Märchen von Alexander Weiz

Es war in uralten Zeiten, in einem Zarenreich hinter neun mal dreißig Bergen und Wälder. Seine Bewohner verehrten die Venus – die Göttin der Liebe. Der Herrscher des Landes war ein sehr weiser und gütiger Zar. Dort gab es auch noch Tiere und Vögel, die es nicht mehr auf unserer Erde gibt.  Sie verstanden die Menschensprache und lebten friedlich nebeneinander. Die Vögel brachten die Menschen auf ihren Flügeln in die entfernten Ecken des Zarenreichs oder zu Besuch in den Nachbarort. Die Tiere halfen den Menschen bei der Hausarbeit. Die Fische versorgten sie mit Meeresfrüchten, Korallen und Perlen. Die Insekten bestäubten die Blüten von Korngräsern, Obstbäumen und Gemüsepflanzen.  Sie lieferten auch Honig und Wachs für Kerzen und Aromen für Parfüm und Öle. Die Menschen versuchten auch alles zu tun, damit die Tiere im Einklang mit der Natur und friedlich miteinander in diesem Zarenreich leben konnten.

Deshalb halfen der Zar und seine Untertanen, die als stärkste und klügste in diesem alten Reich galten, den anderen schöne Behausungen zu bauen: Nester, Höhlen, Kanäle, Staudämme, Bienenhäuschen – und beschützten die Ameisenhaufen. Für sich bauten die Menschen natürlich auch schöne große Holzhäuser. Für das sehr beliebte Königsehepaar bauten sie ein besonders schönes Schloss aus Sandstein.

Eines Tages kam ihre Tochter, ein sehr schönes Mädchen, zur Welt. Sie nannten sie Magdalena. Nach ihrer Geburt hatte der Hohe Weisenrat des Zarenreichs beschlossen, zu ihrer Volljährigkeit ein Schloss aus weißem Marmor von einer noch nie gesehenen Schönheit zu bauen.

Die Außenwände sollten mit Fresken und verschiedenen Figuren verziert werden. Und von innen sollten alle Zimmer mit schönen Motiven bemalt und das Fensterglas aus bunten Mosaikteilen zusammengestellt werden. 

Es sollte ein Zeichen dafür sein, wie schön die Menschen damals lebten. Das Wichtigste war aber eine goldene Skulptur der Venus, die hergestellt und vor dem Eingang des Schlosses aufgestellt werden sollte.

Sechzehn Jahre lang waren Architekten, Steinmetze, Maler und Bildhauer mit vielen anderen Bauhelfern dieses Reiches mit dem Bau des Schlosses beschäftigt. Für sie alle waren es Jahre, voller Sorgen und Suchen nach den besten künstlerischen Lösungen. Es gab dabei tolle Entdeckungen und es entstanden einmalig schöne Erzeugnisse. Eines Tages bekamen auch die nicht am Bau Beteiligten das fertige Wunder des menschlichen Genies zu sehen.

Unvergleichlich schön wirkte das weiße Schloss mit in der Sonne glitzernden Kuppeln: Es sah so aus, als ob es in der Luft schwebte. Die Prinzessin war aus einer kleinen puppenhaften Gestalt eine unwahrscheinlich schöne junge Frau geworden. Sie wurde Magdalena, die Schöne genannt. Deshalb wurde sie mit vierzehn Jahren einstimmig als Modell für die Skulptur der Göttin Venus bestimmt. Man verehrte sie, sie wurde in Gedichten und in Liedern besungen. Ihr wurde jeder Wunsch von den Lippen abgelesen.

Wahrscheinlich war Magdalena, die Schöne deshalb zu ihrer Volljährigkeit nicht nur noch schöner, sondern auch eine sehr stolze und überhebliche Prinzessin geworden. Weder der Zar und seine Frau noch die anderen Bewohner des Reiches merkten es aus großer Liebe zu ihr.

Um ihren achtzehnten Geburtstag zu feiern, wollte der Zar ein großes Fest für sein Volk und auch für ausländische Gäste ausrichten und das neue Schloss einweihen.

Er bestellte seine Tochter zu sich, um die Gästeliste zusammen zu erstellen.  Er wollte der ganzen Welt und den jungen Thronfolgern aus anderen Königsreichen nicht nur das schöne Schloss zeigen, sondern auch seine wunderschöne Tochter. Natürlich hatten die Hofschreiber und Weisen die Gästeliste schon längst geschrieben, aber der Zar wollte seine Tochter auf einige interessante und wichtige Heiratskandidaten aufmerksam machen. Doch die Prinzessin interessierte sich für keinen, außer sich selbst. Sie hörte ihrem Vater zerstreut zu und bewunderte dabei im Spiegel ihren zahlreichen Schmuck, puderte sich das Näschen und zupfte an ihrem Kleid herum. Der Zar redete auf sie erfolglos ein. Weder die Verdienste der Prinzen, noch der Beistand der Götter interessierten die Prinzessin. Sie war müde von seinem Gerede und flüsterte unzufrieden: „Ach, Vater, wozu brauche ich sie. Ich bin selbst die Schönste auf der Welt, nicht mal die Venus kann mir das Wasser reichen.“

Der Zar wurde wütend auf seine Tochter, schickte sie fort und blieb traurig allein zurück. Der Festtag war schon angekündigt und die Gäste versammelten sich pünktlich. Alle waren begeistert von der Schönheit der Prinzessin und dem wunderbaren neuen Schloss, das vom besonderen Können der Baumeister des Reiches zeugte. Nur der Zar saß auf seinem Thron, in seine trüben Gedanken versunken. Plötzlich wechselte auch das Wetter und wurde trüber, obwohl es vorher ein klarer windloser Morgen war.

Ein starker Wind brachte viele Wolken mit sich, in der Ferne und dann näher funkelten Blitze und krachten Donnerschläge. Doch kein Tropfen Regen viel zum Boden. Die Sonnenstrahlen stachen heiß durch die Wolken.

Dann kam die Zeit für die Enthüllung der Venus-Statue.

Ein junger starker Krieger kam auf die Prinzessin zu, nahm sie an der Hand und führte sie zum Sockel des Denkmals. Sie sollte die Verhüllung lösen, damit alle anwesenden Gäste die schöne Göttin sehen könnten, für welche die Prinzessin als Modell gestanden hatte. Sie zog hochmütig den Stoff herunter, überzeugt, dass sie trotzdem schöner als die kalte Statue sei.

Das Volk sah auf dem Sockel eine wunderschöne Mädchenfigur in einem leichten Überwurf, der bereit war wegzufliegen. Sie war der Prinzessin sehr ähnlich, aber ihre Lippen waren zusammengekniffen, der Blick streifte die Menge und schweifte hochmütig über die Köpfe dieser armseligen Geschöpfe.

Der Wind hatte sich mittlerweile wieder gelegt, die Wolken verzogen sich und die Sonne ließ die goldene Statue aufs Neue erstrahlen. Es sah so aus, als ob sie von innen leuchtete. Die Göttin wurde lebendig. Der überhebliche Blick wurde weicher, auf den Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Sie sah zärtlich auf ihre Untertanen und hielt ihnen eine leuchtende Scheibe entgegen, die das Weltall darstellte und mit Diamanten bestückt war. Es war kaum zu glauben, aber sie passte merkwürdigerweise in ihre Handfläche.

Das Volk war begeistert. Keiner schaute mehr auf die schöne, aber kalte und seelenlose Prinzessin.

Alle Blicke waren auf die Venus gerichtet. Nur die Prinzessin merkte es nicht, stellte sich lächelnd zur Schau und zupfte an den Spitzen ihres Kleides. Plötzlich hörten alle in dieser Stille die Stimme des Zaren, der ohne Krone auf einem Knie vor der Venus stand und flüsterte: „Vergib uns, Göttin. Vergib mir und meinem Volk, dass wir dir untreu wurden und wagten dich mit einer einfachen Sterblichen zu vergleichen, für die ich diesen Palast bauen ließ. Ich war kein weiser Zar und trete zurück.“ Mit diesen Worten legte er das Zepter und die Krone zu den Füßen der Venus und ging fort.

Die Bewohner des Zarenreichs hörten bald aufeinander zu verstehen, begannen sich zu zanken, zu streiten. Es gab viele Missverständnisse und viele wanderten aus. Auch die Tiere wurden aggressiv, überfielen einander und die Vögel verließen die Menschenhäuser. Das Land verwandelte sich in eine Wüste und nur das schöne Schloss und die umher irrende schöne junge Frau, die der Göttin ähnlich war, sahen manchmal die Reisende als Fata Morgana. Vom Zarenreich hinter neun mal dreißig Bergen und Wäldern, in dem es so viele Wunder gab, blieb nur dieses Märchen. Sonst hat es keiner mit eigenen Augen mehr gesehen.

Das Märchen ist zu Ende, aber der Leser und der Hörer können sich das alles noch einmal ruhig durch den Kopf gehen lassen.

Autor: Alexander Weiz

Titelbild: Jutta Rzadkowski

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