(Gouvernement Taurien, Kreis Metropol)1

Wenn man auf der Kursk-Charkow-Sewastopoler Eisenbahn sich von Alexandrosk oder Melitopol aus der Station Prishib (früher Michailowka) nähert, so kann man auf eine lange Strecke nach Osten zu einen weißen Turm mit grünem Blechdache beobachten, der manchmal auf kurze Zeit verschwindet, aber immer wieder auftaucht. Es ist der Turm der Kirche zu Hochstädt; die Kirche selbst aber wird verdeckt von den sie umgebenden Bäumen. Auch von Hochstädt sieht man aus der Ferne weiter nichts als die über die niedrigen einstöckigen Häuser hinausgewachsenen Bäume.

Kirche Hochstädt, Hausfreund, Kalender 1901, p.106

Wer den Ort nicht kennt und den Namen Hochstädt hört, der mag sich wohl ein Städtchen, das auf einer Anhöhe liegt, vorstellen. Allein es ist weder eine Stadt, noch liegt es auf der Höhe. Es ist ein Dorf, eine Kolonie von nicht ganz 500 Einwohnern, die zu vier Fünftel lutherischen Bekenntnisses sind, also nicht einmal ein großes Dorf, das in der Nogaischen Steppe im Kreise Melitopol des Gouvernements Taurien gelegen ist. Von den ehemaligen Bewohnern der Steppe, den Nogaiern ist jetzt wenig mehr zu sehen. Nur dann und wann trifft man auf Ueberreste des alten Nomadenvolkes, die als Zigeuner die Gegend durchziehen.

Aber woher kommt der Name Hochstädt? Als im Jahre 1808 die Kolonie angesiedelt wurde, waren es größtenteils Leute aus dem heutigen Großherzogtum Baden, die sich hier niederließen, unter ihnen fünf Familien aus dem Pfarrdorfe Hochstätten, das etwa 2 Meilen von der badischen Hauptstadt Karlsruhe entfernt liegt. Von diesen hat die Kolonie Hochstädt ihren Namen erhalten. Der erste Schulz von Hochstädt stammte auch aus Hochstätten. Von jenen fünf Familien aus dem badenschen Dorfe ist eine ausgestorben, die Nachkommen von drei andern wohnen nicht mehr in Hochstädt, nur eine, die Familie Guggenheimer hat sich bis heute hier erhalten und ist noch so reich vertreten, daß von den lutherischen Bewohnern der Kolonie jede neunte Person diesen Familiennamen führt. Gegen fünfzig Glieder dieser Familie zählt man in Hochstädt allein. Außer den Badensern sind auch andere Völkerstämme Deutschlands, namentlich des südwestlichen vertreten. Gegenwärtig sind es folgende:

  • Badenser, vertreten durch die Familien Diller, Dunder, Eva, Freiberger, Görich, Guggenheimer, Häring, Hoffmann, Köhler, Schill, Ullrich;
  • Würtemberger: die Familien Gruß, Lutscher, Wiedmann;
  • Pfälzer: die Familien Morrell, Preis, Schroth, Spangenberger:
  • Elsässer: die Familien Rapp und Tribus:
  • Hessen: die Familien Dercho, Schnell, Stolz;
  • Nassauer: die Familie Seel;
  • Preußen: Hartstein (Provinz Pommern), Linke (Prov. Sachsen), Teske (Prov. Posen).

Nach dieser Zusammensetzung könnte man meinen, daß in Hochstädt die verschiedensten Mundarten gesprochen werden, und in der ersten Zeit nach der Ansiedlung mag man wohl den schwäbischen, pfälzer, elsässer Dialekt genau haben unterscheiden können; aber jetzt wird weder pfälzisch noch schwäbisch, noch sonst ein Dialekt rein gesprochen, es ist ein Mischdialekt, der von jedem etwas hat.

Hochstädt gehört zu den sogenannten Molotschnaer Kolonien, die auf dem rechten Flüßchen Molotschna angesiedelt sind. Die Molotschnaer Mennonitenkolonien liegen auf dem linken Ufer des genannten Flüßchens im Berdjanischen Kreise. Die Kolonien, zu denen Hochstädt gehört, bilden einen Komplex von 27 Dörfern, die unter der Prischiber Wolost vereinigt sind und jetzt aus vier Kirchspielen, zwei lutherischen und zwei römisch-katholischen bestehen. Von diesen gehören zum Hochstädter Kirchspiele neun im Molotschnaer Bezirke gelegene Kolonien. Mit dem Jahre 1831 ist es als solches bestätigt. Bis dahin haben diese Kolonien zum Kirchspiele Molotschna (Prischib) gehört. Im Mittelpunkte des Kirchspiels steht die von jenen neun Kolonien vor dreißig Jahren erbaute und am Trinitatisfeste 1871 eingeweihte Kirche. Was Geräumigkeit anlangt, nimmt sie wohl die erste Stelle unter den Kirchen des zweiten Propstbezirks der lutherischen Kirche in Südrußland ein. Man sagt, sie sei nur einmal, am Tage ihrer Einweihung selbst, bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Kirchlichen Stil freilich läßt sie vermissen. In dieser Beziehung wird sie von der neuerdings in Eugenfeld erbauten Kirche weit übertroffen. Ein Kleinod besitzt die Hochstädter Kirche in ihrer Orgel, eine aus der berühmten Firma Walker in Ludwigslust hervorgegangenen Werke. Sie galt bisher als die schönste Orgel im ganzen Süden bis Moskau hinauf. Möglich, daß ihr dieser Ruhm durch die Orgel der neuerbauten lutherischen Kirche in Odessa streitig gemacht wird.

Man kann fragen, woher es komme, daß Hochstädt, das in wenigen Jahren das hundertjährige Jubiläum seines Bestehens feiern kann, keine größere Einwohnerschaft hat, zumal da sich, wie überall in den Ansiedlungen, auch hier die Familien eines reichen Kindersegens zu erfreuen gehabt haben. Wären alle Hochstädter Ansiedler in der Kolonie geblieben, so würde sie wohl zwei bis dreimal größer sein. Jetzt findet man Hochstädter außer in Taurien mit der Krim auch in den Gouvernements Jekaterinoslaw, Cherson, Charkow, Poltawa, im donischen Gebiete, im Kaukasus entweder auf eigenem oder auf Pachtlande, sowie in den Kolonien, die auf den von der Wolost gekauften Lande angesiedelt sind.

Die Kolonie selbst macht einen recht freundlichen Eindruck. In Anlage und Bauart gleicht sie allen deutschen Kolonien in Südrußland. Es ist eine einzige gerade, breite Straße, an der zu beiden Seiten die Häuser liegen, die meistens mit dem Giebel nach der Straße sehen, mit Ausnahme von einigen wenigen, darunter das Schulgebäude in der Mitte des Dorfes. Nach Westen, etwas von den Häusern entfernt, steht die Kirche, gewissermaßen das ganze Dorf beherrschend. das östliche Ende schließt mit einem kleinen, etwa zwanzig Dessjatinen haltenden Wald ab. Aber auch sonst fehlt es an Bäumen nicht, so daß eigentlich die ganze Kolonie in und unter Bäumen versteckt ist. Wenn man im Sommer entweder von der Kirche oder vom Walde aus der Dorfstraße entlang sieht, so erblickt man fast weiter nichts als die grünen, dichtbelaubten Bäume und die aus Ziegelsteinen erbauten weißgetünchten Zäune und Thoreinfahrten zu beiden Seiten der Straße. Die etwas von den Zäunen zurückstehenden Häuser werden, aus der Ferne gesehen, von den Bäumen verdeckt.

Die Bewohner von Hochstädt sind zum größten Theile, einige Handwerker abgerechnet, Landwirthe. Die Gegend an der Molotschna ist von je als ein fruchtbarer Landstrich bekannt. Noch erzählen sich die Söhne und Enkel der alten Ansiedler von den reichen Ernten, die auf dem jungfräulichen Boden in den ersten Jahrzehnten nach der Ansiedlung gemacht worden sind. Und noch heute trägt der Boden bei rationeller Bewirthschaftung und günstiger Witterung reichliche Frucht. Neben dem Landbau wird aber auch der Obstbau nicht vernachlässigt. Gerade in den letzten Jahren sind neue Obstanpflanzungen gemacht worden, und man hat es nicht zu bereuen gehabt. Auch Weingärten sind angelegt, und wer billigen Tabak rauchen will, baut das edle Kraut, um es hernach aus seiner Pfeife in Rauch und Asche aufgehen zu lassen. Einige Wenige beschäftigen sich auch mit Bienenzucht, die freilich in dürren Jahren, wo es an honigreichen Blüten fehlt, nicht immer lohnend ist. Für die häuslichen Bedürfnisse sorgt eine größere Kolonial- und Schnittwaarenhandlung neben einigen kleineren, von Juden gehaltenen Buden. Auch für die gesundheitlichen Bedürfnisse ist gesorgt; Hochstädt ist der Sitz eines Kolonialarztes, der einen fünf Kolonien umfassenden Bezirk versorgt. Auch eine Apotheke fehlt nicht.

In letzier Zeit ist Hochstädt auch mit einer Kronsbranntweinhandlung bedacht worden, nicht gerade zum Vorteile für die Kolonie. Wenn an Sonn- und Feiertagen die Arbeiter in der Kolonie, die Ziegelbrenner von dem einen Ende und von der andern Seite die Fabrikarbeiter aus dem nahegelegenen Neunassau sich reichlich mit Brantwein versehen haben, da gibts viel wüstes Geschrei, auch manchmal blutige Köpfe, so daß die Polizei Mühe genug hat, um die Ordnung nur einigermaßen aufrecht zu erhalten. Auch wird durch den Branntweinhandel eine Menge Bettler und Vagabunden herbeigelockt, deren erster Gang gewöhnlich in die Schnapshandlung ist, und die, nachdem sie sich im nahen Walde angetrunken haben, im Dorfe von Haus zu Haus gehen und oft in recht unverschämter Weise brachern. Hochstädt liegt an der großen Straße, die vom Bahnhofe Prischib nach Halbstadt und Groß-Tokmak führt. Alle Passagiere, die aus jenen Orten zu den Eisenbahnzügen fahren oder von den Zügen kommen, müssen durch Hochstädt fahren; dazu kommen die Lastfuhren, die mit Waaren aller Art, mit Kohlen und Bauholz beladen, Tag und Nacht das Dorf passiren, so daß die sonst ruhige und stille Kolonie einen recht belebten Eindruck macht. Freilich wenn im Spätjahre Regenwetter oder im Frühjahre Tauwetter eintritt, dann wird die Straße durch das viele und schwere Fuhrwerk oft bodenlos, und mancher Fuhrmann, der matte und altersschwache Gäule vor seinem Wagen hat, bleibt stecken. Wenn die Bemühungen der Halbstädter und Tokmaker Industriellen, eine Eisenbahn von der Station Prischib über Halbstadt und Tokmak nach Berdjansk zu bekommen, von Erfolg gekrönt sein werden, dann wird die Eisenbahn für den Transport der Waaren und Passagiere sorgen, und die Hochstädter werden den Vortheil haben, daß ihre Straße auch bei schmutzigem Wetter in fahrbarem Zustande bleibt.

  1. Artikel im Original entnommen dem: Hausfreund, Kalender für Neu-Rußland. Begründet 1892 von Kanonikus Rudolf Reichert. Herausgeber und Verleger: Edmund Schmidt; Druck von A. Schultze, Odessa. 1901 p. 106–109, ↩︎