Erzählungen der Maria Strehle, 1881 Sarata 18-19


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Was nun mein Schicksal anbetrifft, so war dasselbe sehr abwechselnd. Schnell wie ein Traum sind mir über 40 Jahre verflogen, kaum dass mir noch die Erinnerung an die schöne Jungendzeit, welche nie mehr wiederkehrt, bleibt und welcher der Mensch mit reumütigem Herzen nachsieht, gleich einem Schattenbild das vor seinen Augen verschwunden ist. Wenn man sich in das menschliche Leben recht hineindenkt, so ist es mit den vier Jahreszeiten zu vergleichen. Die Kindheit ist der Frühling, wo der Mensch als Kind hoffnungsvoll mit lauter Luftschlössern umgeben in die Zukunft blickt.

Die schöne Jugend ist der herrliche Mai, wo man vom Glücke berauscht, eine ganze Strasse von Rosen vor sich sieht, welche sich aber später alle in Dornen verwandeln, und ohne zu bedenken, wie schnell diese Zeit entflieht, wird sie oft so leichtsinnig verschwendet, und die drückende Sommerhitze macht mit ihren Beschwerden heran, das ist das Mannesalter, wo Kummer und Sorgen die Spuren der Jungend verwischen; ebenso folgt der unfrendliche Herbst, wo die Kräfte schwinden und Gebrechen sich einstellen.

Endlich erscheint der harte Winter, wo die trüben Tage kommen, von denen es heisst, sie gefallen mir nicht und wo man seiner Umgebung übrig ist, so ist alles wie ein Traum.

Nachdem ich die Schuljahre bei Lehrer Naterer hinter mir hatte, kam ich in die Lehre nach Odessa zu Schlossermeister Rieb, anfangs September 1856. Meine Lehrzeit war 5 Jahre bis 12. November 1861. Nachdem arbeitete ich noch daselbst als Geselle bis 1. Mai 1862. Dann ging ich in die Fabrik Belliner Fendrich, wo ich bis zum 14. Oktober arbeitete. Elf Tage später, den 23. Oktober reiste ich zu Wasser nach Deutschland und kam den 26. November (nach deutschem Kalender) nach Wien. Nachdem ich mir daselbst verschiedene Sehenswürdigkeiten angesehen hatte, fuhr ich über Dresden nach Herzberg zu Onkel Josef Strehle wo ich mich zwei Wochen aufhielt. Von dort reiste ich nach Wittenberg, ein kleines Städtchen, aber berühmt als der Aufenthaltsort Luthers, dessen Wohnung ich besuchte, welche sich noch im selben Zustande befindet, wie er sie verlassen hatte. Dieselbe ist sehr einfach und klein und besteht bloss aus zwei nicht grossen Zimmern und einem Vorzimmer. Es ist kein Vergleich mit den Wohnungen unserer jetzigen Geistlichen. Am Fenster auf einer Stufe stehen zwei einfache Stühle von Fichtenholz, welche weder gepolstert noch gestrichen sind. Daselbst soll er gewöhnlich mit seiner Frau gesessen haben, wenn er von seiner Arbeit ausruht. An der Türe des Vorzimmers hatte einst Peter der Grosse bei seiner Durchreise, da er Luthers Wohnung besuchte, mit Kreide seinen Namen geschrieben, wo dann ein Glas darauf gemacht wurde, noch heute wie frisch geschrieben, der Name zu lesen ist. Nebenan befindet sich das Haus, wo einst Melanchton wohnte. Von dort liess ich mich in die Schlosskirche führen, wo Luther und Melanchton beerdigt liegen und wo Luther auch predigte. Sie liegen mitten in der Kirche, mit dem Fussboden zugleich, über jedem eine Türe, die zum aufmachen ist und unter denselben eine Marmortafel mit der Grabschrift. Zum Andenken kaufte ich mir die Photographie von der Kirche, sowie ein Siegel mit seinem eigenen Petschaft aufgedrückt.

Auch die 95 Sätze welche er gegen den Papst schrieb.

Vor der Stadt steht die sogenannte Luthereiche, welche zum 300 jährigen Jubileum auf derselben Stelle gepflanzt wurde, auf welcher Luther die päpstliche Bulle (Bälle) oder Gesetze verbrannte. Von dort fuhr ich über Göthen, Dessau, Magdeburg und Halberstadt nach Berlin. Dort angekommen den 7. Dezember 1863, arbeitete ich in der Maschinenfabrik Schwarzkopf vom 12. Dezember 1863 bis 25. Januar 1864. Vom 27. Januar

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bis zum 29. August arbeitete ich in der Fabrik Borsig, wo die Lokomotive für die Odessaer Bahn gebaut wurde. Von da aus besuchte ich die Verwandten in Breslau. Onkel Anton Strehle, dann seinen Sohn Ferdinand, Pastor in Lüben, sowie die Verwandten in München. Von dort reiste ich nach Wien und arbeitete in der Fabrik Cleyton und Schutlewort vom 26. September bis 16. Oktober 1864. Von dort fuhr ich mit der Bahn nach Pert (Pest) von wo aus ich mit dem Schiff nach Odessa fuhr, woselbst ich nach russischem Kalender den 16. Oktober 1664 ankam.

Denselben Monat trat ich bei der Odessaer Eisenbahn ein, welche damals gebaut wurde, und fuhr 11 Monate als Heizer bis den 28. September 1865. Dann wurde ich examiniert als Lokomotivführer und fuhr bis 1. Mai 1870. Von da wurde ich auf der Odessaer Station als Übermaschinist angestellt. Das nächste Jahr 1871 wurde ich nach Kischinef (im August) als die Strecke eröffnet wurde, versetzt, und den 16. Juni 1872 nahm ich meine Entlassung. Den 27. Dezember 1865 andren Tags nach meinem 25jährigen Geburtstag verheiratete ich mich mit Katharina Humel. Sie wurde geboren den 6. Mai 1843, getauft von Probst Fletnitzer, also war sie zwei Jahre und 4 ½ Monate jünger als ich. Gonfirmiert wurde sie in Odessa den 18. Mai 1858, ebenfalls von Fletnitzer. Sieben Monate nach unserer Verheiratung den 28. Juli 1866 starb sie an der Cholera. Das nächste Jahr, den 20. April 1867 verheiratete ich mich wieder mit Maria Kurzinger, getraut von Probst Fletnitzer. Geboren wurde sie den 16. Juli 1845 und confirmiert den 29. Mai 1861. Im Jahre 1867 hatte ich die Gelegenheit auf der Odessaer Eisenbahn den ersten Kaiserzug zu führen. Den 15. Febr. 1868 wurde mein erster Sohn geboren, getauft den 24. März von Probst Fletnitzer. Den 7. April 1870 wurde das zweite Kind Pauline geboren, getauft den 14. Juni von Pastor Kowalzig. Taufpathen waren zu beiden August Schulze und seine Frau Johannis Bossert und Sophie Richter, geb. Stein. Nachdem ich nun 1872 die Eisenbahn verliess, übernahm ich die Schlosserwerkstelle von meinem ehemaligen Lehrmeister Rüb, welche ich im Juli antrat.

Bis dahin wusste ich nicht was sorgen heisst, denn ich hatte mein reichliches Auskommen. Von da gab es nun eine Aenderung in meinem Leben, die schönen Zeiten waren vorüber. Da zu jener Zeit der Häuserschwindel anfing und infolge dessen einer nach dem anderen bankrott ging und auch ich, was ich ausstehen hatte, verlor, wodurch ich in Judenhände fiel, welche mich mit ihren Prozenten zu Grunde richteten. So hatte ich schwere Zeiten durchzumachen. Nach dem Tode meines Schwiegervaters Kurzinger am 1. August 1873 nahm ich die Schwiegermutter mit ihren beiden Töchtern, Luise 15 Jahre alt und Emma 8 Jahre alt, zu mir. Nachdem ich im früheren Hause Rüb 3 Jahre gewohnt hatte, zog ich in das Haus Sahl im Juni 1875 den 23. Oktober desselben Jahres 1875 starb meine zweite Frau Maria, geb. Kuringer an der Schwindsucht, wo dann die Schwiegermutter mir die Wirtschaft führte. Das nächste Jahr 1876 den 8. März starb mein Söhnchen Adolf an der Halbräune, sein Alter war 8 Jahre, 23 Tage, er war ein ausnahmsweise frommes, gehorsames und liebes Kind.

Die Verstorbenen aus der Familie Kuringer:

Johannes Kuringer wurde mit Sophie geb. Hagstolz den 23. Mai 1843 getraut. Das 1. Kind Marie, meine Frau, wurde den 16. Juli 18441 geboren und den 5. August getauft, den 29. Mai 1860 confirmiert und den 23. Oktober 1875 gestorben an der Schwindsucht.

 


Hier endet der Bericht, welcher während der amtlichen Wohnungsauflösung nach dem Tod eines Menschen ohne Angehörige gefunden wurde und mit seiner gesamten Habe in die öffentliche Versteigerung kam. Das Original wurde freundlicher Weise durch meine Vermittlung von S. Winkler aufgekauft und in ein familiengeschichtliches Archiv in den USA überführt, da der zuerst von mir angefragte Verein der Bessarabiendeutschen leider kein Interesse hatte.


 

1 KB Odessa 1845 Nr. 64 Geburt von Marie Sophie Kurringer am 16. Juli 1845!

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