa 340.000 Schwarzmeerdeutschen, die in den 1943/1944 beim Rückzug der Wehrmacht in den Warthegau umgesiedelt wurden und als Administrativumsiedler die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten.

Foto aus: А.А. Герман , А.Н. Курочкин: Немцы СССР в Трудовой армии (1941-1945) [Die Deutschen aus der UdSSR in der Trudarmee (1941-1945) Verlag Gotika Moskau 1998]

Bis 1946 kamen weitere rund 200.000 repatriierte Deutsche aus dem westlichen Teil der UdSSR und aus allen Besatzungszonen Deutschlands, fast die Hälfte waren Minderjährige.6

Grundlage für diese Zwangsrückführung war die am 11. Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta von den westlichen Regierungen mit der Sowjetunion unterzeichnete Vereinbarung, in der festgelegt wurde, welcher Personenkreis zwangsweise zu repatriieren war.

Ein Kriterium von fünf möglichen musste erfüllt sein:

  • Wohnsitz auf sowjetischem Territorium am 1. September 1939
  • nach der Konferenz von Jalta in westalliierte Hand geraten
  • am 22. Juni 1941 oder später dienstpflichtig in der Roten Armee
  • Gefangennahme in einer deutschen Uniform
  • Nachweis für Kollaboration

Die ersten beiden Kriterien sollten verhindern, dass Angehörige der nach 1917 emigrierten Sowjetbürger von der Zwangsrepatriierung bedroht waren. Auch polnische Ukrainer und Esten, Letten und Litauer, die aus Gebieten stammten, die erst im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs sowjetisch geworden waren, fielen nicht unter diesen Personenkreis.

Die Amerikaner und die Engländer vereinbarten, dass jede Besatzungsmacht „ihre“ Bürger ins eigene Land zurückbringen darf. Für jeden ehemaligen Sowjetbürger deutscher Nationalität, der aus Deutschland deportiert wurde, wurden 200 US-Dollar Kopfgeld als Kriegsschuld für Deutschland angerechnet.7

Auch in unserer Familie waren Angehörige, die von der Roten Armee 1945 auf der Flucht überrollt und deportiert worden. Sie teilten ihr Schicksal mit dem tausender anderer und starben fast alle an den unmenschlichen Bedingungen in der Trudarmee. Die Repatriierten wurden entsprechend der Direktive des NKVD Nr. 181 vom 11. Oktober 1945 allen anderen Sondersiedlern gleich gestellt.8

Gulags in der UdSSR

Die Verhältnisse, unter denen die Zwangsarbeiter arbeiten mussten, waren wie in einem Gefangenenlager. Sie lebten unter strenger Bewachung, mit Schwerstarbeit und psychischem Druck von Seiten der Vorgesetzten. Die Arbeitsnorm war unerträglich hoch und nicht alle konnten sie erfüllen. Wer die Norm schaffte, bekam 600-800 g Brot und die andere nur 300 g. An Unterernährung, Unterkühlung und Krankheit starben mehr als ein Drittel der mobilisierten Deutschen. 2.900 ihrer auf diese Weise verwaisten Kinder waren daher von der NKVD zwischen März 1944 und Oktober 1945 in Waisenhäuser einquartiert worden.6

Laut einer Regierungsverordnung vom 8. Januar 1945 wurden zur besseren Erfassung und Kontrolle der deportierten Völker in den Aussiedlungsgebieten Sonderkommandanturen geschaffen. Jeder Deutschen musste sich jetzt registrieren lassen und binnen drei Tagen alle Änderungen der Zahl seiner Familienangehörigen melden. Ohne Genehmigung des Kommandanten durften niemand seinen Wohnort verlassen.

Zudem wurden auch die bereits vor dem Krieg in Sibirien und Kasachstan ansässigen Deutschen der Aufsicht der Sonderkommandantur des NKVD unterstellt. Ab 1947 wurden die Strafen für kleinste Vergehen verschärft. Das unerlaubte Verlassen des Aufenthaltsortes wurde nun erst mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft, ab dem 21. Februar 1948 wurde das Strafmaß auf bis zu zehn Jahre Haft erhöht, und jedes Familienoberhaut musste monatlich persönlich zur Registrierung beim Kommandanten des NKVD erscheinen. Eine weitere Verschärfung der Bedingungen für Deutsche und andere Sondersiedler erfolgte am 26.11.1948 durch ein Dekret, das die Verbannung der Deutschen, aber auch der Tschetschenen, Kalmücken und Krimtataren “auf ewig” festschrieb und für das unerlaubtes Verlassen des Aufenthaltsortes 20 Jahre Zwangsarbeit vorsah, eine Strafe, die tatsächlich verhängt wurde.9

Ausschnitt aus Haack´s Schulatlas 1973 mit Wirtschaftsstandorten Sibiriens und Kasachstans, die vor allem im Umkreis der Standorte der ehemaligen Gulag entstanden und zeigen, wie wichtig die Deportierten für die Entwicklung dieser Standorte waren

Mit Stalins Tod am 5. März 1953 setzte eine vorsichtige Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft ein, beginnend mit der Rehabilitierung der Opfer politischer Justiz, und der schrittweisen Verbesserung der Lage der Deportierten. Der Regierungsbeschluss „Über die Aufhebung einiger Einschränkungen in der Rechtsstellung der Sondersiedler“ brachte jedoch nicht die Rechte eines normalen Sowjetbürgers, sondern den Status eines Sondersiedlers. Die deutschen Zwangsarbeiter wurden in die Stammbelegschaften von Betrieben und Bauorganisationen überführt. Nur mit Einverständnis der Betriebsleitung und des zuständigen Kommandanten konnten ehemalige Mobilisierte an den Ort ihrer Pflichtansiedlung zurückkehren oder ihre Familien zu sich holen. Die Zusammenführung der über das Land verstreuten Familien dauerte bis in die Mitte der fünfziger Jahre, in ihre vor 1941 bewohnten Heimatorte durfte niemand zurückkehren. Die Zusammenführung der über das Land verstreuten Familien dauerte bis in die Mitte der fünfziger Jahre, in ihre vor 1941 bewohnten Heimatorte durfte niemand.

Auf eine Anerkennung dieser Zwangsarbeit musste jedoch lange gewartet werden. Über sechzig Jahre nach der Aufhebung der Gesetze über die Sondersiedler hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die sogenannte Richtlinie über eine Anerkennungsleistung ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter („ADZ-Anerkennungsrichtlinie“)10 zur Zwangsarbeiterentschädigung gebilligt. Mit dem Inkrafttreten am 1. August 2016 kön­nen ehe­ma­li­ge deut­sche Zwangs­ar­beiter, die als Zi­vil­per­so­nen auf­grund ih­rer deut­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit oder Volks­zu­ge­hö­rig­keit kriegs- oder kriegs­fol­gen­be­dingt zur Zwangs­ar­beit her­an­ge­zo­gen wur­den und am 27. November 2015 noch lebten, ei­nen ein­ma­li­gen An­er­ken­nungs­be­trag in Hö­he von 2.500 Eu­ro er­hal­ten. Wer nach diesem Termin verstarb, gab diesen Anspruch an seine Erben weiter, jedoch war das Zeitfenster zur Antragstellung begrenzt, endete am 31. Dezember 2017.


1) Viktor Krieger: Deportationen der Russlanddeutschen 1941-1945 und die Folgen

2) Zeitzeuge Adam Rusch, Spätaussiedler aus Berlin in Andrea Gotzes „Das haben wir alles überlebt“ Russlanddeutsche Erinnerungen 1930-1990, Suttonverlag

3) Foto: northural.ru/image/1228344687 [Строительство железной дороги до Соликамска силами заключенных ГУЛАГа]

4) Emil Biedlingmeier: Das Ahnenbuch von Katharinenfeld in Georgien, Kaukasus: Chronik der Familien. Eigenverlag (2005), Daten zusammengestellt von Harry Hörz S. 865

5) Dagmar Schreiber: Kasachstan: Auf Nomadenwegen zwischen Kaspischen Meer und Altaj (Trescher Verlag 2008)

6) Nemcy SSSR v trudovoj armii (1941-1945) / A. A. German, A. N. Kuročkin – Moskva: Gotika, 1998

7) Freiheitsglocke Berlin, April 2013 63. Jahrgang, Nr. 726 VOS – Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. Gemeinschaft von Verfolgten und Gegnern des Kommunismus

8) Istorija stalinskogo GULAGa, S. 473

9) V. Herdt: Die Neuordnung des Sondersiedlungsregimes und das Dekret vom 26. November 1948. In: Von der Autonomiegründung zur Verbannung und Entrechtung. Die Jahre 1918 und 1941 bis 1948 in der Geschichte der Deutschen aus Russland. Hrsg.: Alfred Eisfeld. Stuttgart 2008, S. 204-211.

10) Bundesverwaltungsamt: An­er­ken­nungs­leis­tung an ehe­ma­li­ge deut­sche Zwangs­ar­bei­ter [Индивидуальные компенсационные выплаты бывшим немецким подневольным работникам]

a) © Nachbearbeitung der Karte mit Zahlenmaterial by „BorisClever“


Deutsche Kolonisten

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